Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neunzehntes Kapitel

Mary war dem schweren Abschied, der mich mit dem ungewissen Schicksal eines Schiffes verband, aus dem Wege gegangen und einige Tage früher von Hamburg nach Hohenhaus heimgereist.

Am Tage vor der Abfahrt hatte ich mit Georg einen Besuch in meinem schwimmenden Hause gemacht. Es war ein Stockfisch führender Dampfer der Sloman-Linie. Kapitän Sutor, schlank und mittleren Alters, hieß mich willkommen. Abends gab mir, wie ich es wünschte, Vater allein das Geleit zum Schiff.

So war ich bis zum Rande Europas gelangt, dessen Boden mein Fuß bisher nicht verlassen hatte. Ein kleines Brett vom Kai zum Deck löste mich davon los.

Mein Vater und ich erlebten zum ersten Male einen so gearteten Abschiedsaugenblick. Natürlich, daß wir ernst und bewegt waren.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß es Leute gibt, die nur oberflächlich sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen und denken können. Der Durchschnittsmensch sieht in meiner Reise eine Vergnügungsfahrt, um die man mich höchstens beneiden konnte. Ihm ist es nur lächerlich, von einem so gewöhnlichen Vorgang irgend Wesens zu machen.

Nein, er war nicht gewöhnlich für mich. Er war ein großes Erlebnis, vielleicht in meinem bisherigen Dasein das größte, weil zugleich mit dem kleinen Frachtdampfer mein eignes Lebensschiff vom festen, vom heimatlichen Ufer stieß und sich – so war mein bewußtes Gefühl – schicksalhafter, uferloser Unendlichkeit überlieferte.

Es sind neue Empfindungen, Urgefühle, die in solchen Stunden aufsteigen und alles seßhaft gestaltende, eingefriedete Wesen in Frage stellen. Schon die Gewalt des geahnten Eindruckes läßt die festesten Deiche vor dem Einbruch des Meeres zerschmelzen und spült sie hinweg. Wer wüßte nicht, daß eine einzige Flutwelle allem, was sich ihr entgegensetzt, sei es Elternhaus oder Stadtmauer, Straßburger Münster oder Parthenon, das gleiche Schicksal bereiten kann?

Es war unbestimmt, ob die »Livorno« schon diese Nacht ausfahren würde oder nicht. Der Vater nahm gegen zehn Uhr Abschied von mir, mit dem Versprechen, am Morgen wiederzukommen. Ein Gefühl des Alleinseins in der Welt, wie ich es nach dem kühlen Kuß in Vaters Schnurrbart gehabt habe, als er meinen Blicken entschwunden war, zeigte mir, welcher Steigerung selbst die Erfahrung von Einsamkeit fähig ist. Ich kroch in meine Kabine hinunter.

Natürlich, daß mich beim Glucksen der Wellchen an die Schiffswand jene Träume heimsuchten, die mit dem Halbschlaf verbunden sind.

Im Traum durchlief ein Knabe sein Vaterhaus. Plötzlich war es da wie ein wieder aufgetauchtes Vineta. Eigentlich war es nicht mehr vorhanden. Zuweilen war es mir in den letzten Jahren gewesen, als ob es niemals bestanden hätte. Jedenfalls schien es, als reiche kein Eimer an einem noch so langen Seil bis zum Grunde des schwarzen Brunnens, in dem es lag. Nun durchlief, durchschwebte ich wieder mein Vaterhaus; bei dem alten Gott Vater auf dem Absatz der Treppe, die zu den mystischen Quellen im Grunde des Hauses führt, machte ich halt. Dann strich ich im Traume die Böden ab und klopfte an die Bretter des Spielzeughimmels, der Siebenkammer. Das alte Gerümpel flüstert und knackt. Das Geschrill der Mäuse mischt sich darunter. Spiel, Spiel, oh, wie über alle Begriffe beglückend ist Spiel! Gott kann nur spielen, niemals arbeiten. Und nun steigt ein Knabe treppauf, treppab, ist eigentlich überall zugleich. Er liest die Nummer an jeder Zimmertür, um ohne zu öffnen einzutreten.

Dann ist mir, als läge ich gar nicht in eine dunkle Kabine der »Livorno« eingepfercht, sondern im ebenerdigen, nächtlichen Zimmer des Lederoser Gutshauses. Wieder dröhnt die Schelle des Nachtwächters. Ich werde geweckt, trete ans lukenartige kleine Fenster. Ein seltsames Glucksen dringt von der Dorfstraße. Ist etwa das still fließende Wasser hinter den Gärten übergetreten, in dessen Weiden- und Erlenbüschen die Nachtigallen so schmelzend wetteiferten? Die Dorfstraße ist von Wasser bedeckt. Aber als wenn es nicht so wäre, kommt wieder der Lehrer Brendel mit seinen Schulkindern die Dorfstraße herauf. Sie singen, so scheint's; der Gesang ist herzbrechend. Ist es am Ende Tante Julie, die singt? Leb wohl, Geliebte! Geliebte, leb wohl!

Nun begann ein gewaltiges Kettengerassel, als ob die Giganten des alten Erdteils mir drohen wollten wegen meiner Fahnenflucht. Das Kettengerassel verstärkte sich. Ich hörte schreien und dicht über meinem Kopfe Füße trampsen. Rhythmische Rufe schollen durch die Nacht.

Da erwachte ich und begriff sogleich: man war dabei, den Anker an seinen mächtigen Ketten emporzuwinden.

Ade, Ade! Ich weiß nicht, von wieviel Menschen und Sachen, Hoffnungen und Befürchtungen, schönen wie trüben Erinnerungen ich in diesen Minuten Abschied nahm. Hatte ich nicht beinahe von meinem ganzen früheren Selbst Abschied genommen? Wie nie zuvor drängte das Gestern in seiner Irrealität sich auf und konnte fast nur als verloren gelten.

Ich zuckte die Achseln: dies ist im Dunklen, im Liegen, im Bette oft meine Art. Kein Anker hält! ist dabei mein Gedanke.

 

Die gewaltigen Ketten schlugen mit klirrendem Donner aufs Deck. In die glucksenden Rhythmen an der Schiffswand kam Veränderung. Ich brachte das Heulen kleinerer Dampfboote damit in Zusammenhang. Die »Livorno« hatte Vorspann bekommen, wurde aus dem Hafen geschleppt. Ich sagte zu mir: Du hast es gar nicht gewußt, wie gerne du das geliebte ernste Haupt deines Vaters am kommenden Morgen noch einmal erblickt hättest. Aber damit war es nun nichts. »Navigare necesse est« – und es hat seine eigenen, festen Gesetze.

Die »Livorno« ging bereits mit eigener Kraft, als ich nach einigen Stunden aufwachte. Ich zog mich an und stieg an Deck. Ich glaubte bereits, auf dem Meere zu sein, da man die fernen Ufer der Elbe im Grau des Morgens kaum unterschied. Das weite Himmelsgewölbe stülpte sich mit wolkiger Trübe auf die endlose Erdfläche. Endlich traten wir in die mehr und mehr bewegte Nordsee hinaus.

So lange wie irgend möglich kämpfte ich gegen die Übelkeit, bis ich in die Koje zurück mußte. Das graue Elend des Neulings im Seefahren ist allgemein bekannt, es lohnt nicht, Wesens davon zu machen. Ein braver Steward, der einzige auf der »Livorno«, betreute mich.

Ich müßte etwas zu mir nehmen, behauptete er. Auf was ich wohl einen Appetit hätte? Aber ich brauchte nicht erst nachzudenken. Von Eßbarem nur zu sprechen machte mir Konvulsionen. Aber plötzlich inmitten des Jammers trat die Hünengestalt des Masuren Pastor Gauda vor mich hin, als Zuchthausgeistlicher im Talar. Er schien seine Schneckenpredigt zu halten, die jede Minute ein Wort gebar. Unwillkürlich mußte ich lachen: »Gottes Mühlen mahlen langsam . . .«, schoß es mir durch den Sinn. Nun saß er bei Tisch, es mochte nach der Predigt sein. Krachend zerbrachen seine Zähne die Knochen eines Gänseschwarzsauers. Dabei rief er nach roten Rüben. So war es eines Tages gewesen, und ich bekam dabei zum erstenmal rote Rüben zu Gesicht. Sie erregten mir Abscheu, ich mochte sie nicht. Nun aber sprang mir die Frage aus dem Mund: Ist ein Engel vom Himmel an Bord? Nein, ich fragte nur: »Haben Sie rote Rüben?« Ich fühlte, wie aussichtslos diese Frage war und wie mich ein Nein vernichten mußte. – »Rote Rüben? Ich werde nachsehen.« –

Er ging, kam wieder und brachte mir eine frisch geöffnete große Büchse davon. Ich dankte Gott. Ich sah in dieser unwahrscheinlichen Tatsache ein Werk der Vorsehung. Ich aß und aß mit dem größten Genuß, mit einem Genuß, der zugleich Genesung bedeutete, behielt, was ich aß, und konnte nach einigen Stunden wieder an Deck gehen.

Nachdem Kapitän Sutor mit mir allein einige Male in der offiziellen Kajüte steif diniert hatte, fragte er mich, wie ich darüber dächte, mit seinen Leuten und ihm in der Messe zu essen. Mit Vergnügen nahm ich die Ehre an. Es war ein Beweis, daß ich dem Kapitän nicht mißfallen hatte.

 

Seltsamerweise – Systole nach Diastole – verengte sich nun meine Vorstellung des großen und weiten Seewesens zu einem kleinen, sehr gemütlichen, freilich schwimmenden Bürgerhaus. Kapitän Sutor, Maschinenmeister Wagner, der Erste Steuermann, der Bootsmann und ich bildeten sein Konvivium. Dazu kamen zwei Untermaschinisten, einige Matrosen und der immer behaglich am Herde beschäftigte Koch, dessen Ausruhen darin bestand, vor der Kambüse Rüben zu schaben oder Kartoffeln zu schälen. Über dem kleinen Kreis lag der Geist einer stillen Seßhaftigkeit, unbeschadet dessen, daß der Frachtdampfer seine zehn Knoten die Stunde zurücklegte.

Nach einigen Tagereisen war ich auf der »Livorno« eingelebt. Ich gehörte ganz zur Familie. Eigentlich war ich mehr ein lieber Besuch, der von allen verwöhnt wurde. Ich brachte die Tagesstunden bei jedem Wetter auf der Kommandobrücke zu, wo ich meist, während Kapitän und Erster Steuermann observierend auf und ab schritten, mit dem dicken, kleinen Maschinenmeister Schach spielte.

Wir brauchten acht Tage, bevor wir in Malaga anlegen konnten.

Wann hätte ich wohl während meines bewußten Lebens acht Tage in solcher Ruhe und solcher Harmonie zugebracht? Ich empfand das bald, und der Gedanke an ihren Abschluß war mir kein lieber. Herrliche Luft, Weitsicht ohnegleichen, Bewegung bei völliger Ruhe und Verantwortungslosigkeit. Küsten, Schiffe, die Goodwin-Sands, im werdenden Dunkel zuckende Leuchtfeuer, Schifferbarken, Lotsenkutter, Dreimaster, Fracht- und Passagierdampfer, als Punkte auftauchend und wieder verschwindend, manchmal in voller Größe da. Aber immer, ob größer, ob kleiner, unüberbrückbar eine Entfernung zwischen den Gegenständen und uns: uns, den stillgeeinten, ruhigen Menschen.

Außer uns wohlzufühlen, hatten wir keinen Beruf.

Nie kam eine Zeitung, nie ein Brief, keinerlei Nachrichten, nicht gute, nicht schlimme, erreichten uns, noch weniger hatten wir einen Besuch zu gewärtigen.

Das bedeutete ein tiefes Ausruhen, wie es in Zeiten der drahtlosen Telegraphie und des Radio kaum mehr möglich ist.

Ich brachte schlecht und recht unsere selbstgenügsame Schiffsfamilie in mein Skizzenbuch. Sutor, über die Barre gelehnt, Falstaff-Wagner, den Bootsmann, den Koch. Daran nahmen die einzelnen teil wie die Kinder.

Die Messe war das Innere eines Würfels mit eisernen Wänden. Man mußte sich zwischen Wandbank und Tisch hineinschieben, wenn man bei Frühstück und Abendbrot seinen Platz einnehmen wollte. Das Essen war gut. Es wurden nach Hamburger Sitte auf der »Livorno« nur immer gewaltige Fleischstücke, Kalbskeulen oder Roastbeefs, aufgetragen und dabei viel Tee, weniger Bier und Wein genossen.

Es ging nicht anders, ich hatte mich in diesem enggedrängten Kreis wieder als Erzähler aufzutun. Auf das Umgekehrte war ich gefaßt: nämlich Sindbadberichten meiner weitgereisten Seeleute mit offenem Munde zuzuhören. Aber sie wußten nichts und wollten nichts wissen von dem berühmten Fliegenden Holländer oder vom Klabautermann, und so konnten und wollten sie nichts erzählen, sondern nur hören wollten sie. Nie, außer dem kleinen Gustav und der kleinen Ida Krause vor dem Ofenloch im Souterrain des Gasthofs zur Krone und den Kindern von Lohnig im Heu, hatte ich ein so unersättliches Publikum.

An der kleinen Messetafel sprach außer mir nur der Kapitän. Der Erste Steuermann, Maschinist Wagner oder der Bootsmann taten den Mund nur auf, wenn der Kapitän das Wort an sie richtete. Aber dieser handelte nur im Sinne aller, wenn er nach und nach meine ganze Lebensgeschichte aus mir herausholte.

Meine Anmaßlichkeit störte diese begründet in sich beruhenden Menschen nicht. Das zusammengenaschte Wissen, das ich besaß, nahmen sie als ein gediegenes hin. Ich war ihnen ein Wundertier, das sie nirgendwo einordnen, sich überhaupt nicht verständlich machen konnten.

Ich glaube nicht, daß ich mich groß machen wollte, wenn ich von dem Glücksfall erzählte, der uns drei unbemittelten Brüdern drei jugendliche Schwestern beschert hatte, die ebenso schön wie gut waren und überdies die Macht besaßen und ausübten, uns aus bedürftiger Enge zu heben in eine gesicherte Unabhängigkeit. Aber gerade das war es, worüber diese einfachen Seelen immer ein langes und breites erfahren wollten.

Es ist nicht leicht, die psychischen Ursachen meiner Hingerissenheit von damals, mit der ich andere hinriß oder wenigstens in Staunen versetzte, manchmal zum Widerspruch reizte, auszumitteln: große Illusionen beherrschten mich, das wirkliche Glück, das wie ein grünes Meer den köstlichen Segler meines Lebens trug, ließ von ferne glückselige Inseln vor mir auftauchen. Es bleibt ein Wesenszug des Glücks, daß es immer noch höheres Glück erstrebt, dem Unglück darin sogar überlegen.

 

So sprach ich unserer schwimmenden Familie von der geplanten utopischen Kolonie. Ich kritisierte die deutschen Verhältnisse. In Europa ließe sich eine Idealgemeinschaft von Menschen nicht durchführen. Wir, sagte ich, meine Freunde und ich, litten an Kulturmüdigkeit; wir dächten nicht daran, uns in der seelenlosen Staatsmühle zermahlen und zermalmen zu lassen.

Wollte man diese und andere leidenschaftliche Äußerungen etwa als unbedacht oder unvorsichtig auffassen, so würde man ihnen nicht gerecht werden. Ich war ein Rebell, sie bedeuteten schlechtweg Rebellion. Nach dieser Ausfahrt, mit der Luft des Weltmeers in den Lungen und unter den Flügeln, statteten sich meine stillen Gedanken mit einer gleichsam piratenhaften Kühnheit aus. Salzluft, die, wie es mir beim Atmen schien, jede Zelle meines Inneren durchdrang, ließ mir jede Wahrheit natürlich, jeden Freimut selbstverständlich, jegliche Kühnheit als geboten erscheinen. »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd' er in Ketten geboren«, jauchzte es in mir, während die Schiffsschraube arbeitete und eine weiße Bahn aufgequirlten, prickelnden Wassers hinter uns ließ und vorn die Flut verdrängt und durchschnitten wurde.

Überhaupt der junge Schiller, ob er auch nie die See erblickte, hatte den kühnen Weltmeergeist, der sich mit den erregenden Salzen der Atmosphäre am reinsten verband.

Ich kritisierte das Christentum, seine Moral, seine Widernatur. Sein Kern, nämlich das, was es in der Bergpredigt lehre: »Wer dir auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die linke hin! Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat!«, bleibe unverwirklicht, dagegen herrsche das »Auge um Auge, Zahn um Zahn« und der Grundsatz, dem, der keinen Rock hat, auch noch das Hemd zu nehmen. Ich kritisierte die Schule, die nicht auf eine harmonische Entwicklung von Körper und Geist hinauslaufe, sondern auf die Verstümmelung beider, um dem Staate Funktionäre zu geben, die gut in den Sielen gingen. Die Kirche sowohl wie das bürgerliche Gesetz habe die Frau entwürdigt und entmündigt, sagte ich. Das hieße aber: der Sohn entwürdige und entmündige seine Mutter. Noch heute gewähre das Gesetz dem Manne der Frau gegenüber das Recht zu einer mäßigen körperlichen Züchtigung.

Meine Reden an den einfachen Kreis in der Schiffsmesse waren ebensowenig von einem praktischen Sinn erfüllt wie die Reden und Handlungen eines Michael Kohlhaas oder eines Don Quijote. Aber diese beiden Gestalten liebte und verehrte ich, und besonders den Don Quijote umgab schon damals in meinen Augen ein Nimbus der Heiligkeit. Hatte ich doch bereits aus dem Roman, der ihn schildert, meine Devise herausgepickt, nämlich: Nimm Kraft aus deiner Schwäche! In der nicht nur ständig überheizten, sondern auch menschlich warmen Schiffsmesse stieß ich nirgend auf Widerspruch. Die Unterbrechung der Monotonie des Seelebens empfand man mit Dankbarkeit.

 

Wieso ich gerade, inmitten dieses Schiffsidylls und auch sonst unterwegs, statt schweigend zu lernen, mehr und mehr in Harnisch, und zwar in den donquijotischen Harnisch, hineingeriet, weiß ich eigentlich nicht. Ungerufen und ungewollt kamen mir allerlei neue Gedanken. Goethe und Schiller, sagte ich, zusammengenommen hätten zwar etwas wie eine neue Reformation in Deutschland eingeleitet, aber ein zweiter Luther fehle doch, und man müsse den Himmel um ihn angehen. Es käme gar nicht immer an auf die Leute mit praktischem Sinn – ich polemisierte noch immer gegen Weber-Rumpe innerlich –, selbst Luther, erklärte ich, habe zunächst keinen praktischen Sinn besessen, ebensowenig wie Don Quijote. Ja, selbst Jesus hatte keinen praktischen Sinn.

Halbe Nächte hindurch wurde in der Schiffsmesse zwischen dem Kapitän, Maschinenmeister Wagner und mir disputiert. Ich schüttete nach und nach alles aus, was sich an geistigen Elementen unverbunden in meinem Inneren eingenistet hatte. Der Pendel schlug vom extremsten Felix Dahn bis zu Perikles und Pheidias. Ich beschwor Karl den Großen herauf, mit dessen Schatten ich mich ja in Jena vertraut gemacht hatte.

Der Kapitän war ein Niedersachse, der Maschinenmeister ein Thüringer. Karl der Große, sagte ich, habe die germanische Kultur und somit auch die ihre zerstört.

Sie horchten auf, sie wollten mehr hören. Ich erzählte ihnen die Geschichte von der Vernichtung der Sachsen. Sie waren empört. Ja, Karl der Große hatte das römische Christentum mit Feuer und Schwert eingeführt. Wieviel er an deutschen Sprach- und Seelenwerten zerstört hatte, könnte man überall und zum Schluß bei den Brüdern Grimm bestätigt finden.

Übrigens las ich in der Messe einmal wieder das sehr stark verwelkte »Hermannslied«, trug auch wiederum das Vermächtnis meines Vaters, den »Taucher«, vor, was zuletzt in der Ackerfurche unter der Landarbeiterkolonne geschehen war.

 

Unter solchen Beschäftigungen und langen, mit Schachspiel verbrachten Mußezeiten auf der Kommandobrücke waren wir mit unserer Stockfischladung durch den Kanal gelangt, hatten mit ziemlicher Mühe den Golf von Biskaya überquert, waren, die portugiesische Küste in Sicht, längs der iberischen Halbinsel hingelaufen, sahen bei Lissabon die Schlösser Mafra und Cintra ganz nahe auf ihren Gipfeln im heitersten Sonnenlicht, erhielten Besuch von zwitschernden Singvögeln, gingen zwischen Ceuta und Gibraltar in das Mittelmeer, sahen bezaubernde Villen, die frühlingshafte afrikanische Küste entlang, mit schimmernd weißen Gebirgen dahinter, und eines Morgens fuhr ich aus dem Schlaf, vom Stillstand der Schiffsschraube aufgeweckt.

Ich zog mich an und ging an Deck. Im Morgengrauen, das kaum begonnen hatte, lagen wir wartend vor dem Hafen von Malaga, aber so nahe, daß wir die Stadt und die Hafen- und Küstenanlagen gut überblicken konnten. Bei klarem, noch sternbedecktem Himmel herrschte eine beinahe berauschend süße Wärme und Frühlingsluft. Langsam, langsam wuchs das Licht, und ich hatte Zeit, mit mir und meinem Schicksal allein zu sein.

Ist Erwachen tägliche Neugeburt, so ist der Tag nicht nur ein Sinnbild, sondern eine Zusammenfassung des Lebens, das Einschlafen abends der tägliche Tod. Über die Schwelle jedes Morgens aber tragen wir das Ganze unseres Lebens mit uns in den Tag hinein, um es abends, um den Inhalt eines neuen Lebens vermehrt, wie eine Last von uns zu werfen.

Dieses Ganze des Lebens, das jeder Tag enthält, wird uns nicht immer gleicherweise bewußt. Das, was wir Schlaf nennen, übt schließlich auch im Wachen, wie das Steigen und Fallen des Grundwassers im Erdboden, seine Macht.

Ich hatte in Hamburg das Land verlassen. Acht Tage Bewegung, Rüttelung und Schüttelung waren plötzlich zum Stillstand gelangt. Im Augenblick empfand ich nur Hamburg und Malaga, Anfang und Ende der Bahn. Das Ende aber war überaus neu und stellte mich in eine Welt, die ich nur aus romantischen Bildern und Träumen kannte.

Ich war gerührt. Obgleich meine Augen nicht tränten, nur brannten, saß mir – ich mußte schlucken – der harte Schmerz des Weinens unter der Halsgrube. Die schwindenden Sterne, das blasse Meer, der graue Duft über der orientalisch südlichen Stadt, verbunden mit den laulich duftenden Wonnen, die man atmete, prägten mir das stumme Staunen über ein Wahrgewordenes ein, an das ich eigentlich nicht geglaubt hatte. Warum würden mein Vater und meine Mutter sterben, ohne dies je erblickt und erlebt zu haben! Weshalb war Mary nicht an meiner Seite und genoß dieses wunderbare Erwachen nicht mit? Eine Art Verzweiflung, durch die Macht der Schönheit erzeugt, kam über mich. Könnte man wenigstens solche Offenbarungen festhalten und irgendwie mitteilen! Mary lag und schlief in dem fernen Hohenhaus: möchte sie etwas von meinem Wachtraum empfinden! wünschte ich.

Aber nein, sie verschlief die Zeit. Es ist furchtbar, wieviel Schönheit verschlafen wird!

Ich lachte, als sich der Strand wie das allerzierlichste, bunte Puppentheater zu beleben begann. Reihen von buntgezäumten Eseln trugen zwischen Gemüsekörben die farbig geschmückte spanische Bäuerin.

Ich kannte das von den Rouleaus im Gasthof zur Preußischen Krone, an denen ich mich jeden Morgen ergötzt hatte.

Die Eselchen hatten kleine Schellen umgehängt, deren feiner Ton über das nun mehr und mehr ergrünende Wasser hörbar ward.

Ich wüßte nicht, was mit diesem ersten Aufgehen des europäischen Südens in mein Leben sich vergleichen ließe.

Ich hatte lange Zeit, gerührt, ergriffen, bewegt, erschüttert zu sein, bevor wir in den Hafen der fremden Welt einfuhren, wo dann, kaum daß wir festgemacht hatten, das Deck von einer brüllenden Menschenmenge erobert ward.

Die nackten Kalkformationen der Ufer sowie das blinkende Wasser warfen blendende Helle aus, die dunkle Gläser wünschbar machte.

Die »Livorno« gab den olivenfarbenen Piraten keine Ausbeute, da der einzige Passagier, den sie mit sich führte, sie ohne Gepäck und an der Seite des Kapitäns verließ.

 


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