Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einundzwanzigstes Kapitel

Meine Mutter hatte um jene Zeit, nach dem Tode ihres Vaters, wohl allerlei zu verwinden, was den Dachrödenshof betraf. Das kleine Anwesen und sein Geist hatten aufgehört, der Mittelpunkt Ober-Salzbrunns zu sein. An ihrem Teil spürte das auch meine Mutter. Wer wurde der neue Brunneninspektor? Diese Frage ward viel erörtert.

Öfter als sonst erschien in Salzbrunn der Fürst.

Auch die Fürstin kam in diesem Sommer mehrere Male mit ihrem Viererzug von dem nahen Fürstenstein. Niemals begleitete sie der Gatte, sie hatte meist nur eine Hofdame neben sich. Es war jedesmal ein Ereignis für den Badeort.

Schon die Erscheinung des Juckergespanns, dieser vier braunen, sich gehorsam zierlich tragenden Blutpferde mit dem nickenden Federschmuck über der Stirn, die leichte niedrige Halbchaise, durch Gummireifen lautlos gemacht, mit den Glanzlederschmutzflügeln und der graudamastenen Polsterung, war überaus eindrucksvoll, am meisten jedoch die hohe Frau.

Noch habe ich die Erscheinung dieser Fürstin in Erinnerung, wenn sie von dem niedrigen Trittbrett des Wagens die erste, nicht höhere Stufe der Freitreppe betrat, die zur Giebelfront der dorischen Wandelhalle emporführte. In leichte graubraune Foulardseide mit farbengleichen Brüsseler Kanten gehüllt, das verschleierte Haupt von einem ebenso garnierten großen Hut bedeckt, schritt sie dann in der Halle selbst aufmerksam von Auslage zu Auslage. Kein Kurgast, mochte er noch so aufdringlich sein, konnte von ihr auch nur einen Blick erhaschen.

Nie vergesse ich ihren Gang. Edel und gerade die hohe Gestalt emporgerichtet, fühlte sie langsam gelassenen Schrittes vor, Oberkörper und Haupt mit einer vornehmen Nickbewegung pfauenartig nachholend.

Die Verbindung zwischen dem Fürstenhaus Hochberg-Pleß und der Familie Straehler war Menschenalter hindurch schicksalhaft. Diese hatte Dienstleute und Beamte aller Art gestellt. Eine der schönsten Auswirkungen dieses Verhältnisses war die Stellung, die Ferdinand Straehler als Brunneninspektor einnehmen durfte. Damals war ich noch weit entfernt, die Wehmut der Mutter zu begreifen, darüber, daß dieses harmonische Leben und Wirken eines Mannes und seiner Familie, in dem auch sie wurzelte, nun doch zu Ende gegangen war.

Meinetwegen, es war ein Wirken im kleinen Kreis, aber der Großvater hatte doch in Freundschaft mit hochgebildeten Männern, unter anderen Geheimrat Zemplin und dem Maler Joseph Friedrich Raabe, einem zeitweiligen Hausgenossen und Berater Goethes, das Bad Ober-Salzbrunn fast aus dem Nichts aufbauen können. Die Elisenhalle, das Kurhaus, der Brunnensaal, der Annaturm, das Theater und die gesamten Parkanlagen zeugten davon.

 

Im Saale des Hotels Zur Sonne in Salzbrunn gab es nach Schluß der Sommersaison eine Veranstaltung mit musikalischen Vorträgen. Besucher waren vornehmlich die Salzbrunner selbst und einige Familien der Nachbarschaft. Als meine Mutter mit mir und meiner Schwester den Saal betrat, waren alle Plätze besetzt außer den Stühlen der ersten Reihe, auf denen Zettel mit dem Wort »Reserviert« lagen. Meine Mutter schob ganz einfach drei der Zettel hinweg, nahm selber Platz und hieß uns Platz nehmen. Was sollte das heißen? Wem sollten die Honoratiorenplätze zustehen, wenn nicht der Familie des Brunneninspektors?

Wir brachten den Winter von Einundsiebzig auf Zweiundsiebzig nicht im Gasthof zur Krone, sondern im Kursaal zu. Diese Zeit ist für mich überaus denkwürdig.

Mein Vater hatte, wie ich schon sagte, den Kursaal gepachtet. Ich nehme an, der Brunneninspektor hatte ihm das so benannte, dem Fürsten gehörige Badehotel, das mit dem Kurpark zusammenhing, seinerzeit in die Hand gespielt. Warum wir dahin für den Winter übergesiedelt sind? Es hatte wohl darin seinen Grund, daß mein Vater nun, durch die hohen Zinsen der neuen Hypotheken gedrängt, jede Möglichkeit, zu verdienen, ausnützen wollte, weshalb auch der Kursaal im Winter geöffnet blieb.

Die Kursaalexistenz war von einer gewissen Behaglichkeit, die jene in der Krone übertraf. Die Gasträume, die eigentlich nur sonnabends und sonntags von Schlittengästen besucht wurden, bestanden aus drei freundlichen Stuben im Parterre, die nur bei starkem Verkehr durch Öffnung eines der beiden Gesellschaftssäle ergänzt wurden.

Mochten wir nun aber auch die ganze Woche allein bleiben und der kleine Apparat nur für uns selber vorhanden sein, so waren wir doch nicht, wie in der Krone, von der Öffentlichkeit abgeschlossen, sondern mußten mit Überraschungen rechnen. Hatte doch jedermann grundsätzlich das Recht, bei uns einzukehren.

 

In der Schule war unter einem ehemaligen Feldwebel, Großmann, Exerzieren eingeführt: Rechts um, links um! Augen rechts, Augen links! Vorwärts marsch! Eins, zwei, eins, zwei! Ganzes Bataillon halt! Kehrt! Stillgestanden! Rührt euch! Großmann war Kinderfreund und überaus gutmütig.

Die Dorfschule hatte sechs Trommeln gekauft: alles Martialische kam nach dem Kriege und Siege in Aufnahme. Das Glück war mir hold, und ich wurde einer der Trommler. Wir durften dreiviertel Stunden vor dem Ende des Unterrichts unsere Trommeln umschnallen, um uns zunächst für den Schulspaziergang einzuüben. Wer faßt es wohl heut, was dies uns Jungen bedeutet hat?

Uns führte immer der gleiche Weg hinter der Schule hügelan bis zu einem alten Birnbaum ins Feld hinaus. Dort erscholl das Kommando des Tambourmajors, der seinen betroddelten Stab mit sich führte. Und dann schlugen wir auf die Kalbfelle.

Das Trommeln machte uns Freude, ganz gewiß, aber wie es nun einmal bei Jungens nicht anders ist, wir vergaßen es auch zuweilen. Wir entfernten uns gelegentlich weiter vom Ort und trafen einmal auf eine große Kröte. Plötzlich hatten wir alle den einen Gedanken, daß in ihr ein Feind, etwa der Feind Deutschlands, inkarniert wäre, und da man auf dem Gelände überall faustgroße Steine aufnehmen konnte, kam es sogleich zur Steinigung. Wir warfen die Steine mit einer Wut auf das häßliche Tier, die es in wenigen Augenblicken nach seinem letzten, menschlich erstaunten, menschlich protestierenden Gequiek zu Mus machte. Aber zu schleudern und immer wieder in sinnlosem Rasen Steine über Steine zu schleudern, hörten wir darum noch lange nicht auf. Am Ende ist von dem armen verwunschenen Gottesgeschöpf nichts irgend Kenntliches übriggeblieben.

Wie kamen wir nur zu diesem Ausbruch besinnungslos mörderischer Leidenschaft?

 

Ein Flügel wurde die Woche über aus dem kleinen Kurhaussaal, damit er nicht von der Kälte leide, im Wirtschaftszimmer aufgestellt. Mein Vater spielte öfter als sonst seine gedämpfte Erinnerungsmarseillaise und Partien aus der von ihm besonders geliebten Lortzingschen Oper »Zar und Zimmermann«. Sogar meine Mutter saß mitunter, mich zur Seite, gleichsam verstohlen am Klavier und entschloß sich schamhaft, das »Gebet einer Jungfrau« halblaut anzuschlagen. Ich glaube nicht, daß aus den Musikstunden ihrer Mädchenjahre mehr übriggeblieben war.

Johanna spielte recht hübsch Klavier. Sie war aber diesen Winter nicht da, sondern in der schlesischen Kreisstadt Striegau in einer von adeligen Damen gehaltenen Pension untergebracht, wo sie den letzten gesellschaftlichen Schliff einer »höheren Tochter« bekommen sollte. Und was mich betraf, so waren Versuche eines Klavierunterrichts durch Lehrer Irrgang fehlgeschlagen.

Allein dieser Umstand verhinderte nicht, daß gerade ich die elfenbeinerne Klaviatur am meisten beanspruchte. Ich hatte mir »Die Wacht am Rhein« auf den Tasten zusammengesucht, dann aber auch eine Anzahl Choräle. Solche vor allem, die wie »Laßt mich gehen, laßt mich gehen, daß ich Jesum möge sehen!« an offenen Gräbern gesungen wurden. »Meine Seel ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen«, so wiederholte ich im Geiste unzählige Male dies von frommer Inbrunst getragene Jenseits-Liebeslied, meine innere Stimme mühsam auf dem Klavier begleitend.

Und ich ging darüber hinaus.

Es war eine produktive Lust in mir, mich und gewisse dramatische Vorgänge aus dem Ringen des Menschen mit der Natur darzustellen. Ein Motiv dieser Art war der hoffnungslose Kampf, den ein Schiff im Seesturm kämpfte, in dem es dann schließlich mit Mann und Maus unterging. Der Sturm, der Orkan wurde mit Hilfe der Bässe ausgemalt, verlorene Hilferufe, Klänge rettungsloser Verlassenheit drückten sich aus im hohen Diskant. Es dauerte manchmal eine Stunde und länger, bis im Gewühle von Woge und Luft das Schifflein versank.

Nicht immer aber kam es so weit, oft hatte meine Mutter schon früher den endlosen Lärm überbekommen, und ein »Um Gottes willen, hör auf, Gerhart!« weckte mich unsanft und schloß meine Träumereien ab.

Die Hirschjagd war ein anderes Motiv, das ich immer wieder durchkomponierte. Hierbei malte ich den zwischen Bergen gelegenen rauschenden Forst, die Kavalkade der Herren und Damen, das Hallen und Widerhallen der Jagdhörner, Prinz und Prinzessin, ein junges Paar, das sich liebte und die Liebe verschweigt, die Angst des gehetzten Tieres, das mit herrlichem Schwunge den Bach und den umgestürzten Baum überspringt, das Rasen der Hunde, das brechende Auge des Wildes voller Anklage, sein Verenden und schließlich das Halali. Diesen »Hirschtod« genannten Hornruf der Jägerei konnte ich mir nie genug zu Gehör bringen.

Freilich spielte ich auch gelegentlich »O du lieber Augustin, alles ist hin!« oder »Lott' ist tot, Lott' ist tot, Jule liegt im Sterben!« oder weniger harmlose Gassenhauer, die ich auf der Straßenseite meines Doppellebens kennengelernt hatte.

 

Tag für Tag begegnete ich meinem Bilde in einem ovalen Wandspiegel mit breitem Mahagonirahmen. Er hing ziemlich hoch, aber vornübergebeugt, so daß ich mich darin sehen konnte. Kam ich von meinen Streifereien durch alle Winkel der Anlagen des Ortes zurück, so stellte ich mich meist unter ihn, und jedesmal stieg mir die Frage auf, ob ich das gestern auch schon getan, mich im Spiegel wie heute erblickt habe und das mir beweisen könne. Dann schien es mir immer, ich könne das nicht. Wenn ich es aber wirklich nicht konnte, so war es nicht sicher, ob ich am gestrigen Tage gelebt hatte. Heute aber, so schloß ich, lebte ich ganz gewiß.

Es war jedenfalls die Magie des Daseins, die mir damals ins Bewußtsein trat.

 


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