Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Ferdinand Simon begleitete mich mit einem Stipendium der Schwestern nach Berlin. Unterwegs dorthin im Abteil dritter Klasse lernten wir einen originellen Reisenden kennen. Er war bedeutend älter als wir. Der große Zoologe Brehm war sein Freund. Er hatte an einigen von dessen Forschungsreisen teilgenommen, auch an jener, die Kronprinz Rudolf von Österreich mitmachte. Die Erzählungen des breiten, kerngesunden Forschers, Jägers und Gelehrten steigerten sich zu wirklicher Kunst. Als ich seine Gabe bewunderte, erklärte er, daß Brehm, der große Tierforscher, selbst sie in einem viel höheren Maße besessen habe. Sein »Tierleben« möge gut geschrieben sein, aber an seinen mündlichen Vortrag reiche es nicht heran.

Wir waren nach Berlin gekommen, wir wußten nicht wie, als wir in der Lehrter Bahnhofshalle ausstiegen. Eine doppelt so lange Reise würde uns ebenso schnell vergangen sein.

Wir kamen im Rosenthaler Viertel unter. Es ist eine Gegend, die man kennen muß, um zu wissen, daß sie mit dem Westen Berlins nicht in einem Atem zu nennen ist. Wir hatten Zimmer im ersten Stock und blickten auf einen Kirchhof hinaus.

Hugo Schmidt war ebenfalls in Berlin und besuchte die Königliche Kunstakademie. Ebenso Schidewitz, ein armer Pastorsohn und Mitschüler von der Breslauer Kunstschule. Wie er sich forthalf, weiß ich nicht. Vielleicht stand er bei einem Lithographen in der Lehre.

Simon und ich waren an der Universität immatrikuliert.

Simon schrieb an einer Arbeit über Mathematik, in der er viel Neues über ihr Wesen zu sagen glaubte. Ich begann eine Dichtung, die meine Pilgerreise nach Italien zum Gegenstand hatte und zum Muster »Child Harold's Pilgrimage«.

In einer Speisewirtschaft namens »Herkules«, unter einer Wölbung des Stadtbahnviadukts, nahmen Simon und ich unser Mittagessen ein, Suppe, Fisch und Fleisch, dazu ein kleines Glas Bier, für sechzig bis siebzig Pfennig. Es nährte jedenfalls seinen Mann, im übrigen war es, wie es war. Der kleine, runde Simon hörte nicht auf, über den »Herkules«, den »Herakles«, den »Augiasstall«, über den die Stadt- und Fernzüge donnerten, seine kaustischen Witze zu reißen.

Wenn wir Schidewitz dahin einluden, schwelgte der arme, immer hungrige Pastorsohn in Glückseligkeit. Er verfehlte nie, die Speisenfolge zweimal herunterzuessen. In diesem gesunden Jungen, der es wenn möglich höchstens bis zum Zeichenlehrer an einer Realschule bringen wollte, vereinigte sich naive Beschränktheit mit einer übermenschlichen Anspruchslosigkeit

Er war entschlossen, von nichts zu leben, wenn es Vater und Mutter so wollten, und fast schien es, sie wollten es so.

Fast alle Abende verbrachten Hugo Schmidt, Simon und ich zusammen. Manchmal erschien auch Schidewitz, aber nur, wenn wir ihn einluden.

Produktiv waren diese Abende nicht. Das Münchner Bier, das wir aus Maßkrügen tranken, unterstützte den Hang zu körperlicher und geistiger Schlafmützigkeit. Uns selbst überlassen und gleichsam in die Strömungen der Menge hineingezwungen, bewegten wir uns fast nur in den Bahnen der Banalität.

 

Wir besuchten die Bilse-Konzerte. Dort saßen die Männer hinter Bierseideln, die Frauen hinter Strickstrumpf und Kaffeetasse, Mütter brachten die Kinder mit. Aber Bilse, ehemals Militärkapellmeister, hatte ein von ihm gut geschultes Orchester in der Hand. Es hatte im Reich den besten Namen.

Die Banalität hörte auf, sobald der Meister den Taktstock erhob, um das Mittelstandspublikum des geräumigen Vergnügungsetablissements mit großer Musik zu speisen. Während die Klänge rauschten, wurde der Wirtschaftsbetrieb nicht abgestellt, nur daß die Kellner, wenn sie Bier oder Speisen brachten, auf leisen Sohlen einherschritten und sich mit den Gästen nur pantomimisch verständigten.

Es lagerte sich gleichsam eine zuckende Sinaiwolke über die Banalitätschicht des Mittelstands, und da wir die Konzerte nie versäumten, die in kurzen Abständen stattfanden, machten wir hier einen unvergeßlichen musikalischen Kursus durch, der einen großen Gewinn für uns alle brachte.

Durch den befrackten, ordenbesternten Militärkapellmeister, der sogar den Bogenstrich seiner Geiger exakt und einheitlich regelte, haben wir Haydn, Mozart, Gluck, Beethoven, Schubert, Weber, Wagner und Brahms kennengelernt. Und manche der Sinfonien, Ouvertüren und sonstigen Musikstücke konnten wir wieder und wieder genießen, bis sie uns vertraut waren.

Von allen Meistern war uns Beethoven am nächsten gegenwärtig. Wir sahen in ihm den erhaben ringenden Geist der Zeit. Er wurde uns damals mehr als ein Faust und überragte diesen an mythischer Kraft und kosmischer Dämonie. Er war uns der gigantische Rebell, der Blitze warf und Donner erregte gleich dem Wolkenversammler. Und zum viertenmal stieß ich wieder auf das Prometheische: den »Entfesselten Prometheus« von Lipiner hatte ich zuerst kennengelernt, den Goethischen etwa gleichzeitig, ihm folgte »Der gefesselte Prometheus« des Aischylos und diesem dann, in Menschennähe, Beethoven.

Und dieser Prometheus sang, obgleich gefesselt, doch frei in Not, Kampf, Sieg und Untergang das große Menschheitslied. Es klang in mir und weckte sein Echo ebenso in Ferdinand Simon und Hugo Schmidt.

Wo blieb da dein Atheismus, mein lieber Ferdinand? Antworte mir, wenn du kannst, aus dem Jenseits, in das du längst hinübergewechselt bist!

Eine größere Erschließung als diese gab es nicht. Und wie sie sich plötzlich auftat im Osten Berlins, glich einem Wunder.

Eines Tages krönte sich diese Erschließung dann im Erlebnis der Neunten Sinfonie. Es war uns geglückt, zu einem der großen Konzerte in der Königlichen Oper Galerieplätze zu erobern, Ferdinand Simon, Schmidt und mir. Wir haben uns die Hände gepreßt, und während unsere bis zum Springen erschütterten jungen Seelen uns mit einer himmlischen Offenbarung gleichsam töten wollten, rannen uns Feuertränen über die Wangen: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!«

Unaussprechlich, wie uns zumute war, als endlich Wort und Stimme, aus dem Chaos geboren, erklang und die Gottheit endlich mit der ersehnten Offenbarung ihr Schweigen brach: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen!« – Was fühltest du damals, mein lieber atheistischer Ferdinand, als du mir fast bewußtlos die Hand drücktest? Und nun, wie die Heere der Erlösten in einer Marcia trionfale daherziehen und das »Freude, schöner Götterfunken!« jauchzend aufjubelt! Und dann der Schrei! und wieder der abreißende Schrei: »Freude! Freude!«

Die göttlich tönende Kuppel über dem Tempel der Menschheit heißt Beethoven.

 

Simon, der Stubenmalersohn, hatte sich durch die Realschule sozusagen emporgehungert. Er hatte dabei die Klassenskala im schnellsten Tempo zurückgelegt. Aber wenn er von seinem Aufstieg sprach, war ihm Verbissenheit anzumerken. Dieser Ingrimm stellte ihn später in den Ideenkreis der Sozialdemokratie. Zur Partei gehörte er nie, aber er konnte nicht anders, als instinktiv immer für den Unterdrückten Partei nehmen. Vor allem galt sein innerer Eifer der Emanzipation der Frau.

Eines Tages brachte Simon ein kleines Heftchen der Reclambibliothek, »Nora« von Ibsen, mit. Er war vor Begeisterung außer sich. Das Drama wurde uns eine helle Fanfare.

Zugleich war es das erste Henrik-Ibsen-Wetterleuchten. Mit fruchtbarem Regen und Wachstum sollte sein Werk dann später als Frühlingsgewitter heraufsteigen.

Er, Ibsen, dem dies Naturereignis zu verdanken ist, das im besonderen Deutschland überkam, hatte, als es wirklich erschien, das sechzigste Jahr schon hinter sich. Was Wunder! Wahres menschliches Wachstum im Geist hat mit dem eines Baumes Ähnlichkeit. Und eine Linde von zwanzig Jahren kann schwerlich an Kraft, Größe und Schönheit an eine andere heranreichen, die ein halbes Jahrtausendalter hinter sich hat.

Damals war in Berlin das Deutsche Theater in der Schumannstraße gegründet worden, gedacht als eine Stätte klassischer deutscher Bühnenkunst und wirklich als solche lebendig gemacht. In seine Sphäre stiegen wir aus den Bierwinkeln banalen Stumpfsinns immer wieder auf und erfuhren ähnliche Läuterungen wie anderwärts im Gebiet der Musik.

Für mich besonders aber hat das Deutsche Theater noch eine ganz andere Bedeutung gehabt: nämlich die einer Hohen Schule. Eine Bildungsstätte eben jener Kunst, der ja meine Neigungen und Bemühungen seit langem zustrebten: die bis jetzt zurückgelegten Etappen hießen »Konradin«, »Germanen und Römer«, »Tiberius«.

Die Tradition des Meiningischen Theaters nahm das Deutsche gewissermaßen wieder auf, und mir ging es ebenso. Auf höherer Stufe durfte sich nun fortsetzen, was sich während einer Breslauer Knabenzeit so glorreich begonnen hatte. Förster, Friedmann, Kainz hießen die großen Darsteller, die ich sah, Agnes Sorma, die Jürgens und die Geßner standen in ihrer Blüte.

Hohe Feste waren es, die damals im Deutschen Theater gefeiert wurden.

»Romeo und Julia« war eines davon. Heute habe ich Kainz als Romeo in bester Erinnerung, damals hat er mir nicht gefallen. Der junge Mensch wollte immer noch mehr gesehen werden, als er gesehen wurde. Er entschloß sich schwer, die Mitte der Bühne zu verlassen, und seine besondere Eitelkeit war sogar dem historischen Kostüm anzumerken, das er immer noch besonders herausputzte.

Auch schien mir dieser Romeo in der Lyrik der Liebe nicht lyrisch genug, nicht erschüttert genug vom Elementaren der Leidenschaft.

Ich lernte den »Richter von Zalamea« kennen. Der reiche Bauer Pedro Crespo wurde von Förster dargestellt, Don Lope, der General, durch Friedmann zu einem unvergeßlichen Kabinettstück großer Schauspielkunst gemacht. Die unvergleichliche Gestalt des stämmigen Bauern Crespo mit seinem stämmigen Verstand, seiner stämmigen Moral, seiner stämmigen Männlichkeit, der den adligen Schänder seiner Tochter umbringen läßt, mußte sich unvergeßlich einprägen.

Nach dem echten Calderon folgte »Weh dem, der lügt!« von Grillparzer. Kainz als Küchenjunge Leon brillierte darin.

Von Schiller habe ich besonders den »Fiesko« in Erinnerung. Carl und ich liebten das Stück von je um seines Verrina willen.

In dieser nahen Beziehung zum Deutschen Theater, das wir mit Studentenbilletts zu ermäßigten Preisen oft besuchen konnten, sammelte sich das Ganze hie und da früher aufgenommener theatralischer Eindrücke. Ich mag meinen Freunden durch Reminiszenzen dieser Art, die, schauspielerisch vorgetragen, von mir vielfach ins Gespräch gemischt wurden, recht beschwerlich geworden sein. So hatte ich Barnay irgendwo als Uriel Acosta und in Hamburg Sonnenthal bei seinem Gastspiel in ebender Rolle gesehen. Und immer wieder sprach ich die ersten Worte der Rolle: »Stör' ich Euch, de Silva?« bald auf Barnays, bald auf Sonnenthals, bald auf meine Art, was Simon mir in gutmütigem Spott gern nachmachte. Daß er Uriel Acosta in »Uriel, was kost' das?« abwandelte, charakterisiert die eben unumgängliche Banalität unseres Freundschaftsjargons.

Nicht nur als Paraderolle liebte ich den Uriel, das Bekennerhafte an der Gestalt zog mich innig an. Wieder war da etwas dem rebellisch-prometheisch-beethovenisch Heilandhaften Verwandtes, dem ich verschrieben war.

Auch der andere Protestler gegen die sozial betonierte Oberschicht, der damals auf den Bühnen spukte, nämlich »Narziß« von Brachvogel, tat es mir an. Es ist erstaunlich, welche Fülle von Schatten der unendliche raumlose Raum der Seele beherbergen kann!

Es wird nun der zweiten Hohen Schule, der des Deutschen Theaters, die dritte, die wirkliche angefügt, wo ich bei Vahlen ein Kolleg über Plautus hörte, ferner einen Vortrag von Du Bois-Reymond, gleichsam einen Menschheitskulturüberblick, im Auditorium maximum und schließlich Treitschke kennenlernte, der mit gewaltig bellender Stimme über die Französische Revolution und den Zug der Massen nach Versailles redete. Er war erschüttert und erschütterte. Die Einholung des Königs und der Königin Marie Antoinette nach Paris wurde dabei zur mächtig erregenden Gegenwart. Es würde unmöglich sein, all den Bildungselementen gerecht zu werden, die sich damals mit meinem Geiste verbanden. Sie erfüllten wie Sonnenstaub die Luft und wurden in jeder Sekunde unmerkbar eingeatmet. Auch Deussen habe ich damals gehört.

Leider war das Gefäß gefährdet, das all diese Elemente in sich sog. In Anbetracht des schweren römischen Winters und des Endes, das er im Krankenhaus am Kapitol genommen, hätte ich Grund gehabt, zehnfach Vorsicht mit meiner Gesundheit walten zu lassen. Aber meine Braut interessierte sich für Gesundheitspflege nicht, suchte und nahm in dieser Beziehung nicht den geringsten Einfluß auf mich, und ich selbst hatte, Körperpflege angehend, nicht die penible Sorgfalt und Pedanterie meines Vaters geerbt, sondern im Grunde die Gleichgültigkeit meiner Mutter.

Kurz, wir waren dabei, zu versumpfen: Schmidt, Simon und ich.

Unverhältnismäßig viel Bier und billiger Bodegawein wurden hinuntergeschüttet, so daß wir manchmal in einem nicht allzu würdigen Zustand vor der Haustür unseres Quartiers anlangten.

Das Wesen unserer Gelage war leider ein ganz anderes als das der römischen, in denen das Erlebnis der Ewigen Stadt immer gegenwärtig war. Einen Idealisten und Schöngeist im Stile des Bakteriologen Dietrich von Sehlen hatten wir nicht unter uns, seine Wohlerzogenheit hätte gewiß auf uns übergewirkt.

So stapften wir drei denn Abend für Abend in das Gewühle des Rosenthaler Viertels hinein, bald in diesen, bald in jenen Gurgeltrichter des Schlammbades hineingedreht. Aber wer davon nicht verschlungen wurde, konnte wohl, wenn er entronnen war, auf einen nicht ganz unbeträchtlichen Gewinst an Lebenserfahrung zurückblicken.

 


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