Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundvierzigstes Kapitel

Ein harter Winter brach herein. Da mein Zimmer ohne Ofen war, gefror das Wasser in der Waschschüssel. Ein übler Husten quälte mich, der aber von den Verwandten nicht beachtet wurde. Der Beruf eines Landwirts duldet keine Verweichlichung. Infolge der Überreizung durch das nächtliche Aufstehen war mein Geist dauernd in einem Zustand peinlicher Luzidität, während zugleich ein Gefühl von Dumpfheit und Leere im Kopf und seine Begleiterscheinungen mich beängstigten. Zwölf Jahre alt, hatte ich ohne Mühe dicke Bände durchgelesen, während ich mich jetzt zuweilen vergeblich bemühte, den Sinn einer halben Seite zusammenzubringen. Ich vergaß bei der vierten Zeile die dritte, bei der fünften die vierte, und so fort. Ich hatte wirklich ein Brett vor dem Kopf.

 

Einer meiner Träume von damals bleibt mir besonders merkwürdig und, weil er die Aufgestörtheit meines Seelenlebens zeigt, erwähnenswert.

Da ich mich um drei des Morgens wecken ließ, schlief ich sehr unruhig. Das alte Gutshaus, in dem ich noch immer aushalten mußte, war recht unheimlich. Der Bauer und letzte Besitzer des Hauses sollte sich an einem Balken des Oberbodens aufgehängt haben. Bei der Arbeit wurde davon erzählt, wie denn überhaupt die alten Tagelöhnerweiber die lebende Chronik des ganzen Landbezirkes sind. Ratten und Mäuse sind von Ställen, Scheunen, Getreideböden und Milchkellern nicht auszuschließen. Sie sprangen, tanzten, quiekten des Nachts auf der niedrigen Decke über meinem Kopf.

Es ist von der Schelle die Rede gewesen, die ich mir übers Bett gehängt hatte, um mich von der Dorfstraße aus durch den Nachtwächter wecken zu lassen. Das geschah wie immer eines Nachts. Ich warf wieder die Beine aus dem Bett, während die Schelle noch schrie und schepperte. Mit den Phosphorhölzern zündete ich meine Kerze an. Ich fror, ich zog mir die Beinkleider über, zwängte die Füße in die Schaftstiefel, die noch vom vorigen Tage naß und beschmutzt waren, und erhob mich, die übliche Katzenwäsche zu bewerkstelligen.

Als das getan war, noch das klägliche Läppchen Handtuch in der Hand, bemerkte ich in dem herzförmig ausgeschnittenen Loch des Fensterlädchens ein schwaches Licht. Gleich darauf war mir, ich hörte entferntes Singen. Das alles überraschte mich, denn schließlich war es ja draußen tiefe, mondlose Nacht, und ein solcher Gesang – es schien kindlicher Chorgesang – war selbst am Tage in diesem entlegenen Ackerdörfchen kaum je gehört worden.

Ich zog die Weste, die Jacke und eine zweite, dickere darüber an, umwickelte meinen Hals mit einem Schal, stülpte mir eine Baschlikmütze auf den Kopf und wollte dann sehen, was draußen los wäre. Ich machte das Lädchen, das Fensterchen auf und sah zu meinem wirklichen Staunen, wie sich ein Kinderfestzug, wie sie bei Schulspaziergängen üblich sind, von der Kretschamseite aus die Dorfstraße herauf bewegte. Das Unwahrscheinliche dieser Tatsache konnte nicht hindern, daß sie eine war.

Ich fragte den Wächter, der in altertümlicher Weise mit Horn, Spieß, Schaffell und Schaffellmütze ausgerüstet war und noch wartend vor meinem Fenster stand, wie er sich diesen Aufzug erklären könne. Er fand nichts Sonderbares darin. Ich selbst aber ward durch die Begrüßung eines Salzbrunner Jugendgespielen in unbefangener Weise in eine natürliche Verbindung mit dem seltsamen Vorgang gebracht. Wie kommst du hierher? fragte ich, als mir der Freund in schalkhafter Wiedersehensfreude durchs Fenster die Hand reichte. Es schien, die Sache war, etwa um mir eine Freude zu bereiten, abgekartet. Denn nun erkannte ich Alfred Linke, Gustav Krause, den Fuhrmannssohn; Ida Krause, die längst Verstorbene, schritt unter den Schulkindern, und diese führte, es war kein Zweifel, wie ein Hirt die Herde, der alte Salzbrunner Schullehrer Brendel an, während Julius Gruner, der von uns Schulkindern seine tägliche Apfelsteuer nahm, einen Apfel schälend, um dessen Schale man sich riß, die Masse der Kinder zusammenhielt. Mich überschlich bei diesem Anblick eine innere Wonne und Wärme, die ich nicht beschreiben kann. Ein Jugendfesttag innigsten Glücks kam heraufgezogen und verbreitete über Straßen und Häuser von Lederose eine süß vergoldende, magische Helligkeit. Das Glück meiner Jugend kam daher und lud mich ein, aus dem finsteren Hause meiner Verbannung heraus und mitten hinein zu treten. Die Heimat, die mich verstoßen hatte, kam zu mir. Die Treue, die sie mir hielt, hatte etwas Erschütterndes.

Ich zog mit den Kindern vor das Dorf hinaus, wo der große Wiesenplan mit hurtig zusammengeschlagenen Tischen und Bänken uns als Spielplatz erwartete. Als wären wir beim Müller von Wilhelmshöh, traf ich meine Mutter, Tante Liesel und das bucklige Täntchen Auguste, die Knusperhexe, in lächelnd versöhnter Stimmung beim Kaffee. Der Müller von Wilhelmshöh stand mit der kurzen Pfeife daneben, schmauchte und schien sich wie die andern Erwachsenen über den Streich zu vergnügen, den man mir gespielt hatte.

Wie steht's in der Krone? fragte ich meine Mutter.

Oh, sagte sie, es wird alles gut. Der hauptsächlichste Gläubiger, Fabrikant M. in Waldenburg, wünscht, daß der alte Gasthof in Vaters Hand bleibe. Er verzichtet auf seine Hypothek.

Das war eine herrliche Neuigkeit, die eine Welt der Freude in mir aufregte. Es war, als erhielte ich die Versicherung, ich würde noch im hohen Alter die geheiligten Räume des alten Hauses, die ehrwürdigen Gänge, Säle, Winkel und Gartenverstecke durchwandeln und von seiner Seele umgeben sein.

Nun fingen unter der Leitung von Brendel die Spiele an. Nie hätte ich geglaubt, daß der alte Krauter so heiter sein könne. Er bog sich vor Lachen, als einer der Jungen nach dem andern kurz unter der Spitze einer Stange, auf der eine Wurst hing, die Kraft verlor und herunterrutschte. Nicht weniger lustig war das Sackhüpfen. Die Kinder wurden in Säcke gesteckt, so daß sie nur den Kopf frei hatten, und durften so nach leckeren Würstchen hüpfen, die man in mäßiger Höhe über ihnen an Bindfäden aufgereiht hatte.

Da legte mir jemand die Hand auf den Arm. Es war Herr Beninde, der, wie immer penibel gekleidet, das Halstuch mit einer blitzenden Busennadel geziert, mir einen eben geschnitzten neuen Fitschepfeil übergab. Er hatte schon viele Kinder damit versorgt und schien hier in seinem Element zu sein. Bereits wurde der Himmel von Pfeilen verdunkelt.

Beninde bestätigte mir, was die Mutter erzählt hatte. Es käme nur noch auf ein kleines, leicht zu lösendes Rechenexempel an. Übrigens wolle der Vater deswegen noch meinen Rat haben. Und richtig, der Vater, außerhalb des Spielplatzes – er liebte diese Art Kinderspiele nicht –, gab mir einen geheimen Wink, der mich an seine Seite brachte.

Wenn es dir recht ist, sagte er, und du nicht etwa den Trubel lieber hast, könnten wir einen kleinen Spaziergang machen. Diese Sache hier wird ja so bald nicht zu Ende sein.

Selbstverständlich war ich mit Freuden bereit.

Was alles mir der Vater auf dem langen Spaziergang anvertraute, weiß ich nicht. Manchmal hörte ich deutliche Worte, manchmal war es nur wie sein Seelendunst, der mich umgab. Darin schwammen die Bilder des Mendeschen Maskenballes. Mein Inneres nahm Partei für den Vater, obgleich er allen das Fest gestört hatte. Es schwebten Gefühle durch mich hin, die der dunkle Faschingsabend erweckt hatte, und ebenso Visionen: meine Schwester im grünen Arsenikkleid und das Dreimastertintenfaß meines Vaters. Einer der Demuths, die nun Kurdirektoren waren, begegnete uns. Das Jagdgewehr hing ihm an der Schulter. Er sagte, es sei ein schlechtes Geschäft mit der Landwirtschaft, und riet mir, Kurdirektor zu werden. Er selber war es ja schließlich geworden an der eigenen Kuranstalt. – Denken Sie doch an Ihren Großvater! Der alte Straehler, das war doch ein Mann! Der Beruf liegt ja doch schließlich in Ihrer Familie.

Mit diesen Worten entfernte er sich.

In wenigen Tagen, sagte der Vater, kommt das ganze Demuth-Anwesen zur Versteigerung. Dein Großvater hat mich nicht geliebt, fuhr er fort. Erstlich sah der fürstliche Brunneninspektor sehr von oben herab auf den Gastwirtssohn und die Gastwirtsfamilie. Auch paßten ihm meine Ansichten nicht. Ich hielt den Leuchtturm, Meyers Universum und ähnliche Schriften. Ich liebte Gottfried Kinkel, Hoffmann von Fallersleben und Karl Schurz. Er sträubte sich mit Entschiedenheit, seine Tochter einem Gastwirt und einem roten Demokraten zu geben. Auch daß ich kein Kirchgänger war, paßte ihm nicht.

Ich fragte: Was ist aus den Enkes geworden? Vater sagte: Sie sind in die Welt verstreut. Der Elisenhof ist in andern Händen. Mit unsrer Krone wird es ja nun bald ähnlich gehn. Übrigens ist Onkel Gustav, mein Halbbruder, nicht mehr Besitzer vom Schwarzen Roß. Er ist mit der Frau nach Breslau übergesiedelt, Onkel Paul hat ihn bei einem Anwalt als Schreiber untergebracht.

Ich fragte nach dem Rechenexempel.

Ihr Kinder hättet das Geld sammeln sollen, das Gustav euch im Laufe der Jahre gegeben hat, dann wären wir heute reiche Leute, und es läge kein Grund vor, dich an die Schuberts abzutreten.

Abzutreten?

Du weißt ja. Durch Adoption.

Nach diesen Worten, die der Vater mit trüber Stimme sprach, stieg in mir eine Woge von Traurigkeit. Ich weinte. Wie ein unwiderruflich Verurteilter wollte ich wissen, ob mein Schicksal nicht irgendwie noch zu wenden sei.

Nein! Und ich und mein Vater weinten zusammen. Wirklich, er weinte, der strenge Mann, dessen Augen ich nur einmal, als der Tod meines Bruders Carl jeden Augenblick erwartet wurde, voll Wasser gesehen hatte.

Wie geht es dir übrigens? fragte er, wie fühlst du dich?

Oh, ich hätte schon viel gelernt, ich sei überzeugt, daß ich bald einen Großknecht ersetzen könne.

Jetzt waren wir allmählich bis in den Fürstensteiner Grund gelangt und betraten die Wirtschaft Zur alten Burg, wo uns Frau Kirchner, die Wirtin, begrüßte. Sie sagte, ich sähe nicht wie ein Landwirt aus.

Wir bestellten Kaffee, bestellten Bier und erinnerten uns an den Warmbrunner, an den Teplitzer Aufenthalt, wo wir beide, allein aufeinander angewiesen, oft so wie jetzt kameradschaftlich beieinander gesessen und geplaudert hatten. Frau Kirchner erzählte manches vom neuen Schloß und von den fürstlich-plessischen Herrschaften, wobei wir bedachten, daß unsere alte Burg die neue, nämlich ein Kunstprodukt der Romantik, war und das neue Schloß das echte alte.

Frau Kirchner fragte, ob ich nicht doch die historischen Räume besichtigen wolle. Aber es war in mir eine Unruhe, als ob wir nun doch zu dem Kinderfeste zurück müßten. Mit Vater zu wandern, mit Vater zu sprechen war schön. Aber es führte doch nach und nach in einen allzu großen Ernst und damit in eine gewisse Verdunkelung. Ich dachte an Onkel Gustavs Hochzeit, auf die ich mich so lange gefreut und um die mich unvorsichtiger Weingenuß zum größten Teil betrogen hatte. Ich würde mit einer Art Verzweiflung zu kämpfen haben, gestand ich mir, wenn ich bei meiner Rückkehr die Festwiese verödet anträfe.

Aber Frau Kirchner wollte nicht nachlassen. Sie müssen unbedingt das Paradebett sehen, sagte sie, in dem die Kaiserin von Rußland, der Ihr Großvater seinerzeit als Brunneninspektor den Kurbrunnen kredenzen mußte, zwei Nächte geschlafen hat.

Ich sprach Frau Kirchner von dem Kinderfest, von dem weiten Weg dahin, den wir zurücklegen müßten, und daß ich noch ein bißchen davon genießen möchte. Da meinte sie, es sei ja noch früh, und wie sie den alten Brendel kenne, der schwer in Gang zu bringen sei, treibe er, erst einmal in Schuß, die Sache womöglich bis nach Sonnenuntergang. Ich mußte der alten Dame recht geben, und Vater erzählte, in welche Sorge er eines Abends geraten sei, als ich, mit der Brendelschule unterwegs, lange nach Eintritt der Dunkelheit zu Hause noch vermißt wurde.

Übrigens erzählte die alte Kirchner sehr spannend von dem kaiserlichen Hofhalt auf dem neuen Schloß. Wie es da zugegangen sei und welche ungeheure Verschwendung geherrscht hätte. Man habe nach Abzug der Russen zu Aberhunderten ganze gebratene Hühner, Enten und Gänse in den Abzugsröhren des Schlosses gefunden.

Bei alledem wuchs meine Ungeduld. Es war mir, als ob ich, noch weiter hier festgehalten, etwas Unwiederbringliches, das sich mir vielleicht jetzt und nie mehr wieder darbieten würde, versäumen müßte, als ob ich die Jugend, die Seligkeit meiner Kindheit zum zweiten Male verlieren sollte. Was ging mich das Bett der Kaiserin an, wenn es mir den Verlust einer paradiesischen Stunde eintragen sollte?

Vater sagte: Es hilft nichts, wir wollen es ansehen. Diese Frau ist energisch. Sträuben wir uns, so müssen wir stundenlang parlamentieren. Werfen wir einen Blick auf das Bett, zahlen die Taxe und machen uns eilig auf und davon!

So wurden wir denn von Frau Kirchner außen herum um die alte Burg geführt. Der Anblick des Felsentales, auf dessen Klippe sie thronte, war großartig. Wir erreichten eine kleine, versteckte Spitzbogentür, wo Frau Kirchner mit knochigen Händen anpochte. Eine Antwort von innen erfolgte nicht. Da schrie sie mehrmals: Kastellan! Kastellan!, während ich fast verzweifelt erklärte, daß ich auf das Bett der Kaiserin nicht den allergeringsten Wert lege. Ich fühlte, wie ich heftiger wurde. Mich ginge die Kaiserin gar nichts an, die Kaiserin sei mir mehr als gleichgültig, ich hätte wahrhaft anderes zu tun, als das Bett einer Kaiserin anzuglotzen. Ich raste, ich schrie: einer der albernen, kläglichen Gaffer, wie sie Frau Kirchner gewöhnt sei, wäre ich nicht! Ich müsse zu meinem Kinderfest, und wenn sie mich jetzt in Dreiteufelsnamen nicht loslasse – bei diesen Worten entdeckte ich plötzlich einen alten, verrosteten, kunstreich geschmiedeten Klingelzug, der mir eine Erlösung deuchte. Ich hängte mich daran, ich riß daran, um wenigstens den Kastellan zu wecken, um wenigstens zu dem verdammten Bett zu gelangen und dann im Laufschritt davonzustürmen. Ein Donner erscholl, die Schelle schallte durch die Räume der alten Burg, daß der Kalk von den Wänden rieselte. Nie habe ich eine Schelle so ohrenzerreißend schmettern hören . . .

 

Und, bei Gott! es war keine andere Schelle als die über meinem Bett, die der Nachtwächter auf der Dorfstraße zog und die mich eben jetzt erst wirklich aufweckte.

 

Unter den Traumerlebnissen, die ich gehabt habe, ist dies wohl das seltsamste. Es unterschied sich zunächst kaum von einer greifbaren Wirklichkeit. Die Schelle des Wächters weckte mich, wie verabredet. Ich erwachte dort, wo ich wirklich lag, machte Licht, stand auf, befand mich in meinem eigenen Zimmer, trat ans Fenster, das ich geöffnet hatte, sprach mit dem Nachtwächter und sah, hörte und fühlte nun alles ganz wie im Leben, was ich geträumt habe. Aber bis ich die Schelle des alten Burgturmes zog, waren höchstens fünf oder sechs Sekunden vergangen. So lange hatte der Wächter gelauscht, ob ich antworte, bevor er die Schelle zum zweiten Male in Bewegung setzte, wo ich denn mit einem lauten »Jawohl!« diesmal wirklich erwachte und aus dem Bette sprang.

 


 << zurück weiter >>