Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Gasthof Zur Sonne, dem Kurhausportal schräg gegenüber, wurde geführt von einem ehemaligen Schullehrer, der die Tochter des Pastors Booß an der evangelischen Kirche zu Nieder-Salzbrunn geheiratet hatte. Dieser Pastor Booß war ein älterer, kluger Mann und sehr wohlhabend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war seine immer wiederkehrende, unvermeidliche Redensart.

Wenn er meine Eltern besuchte, geschah es auf einen Augenblick: »Hörn Sie nur, ich habe nur eine Sekunde Zeit, hörn Sie nur. Die Arbeit wächst mir über den Kopf, hörn Sie nur. Der Oberkirchenrat, hörn Sie nur, und, hörn Sie nur, alle die neuen Zustände! Wir bekommen auch noch die Zivilehe, hörn Sie nur! Es wird ja alles jetzt auf den Kopf gestellt.«

Aus der Sekunde, die Pastor Booß sich gestatten wollte, wurde erst eine viertel, dann eine halbe Stunde, zuletzt wurde eine Stunde, wurden zwei, drei, vier daraus: so gut hatte sich der alte Herr jedesmal mit meinem Vater und meiner Mutter auseinandergesetzt. Dabei hörte er weniger ihnen als sie ihm die Beichte ab.

Ich weiß nicht, aus welchem Grunde der damalige Wirt der Sonne, Rudolf Beier, seinen Lehrberuf an den Nagel gehängt hatte. »Ich war nun nicht gerade ganz einverstanden, hörn Sie nur, hörn Sie nur«, erklärte des öftern der Pastor, »aber es war nicht recht zu machen mit ihm. Meine Tochter hat ihn geheiratet. Was sollte ich tun? Ich habe ihm also den Gasthof gekauft. Einverstanden war ich nicht gerade mit der Wahl meiner Tochter, hörn Sie nur, aber in solchen Fällen ist guter Rat teuer.«

Am Ende eines pastörlichen Kurhausbesuches waren oft manche leere Weinflaschen beiseite gestellt.

 

Carl und ich teilten mit der Mutter ein Schlafzimmer. Fenster und Glastüren gingen auf eine breite Veranda hinaus. Darunter lag eine winters gespenstisch verödete Terrasse, an welche die Kurpromenaden und ‑anlagen grenzten. Wir Jungens besonders stellten uns vor, daß Einbrüche von der Terrasse über die Veranda in den niedrigen ersten Stock nicht umständlich sein müßten, wenn auch hie und da der Nachtwächter mit der Pfeife durch die Anlagen ging.

So freundlich die an der Straße gelegene Vorderseite des Kursaals war, um so grusliger war des Nachts die Rückseite. Wenn der Sturm von den klappernden Gabeln der alten Bäume heulend oder wie eine Katze greinend die letzten Blätter riß und Gewölke über den Mond jagten, wäre niemand unter den Salzbrunnern ein Gang durch den Kurpark ratsam erschienen, der sommers tagtäglich ein bunter Festsaal war.

 

Entlegene Tanzlokale sind in Schlesien volkstümlich, in Wäldern und auf Höhen gelegen doppelt beliebt. Da der Pächter von Wilhelmshöh wohl schwerlich hätte die Pacht zahlen können, wenn er nur mit dem Sommer und den Kaffeegästen des Bades zu rechnen gehabt hätte, besaß er die Konzession, zu gewissen Zeiten Tanzmusiken abzuhalten. Der von Maler Raabe im Geiste der Romantik burgartig errichtete Bau und Ausflugsort, schwebend über dem Industriebezirk, hatte die größte Eignung dafür. Das Publikum aber, das in den Sommer- und Winternächten auf und ab strömte, erforderte einen furchtlosen Wirt, wie den Müller von Wilhelmshöh, der nötigenfalls zu boxen entschlossen, ja unter Umständen zu noch anderm fähig war. Er ist einmal, wie man sagte, in einen Zweikampf mit einem Kohlenarbeiter, der blutig ausging, verwickelt worden.

Kein Wunder, daß solches und ähnliches unsere jungen Gemüter aufregte. Ich muß der Wahrheit gemäß erklären, weniger mich als den Bruder Carl. Nie ging er zu Bett, bevor er nicht alles abgeleuchtet und insonderheit festgestellt hatte, daß kein Einbrecher etwa versteckt unter einer Bettstelle lag. Man ließ ihn gewähren, da ja eine gewisse Vorsicht an sich nicht verwerflich ist, und suchte nur, ihr Übermaß abzudämpfen. Ich aber habe Carl einmal einen Schabernack gespielt. Ich machte, da ich gewöhnlich früher als er zu Bett geschickt wurde, aus Hose, Weste, Rock und Hut meines Vaters einen Popanz zurecht, den ich unter sein Bett legte. Ich hielt einen mit den Armen der Puppe verbundenen Bindfaden in der Hand, wachte in meinem Bette und wartete. Endlich kam mein Bruder herein, während ich mich schlafend stellte, und leuchtete mit einer Kerze alles ab.

Als er unter seine Bettstelle geblickt hatte, tat er es zum zweiten Male, worauf ich an meiner Schnur zupfte. Er stand erstarrt, hielt das Licht und regte sich nicht, bis er damit auf den Zehen gegen die Tür und aus dem Zimmer schlich.

Mit Doktor Straehler, meinem Vater und meiner Mutter kam er nach einiger Zeit zurück. Die Herren trugen jeder sein Billardqueue, meine Mutter lachte und nannte Carl einen dummen Kerl. Und nun ging's an ein Unter-die-Betten-Gucken.

Ich hatte die Puppe fortgeräumt, als mein Bruder aus dem Zimmer war. Jetzt, bei der wachsenden Helle, spielte ich Aufwachen. Der Vater, die Mutter, der Onkel hatten jeder ein Licht in der Hand, und der Onkel glossierte die Handlung: »Nein, hier liegt der Halunke nicht! Hier ist die Canaille auch nicht vorhanden! Der Bube hat sich in Luft aufgelöst. Hier steht ein Gefäß aus Porzellan, gegen dessen Gegenwart nichts zu sagen ist.«

 

Das Billardzimmer, aus dem die Herren und meine Mutter herkamen, bildete in seiner Wärme und durchleuchteten Behaglichkeit, seinem grünen Billardtuch und seinem Ecksofa einen Gegensatz zu dem ungemütlichen Schlafzimmer. Hier ahnte man von der wüsten Öde der hinterwärtigen Anlagen nichts. Wenn sich mein Vater mit dem Onkel Doktor bei einem Glase Grog im Billardspiele maß, saß meine Mutter in der Sofaecke und stichelte gemütlich an einer Weißnähterei.

Es bildete sich bei diesem Zusammensein ein heiter-familiärer Ton. Es erwärmte uns, daß der joviale, lebensfrohe und elegante Mann sich bei uns wohlfühlte. Aber es kam doch vor, daß mein Vater ihn zur Ordnung rief, weil er sich auf burschikose Art und Weise, wenn auch nicht ohne Humor, gehen ließ.

Man weiß, welche Art von Lustigkeit bei Billardspielern, die keine Berufsspieler sind, üblich ist. Sind die Elfenbeinbälle zu langsam, so wird ihnen zugeredet. Wenn sie zu schnell laufen, ruft man: »Halthalt!« Man schiebt gleichsam ächzend einen schweren Wagen durch die Luft, wenn sie, im Begriff, ihr Ziel zu erreichen, kraftlos werden. Eine durch Zufall geglückte Karambolage entfesselt den der Spannung entfahrenden Aufschrei: »Fuchs!«, oder man sagt: »Mehr Glück als Verstand.«

Der elegante Badearzt machte sich lang, er zog sich wie ein Fernrohr aus, wenn er die Bahn eines Balles verlängern wollte. Mein Vater, dessen gelassene Überlegenheit wir Kinder bewunderten, hatte seine Freude daran. Der Onkel Doktor hob das rechte, das linke Bein, wenn er sich über die Bande des Billards legte, er schnitt Grimassen, und so kam es einmal bis zu einer von ihm nicht gerade gewollten Steigerung, wo die Spaßhaftigkeit durch Detonation von unerlaubter Stelle durch ihn überschritten wurde.

Da er Vorwürfe meines Vaters im Hinblick auf meine gegenwärtige Mutter nur mit einem jungenshaften Lachen quittierte, blieb schließlich auch seiner Base nichts übrig, als einem solchen Vorfall mit dem auch ihr angeborenen Straehlerschen Humor zu begegnen.

 

Das Offenhalten des Kurhauses den Winter über war dem pastörlichen Schwiegersohn und Sonnenwirt ganz gewiß nicht angenehm, wurde doch ein Gutteil seiner sonstigen Ausflugsgäste dahin abgelenkt. Er war meinem Vater überhaupt nicht grün, und dieser stand mitunter nicht an, sich über sein Käppi und seine Dienereien um die Schlitten und Wagen lustig zu machen.

Trotzdem fuhr ich die kleinen Beiers im Stuhlschlitten wohl verpackt herum und betreute sie wie ein Kindermädchen. Dieser Zug, der sich schon bei den Märchenerzählungen am Fuhrmann Krauseschen Ofen angemeldet hatte, wo Gustav und Ida Krause die Nutznießer waren, und der sich nun auf Agnes und Rudolf Beier übertrug, sollte mich lange durchs Leben begleiten.

Eigentlich wurden weniger die einstigen Gäste der Sonne als eine andere, neue Schicht von Gästen in den Kursaal gezogen. Bei einer Art Klub, der sich zwanglos gebildet hatte, stand zum Beispiel der Weißsteiner Gentleman-Bauer Karl Tschersich im Mittelpunkt. Sein Bedürfnis nach bäuerlichem Luxus richtete sich auf kostbare Pferde, Wagen und Schlitten, Pelze in Form von Jacketts, Mänteln und Pelzmützen, auf Schmuck und Stoffe für die Frau, auf luxuriöse Pferde- und Kuhställe, alle Sorten der teuersten und neuesten Jagdgewehre im Büchsenschrank, auf silberbeschlagene Geschirre und prächtiges Sattelzeug, dann aber auf reichliche und ausgesuchte Speisen und Getränke.

Wo er auftauchte – und er war Tag für Tag unterwegs –, wußte man: Karl Tschersich spart mit dem Gelde nicht! So mußte sich auch mein Vater für den Tschersich-Kreis ganz besonders vorbereiten. Fäßchen mit Austern kamen aus den Seestädten, lebende Hummer und Kaviar, und der Champagner durfte nicht ausgehen.

 

Ungeheuer war für mich und Carl die Sensation, als es hieß, daß die Auster lebendig gegessen würde. Wir trugen diese unglaubliche Neuigkeit unter die Schuljugend und sprachen mehrere Wochen nur immer davon. Auch war der Versuch, eine Auster zu essen, mit uns Jungen gemacht worden, aber mit dem bekannten Erfolge, den man Erbrechen nennt.

Dagegen wurden über Karl Tschersich Wunderdinge in dieser Beziehung berichtet: er schluckte Dutzende dieser Tiere hinunter und hörte nur ungern auf, weil er unersättlich war.

Ich zweifle nicht, daß in diesem Kreise bei geschlossenen Türen gejeut wurde. Irgendwie an die Bildfläche traten wir Brüder bei solchen Gelegenheiten nicht. Wir waren gebannt in unsere Privatzimmer. Dort steckten wir die Köpfe zusammen und tuschelten über die unter uns in den Gasträumen sich begebenden spannenden Dinge. Ein Kaufmann Lachs, der sein Schnittwarengeschäft am Ringe der Kreisstadt Waldenburg hatte, hielt meistens die Bank. Was das bedeutete, wußten wir, wir hatten es längst aus den Gesellschaftsspielen gelernt und aus dem Hantieren mit Spielmarken. Der märchenhafte Reichtum des Bauern beschäftigte uns, und wir glaubten, die Goldstücke klingeln zu hören.

Eines Nachts oder Abends, gegen halb elf, wurde es plötzlich sehr laut unter uns. Stühle wurden gerückt, Tische fielen um, und irgend etwas Gläsernes ging mit Geschmetter in tausend Scherben. Da sich nun etwas mit Gebrüll von Zimmer zu Zimmer gegen den Ausgang bewegte, traten wir an die Fenster, die grade überm Portale lagen, und sahen nun jemand – es war der Kaufmann Lachs – wie aus der Pistole geschossen ins Freie stürzen. Hinter ihm drein Tschersich mit einem Billardqueue – man weiß, sie sind unten mit Blei gefüllt –, das er mit dem Schwung seiner ganzen Bärenkraft hinter dem Flüchtigen herschleuderte. Er fehlte ihn, Gott sei Dank traf er ihn nicht, sonst wären wir vielleicht Zeugen eines Totschlags geworden.

Hatte nun Lachs vorher zuviel Geld gewonnen? Jedenfalls war die Katastrophe nur durch eine kleine Unachtsamkeit ausgelöst worden. Er schmeckte eine große Bowle ab und goß sein Glas, nachdem er gekostet hatte, in das Bowlengefäß zurück. Hierauf wurde Tschersich blaurot im Gesicht, stieß einige Tische und Stühle um, ergriff mit beiden Händen die Bowle und schmetterte sie auf die Erde, dann rannte er nach dem Billardqueue, zugleich aber Lachs nach der andern Seite, so daß ein Abstand zwischen ihn und den Großbauern kam, als dieser das Queue wie eine Keule gepackt hatte.

 

Das Weihnachtsfest rückte wiederum näher. Es kündigte sich an in dem Beschlusse des Vaterländischen Frauenvereins, die Armenbescherung des Jahres im Kursaal abzuhalten. Da Madame Enke Vorsitzende des Vereins war, so hatte mein Vater mit ihr und Diakonus Spahner Besprechungen.

Zwei gewaltige Christbäume, von deren obersten Lichtern die Decke sich anschwärzte, waren im kleineren Kurhaussaal aufgestellt. Auf weißgedeckter Hufeisentafel lagen die Geschenke portionsweise. Während der Festlichkeit stand jeder der armen Menschen, alte Weibchen, alte Männchen, verhärmte Frauen, vor seiner Portion. Sie standen da und schämten sich. Sie getrauten sich kaum, zum Gesang den Mund zu öffnen, zumal die beiden strahlenden Bäume ihren leibhaftigen Jammer ins grellste Licht setzten.

Wir, mein Vater und meine Mutter, sahen dieses uns neue Schauspiel mit Abneigung. Die alte Menzel, eine verschämte Arme, war bei uns untergekrochen; das Weibchen kam aus dem Zittern nicht heraus.

Diakonus Spahner ergriff die für ihn seltene Gelegenheit, seine Predigergabe leuchten zu lassen, wobei die Beschenkten ihre Portionen immer noch nicht berühren, sondern nur mit den Augen verschlingen durften. Die Predigt dauerte doppelt so lange als nötig war. Dann aber, endlich, schien man zur Sache zu kommen.

Madame Enke erhob sich, auf der pompösen Brust den Luisenorden, jeder Zoll Maria-Theresia.

Ihr bedeutender Kopf mit der runden Nase und zwei schwarzen, feurigen Augen gehörte eher der slawischen als der deutschen Rasse an. Sie hatte die schönsten Stücke, Ohrgehänge, Broschen, Halsketten, aus dem Familienschmuck der Hindemith angelegt, ganz dem festlichen Abend angemessen. Und, wie gesagt: den Luisenorden, eine Dekoration, die von ihr am meisten geschätzt und von allen am meisten beneidet wurde.

Hatten das Kindlein in der Krippe, Maria und Joseph, Ochs und Eselein aber je solche Worte gehört und in solchem Ton, wie sie aus dem Munde der Trägerin des Luisenordens nun hervorgingen? Schon die ersten Verlautbarungen der wohltätigen Dame schienen den Bartflaum, den sie auf der Oberlippe trug, gewissermaßen zu rechtfertigen.

»Ihr wißt, daß ihr von mildtätigen Menschen hier beschenkt werdet«, hieß es ungefähr, »und ich setze voraus, daß ihr das anerkennt und dankbar seid.« Es klang resolut, und man wußte sofort, mit Frau Enke anbinden würde viel Energie erfordern. Sie schüttete dann, sich mehrfach bis zu Kommandotönen steigernd, eine Fülle moralischer Forderungen aus, die nun noch von den verwirrten Gästen des Christkindes verarbeitet werden mußten, bevor sie ihre Portionen ergreifen durften.

Und plötzlich vernahm man zu allgemeinem Erstaunen und Befremden etwas wie einen wütenden Wortwechsel. Man erkannte dann, daß er einseitig war, daß nämlich Madame Enke ein hohlwangiges Bergarbeiterweib aufs schrecklichste öffentlich abkanzelte: man hatte ihm, hieß es, im vorigen Jahr Kinderkleider und dergleichen einbeschert, die sie nicht verwendet, sondern verkauft habe. »Eigentlich gehören Sie gar nicht hierher, Sie verdienen gar nicht, aufs neue beschenkt zu werden. Aber merken Sie sich: es ist heute das letztemal, falls Sie sich wiederum solcher Begünstigung unwürdig zeigen!«

Es war wohl der äußerste Tiefstand, auf den die gemütischen Eigenschaften der Madame Enke je gesunken waren.

Dieses Erlebnis, im hohen Grade roh, entrüstend und anstößig, ist mir als ein Paradigma solcher Veranstaltungen, wie sie nicht sein sollen, bis heute nachgegangen. Madame Enke hatte auf meiner Bühne ausgespielt.

 


 << zurück weiter >>