Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zehntes Kapitel

Lesen habe ich nicht in der Schule gelernt, sondern am Robinson Defoes und Coopers Lederstrumpf. Gott, dem ich dafür dankbar bin, hat sich einer Frau Metzig bedient, um mir beide Bücher als Geschenke ins Haus zu tragen. Sie war mit den Straehlers als geborene Schubert verwandt, weil ihr Bruder die zweitjüngste Tochter des alten Brunneninspektors, Julie Straehler, geheiratet hatte. Er war als Oberamtmann Schubert, in der Familie als Onkel Gustav bekannt.

Durch Robinson und Lederstrumpf haben meine Träume und meine Spiele richtunggebende Nahrung erhalten.

Erzählungen bedeuten Träume, mündlich oder schriftlich in Worte gefaßt. Von da ab, als ich am Robinson lesen lernte, wurde ein wesentlicher Teil meiner Träumereien durch Bücher genährt. Wie kommt es, daß ich, der ein mir völlig gemäßes Leben führte, Robinson und Lederstrumpf mit Gier entzifferte und die Lebensform bald des einen, bald des andern Helden leidenschaftlich herbeiwünschte, und weshalb verfallen diesen Gestalten alle gesunden Knaben so wie ich?

Auch hier ist Kampf, aber nicht mit Buchstaben, Bibelsprüchen und Rechenexempeln, sondern mit der Natur und in der Natur. Und nach der Vervollkommnung, nach der Vollendung dieses natürlichen Zustands sehnte ich mich trotz allem, was mich an meine Umgebung fesselte.

Und jeder gesunde Knabe sehnt sich danach.

So weit, daß ich wirklich geflohen, eine Seestadt zu erreichen gesucht und mich auf ein Schiff geschlichen hätte, trieb ich es nicht. Aber ich habe es oft erwogen. Dabei bestand zwischen mir, meinen Eltern und meinem Elternhause die allerinnigste Verbundenheit.

Und nicht nur das, sondern ich konnte mir manchmal gar nicht denken, daß es etwas andres als Salzbrunn mit seiner Säulenhalle, seiner Heilquelle, seinen paradiesischen Kuranlagen und dem Gasthof zur Krone mitten darin in der Welt überhaupt noch geben könne.

Das Verlockende an Robinson war sein völlig verlassenes, völlig einsames Leben in der Natur, ohne Menschen oder Ansprache, wo niemand ihn belehren, zurechtweisen, seinen Willen und seine Schritte irgendwie gängeln konnte. Lag darin die höchste Erfüllung einer Wesensneigung in mir, so sah ich ein anderes Vorbild in der Gestalt des Lederstrumpfs: seine milde Menschlichkeit, verbunden mit ruhiger Furchtlosigkeit, seine nie fehlende lange Büchse dazu, sein passiver Mut während der indianischen Folterung. Zähigkeit im Erdulden von Strapazen und überall, auch im Essen und Trinken, Anspruchslosigkeit: ich liebte ihn bis zur Begeisterung.

Trotzdem versetzte ich mich bei unseren Knabenspielen, und auch wenn ich allein war, seltener in seine Person hinein als in die seines Freundes, des edlen Häuptlings der Delawaren, Chingachgook. Immer wieder durch Jahre identifizierte ich mich mit dieser Gestalt. Auf Federschmuck und auf äußerliche Fixfaxereien habe ich dabei keinen Wert gelegt, aber ich schwang einen hölzernen Tomahawk.

Mein ältester Bruder Georg nannte mich, wenn er von Breslau in die Ferien kam, nie anders als Chingachgook, wobei allerdings auch doppelte Ironien und Humore, nämlich bei ihm und bei mir, zutage kamen.

Gleichsetzungen wie die meinen mit Chingachgook würde ein moderner Forscher dämonisch nennen: das Dämonische stelle im Gegensatz zu den durch geistige Erfassung gewonnenen Tatsachen das aufbauende Leben dar. Nach eigener Erfahrung glaube ich, daß es so ist. Und so darf man es nicht mit dem Verstande störend schädigen, da es, wie weiter gesagt wird, nur in seinen Auswirkungen zugänglich sei. Es war bei mir mit stürmischen Ausbrüchen der Affekte verbunden. Und ein solcher Affekt, heißt es weiter, sei eine naturnotwendige Erschütterung, um das Dämonisch-Geniale zu wecken. Bekämpfe man im Knaben das Dämonische, schließt der einsichtsvolle Mann, so bekämpft man zugleich das Geniale im Kinde, das auch getötet werden kann.

Nun also, der göttliche Wahnsinn des Dämonischen hat mich damals berauscht, ich lebte im Zustand einer gesunden Besessenheit. Meine Seele hätte sich überhaupt nie entbrannt und ins Leben gerufen, wenn nicht eben dieses Dämonische die Natur und mich ununterbrochen verwandelt hätte. Ohne bewußte Metamorphose meiner selbst und meiner Umgebung gab es um jene Zeit für mich kein höheres, also kein eigentliches Sein. Ein Junge, der meinen Namen trug, bedeutete nichts. Aber da stand ich als Inkarnation meiner eigenen Idee, als Chingachgook: alles andere an mir hatte ich wie eine überflüssige Schale weggeworfen. Ein so beseelter und betätigter Traum, sagt der Philosoph, habe das große Ganze nur zum Hintergrund.

 

Selbstverständlich, daß es aus solchen Träumereien hie und da ein Erwachen gab. Schon die Dorfschule sorgte dafür. »Ihr Bösewichter!« war Lehrer Brendels tägliche Anrede, wobei ihm die Augen übergingen vor Wut. »Ihr Bösewichter! Ihr Taugenichtse!« klingt es mir noch heut im Ohr.

Und wirklich, diese Bezeichnung als Taugenichts war bei mir in bezug auf die Schule gerechtfertigt. Ich konnte nicht leben ohne Licht, Luft und freie Natur und ohne das einsame, robinsonale Leben und Selbstbestimmungsrecht in alledem. Schularbeiten haßte ich.

Hie und da kam, wie gesagt, ein Tag des Erwachens, der Besinnlichkeit. Eines solchen erinnere ich mich.

Einmal war Alfred Linke, der Apothekerssohn, nach seiner wohlerzogenen Art mit mir spazierengegangen. Am Gartentor seines Elternhauses schlug er mir vor, auf ihn zu warten, er habe Klavierstunde. Mit Vergnügen sagte ich zu.

Hingestreckt lag ich am Gartenzaun, nichtstuerisch, meinen Grashalm kauend, als das Klavierspiel Alfreds, der ein virtuoses Talent besaß, und die korrigierende Stimme des Lehrers herausschallten. Da fiel mir die eigene Zeitvergeudung aufs Herz. Was tat ich, während er sich so eifrig fortbildete?

Ich rechne es unter die Träumereien, wenn ich mir wieder und wieder im Büro meines Vaters einige Bogen weißen Papiers erbat, um sie mit Bleistiftstrichen nach und nach zu bedecken und zu verderben. Ich hatte am Schluß der Bemühung jedesmal ein Gefühl des Mißmuts, ja der Enttäuschung zu überwinden, dem ähnlich, das ich als kleines Kind vor dem Berge welken Wiesenschaumkrauts gehabt, das ich in Menge ausgerupft hatte.

Das trübe Ende war zu einem seltsam gespannten, seltsam erregten Anfang die Kehrseite. Irgendwie wußte ich, daß man die verlockende weiße Fläche des Papiers mit sinnvollen und bedeutsamen Zeichen, sei es in Bild oder Buchstabe, bereichern kann. Und so hoffte und wünschte ich, sie zu bereichern. Den Gedanken, meine Umgebung, voran meine Eltern, in Staunen zu versetzen, kann ich gehabt haben, aber der eigentlich erste Beweggrund war er nicht, vielmehr wollte sich, wie ich glaube, ein noch dumpfer künstlerischer Trieb, der übergroße Ziele hatte, vorzeitig Genüge tun.

Ich muß einer kleinen Unbill gedenken, die ich von meinem Vater erfuhr, als ich wieder einmal in sein Schreibzimmer kam und um schöne weiße Papierbogen bettelte. Hingenommen und grübelnd über Geschäftsbüchern, gab er mir allerdings das Gewünschte, aber als ich es aus Versehen fallen ließ, mir dann auch der Bleistift entfiel, weil ich ängstlich und unruhig wurde, ward ich unsanft beim Kragen gepackt und mit einigen Klapsen hinausgeworfen.

 

Im großen ganzen habe ich den Schauplatz meines Lebens immer genauer in meinen Geist träumend und meditierend eingebaut, ihn unbewußt-bewußt, ich glaube in einem überraschend schnellen Tempo, erweitert. Die Himmelskuppel mit Gottvater wölbte sich über mir, der dreieinige Olymp hatte aber darin noch keine Stätte.

Wo ist nun dieser Olymp? Wie ist die religiöse Welt überhaupt in meine Träume und Meditationen eingedrungen?

Von den beiden Schwestern meiner Mutter, Tante Auguste und Tante Elisabeth im Dachrödenshof, ging ein weltverneinendes Wesen aus, etwas Kryptenhaftes von ihren Wohnräumen. War ich in ihre Nähe geraten und überhaupt in den Dachrödenshof, so riß es mich fast immer fluchtartig in die Sonne hinaus. Tholuck, Strachwitz, Thomas a Kempis und der Geist des Grafen von Zinzendorf, die hier herrschten, müssen eine Aura verbreitet haben, in der für mich nicht zu atmen war.

Im Gasthof zur Krone, insonderheit in der Familie, also bei uns, herrschte ein andrer Geist. Kein Wort von einer Verstoßung aus dem Paradies, von Erbsünde oder Sünde überhaupt, von drohendem Fegefeuer, nun gar einer Hölle, ging je aus dem Munde von Vater und Mutter hervor. Es waren nur wesentlich irdische Dinge, mit denen sie sich ernsthaft abgaben.

Dabei war in meinem Vater, in meiner Mutter eine tiefe Frömmigkeit. »Geh mit Gott!« oder »Mit Gottes Hilfe!« hieß es bei allerlei Unternehmungen, deren guten Ausgang man wünschte.

Es blieb meiner Schwester Johanna vorbehalten, ihre reine und gute Absicht vorausgesetzt, mich mit dem Gedanken an Sünde und Sündenschuld zunächst zu belasten. Sie wandte zum Beispiel den Ausdruck Lüge auf die meisten meiner heiteren Phantastereien an und behauptete dann, daß, wenn ich wirklich gelogen hätte, mich der Blitz beim nächsten Gewitter erschlagen würde. Dadurch hat sie mir eine lang quälende Gewitterfurcht ins Blut gebracht, denn daran, daß es eigenwillig strafende Götter geben konnte, zweifelte ich als dämonischer Schöpfer vieler Dämonen nicht.

Als ich die Fülle meiner Sünden in meinem Gewissen unendlich vermehrt hatte, tröstete mich Johanna wieder in meiner Gewissensnot, indem sie erklärte, daß Jesus Christus, Gottes Sohn, sofern man bereue, alle Sünden auf einmal vergebe, am Konfirmationstage im Genuß des Abendmahls.

Durch den unverantwortlichen, kindisch-mutwilligen Erziehungsversuch einer kindhaften Schwester wurde ich so in das kirchliche Wesen gleichsam beiläufig eingeführt.

Wenn man mich also gelegentlich in Grübeleien versunken sah, konnte es sein, daß ich grade mein Sündenregister nachprüfte.

Das Kind bedarf keines Heilandes, damit ihm Steine zu Brot werden. Ihm wird auch ohne die König Midas gewährte Begabung alles, was es anfaßt, zu Gold. Aber mein leidenschaftliches Leben, meine seligen Energien, in denen sich ein ernster Werdeprozeß doch stets halb bewußt machte, erlitten durch solche Eingriffe bedeutsame Trübungen. Fortan lebte ich gleichsam nur noch in einer sorgenvollen Glückseligkeit.

So, wie sie jedoch war, entsprach sie mir, und ich dachte nicht anders, als daß sie mir durch das Leben treu bleiben würde.

Habe ich darin recht gehabt?

 


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