Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Siebenunddreißigstes Kapitel

Im Sommer fiel ein dunkler Schatten weniger auf mich als auf Mary. Hohenhaus war inzwischen verkauft worden, Frida Thienemann und Olga hinunter nach Kötzschenbroda gezogen. Da kam die Nachricht, Frida sei erkrankt, die Krankheit sei ernst, hieß es nach einigen Wochen, und schließlich trat Mary die Reise zu einer hoffnungslos dem Tode geweihten Schwester an.

Ich war egoistisch genug, sie nicht zu begleiten.

 

Dagegen kam mir mit wunderlicher Plötzlichkeit die Idee, die Abwesenheit meiner jungen Frau zu einem Ausflug zu benutzen. Und plötzlich stand Schlesien, meine alte Heimat, die ich mit allem, was sie barg, nahezu vergessen hatte, wie ein Wunder vor mir auf: das Wunder daran war meine Jugend, meine Vergangenheit. Das zweite Wunder: man konnte dorthin, also in seine Jugend, seine Vergangenheit, zurückreisen. Gedacht, getan: ich holte Schmidt aus der Wohnung seines Bruders, des Postsekretärs, in Berlin. Gern genug war er bereit, die Reise mitzumachen, und bald danach fuhren wir in heiterster Stimmung vom Görlitzer Bahnhof ab.

In Hirschberg stiegen wir aus dem Zug. Wir gingen bis Bad Warmbrunn zu Fuß. Dort im Preußischen Hof nahmen wir unseren ersten Halt. Ein Gewitter hatte uns überrascht, kurz, mit jähen Schlägen, wie sie dort gelegentlich vorkommen. Aber wir waren nicht naß geworden. Im Unterstand einer kleinen Gaststube warteten wir den Regen ab. Ein recht ängstlicher Bürger ging unter Blitz und Donner in diesem Raum auf und ab. Als in der Tat das Wasser in rauschenden Stürzen draußen auf die Straße schlug, sagte er: »Das ist wolkenbruchartig!« und wiederholte: »Das ist ein Wolkenbruch!« Und so ging es, solange der Platzregen dauerte: »Wolkenbruchartig! Wolkenbruch!«

Wir hatten herzlich über die verborgene Angst des alten Männchens gelacht und taten es jetzt unter den Gästen des kleinen Speisesaals, als wir bei einer Flasche Rotwein unser Mittagbrot recht vergnüglich einnahmen.

Hier wurde uns an einem Tisch zwischen anderen Damen und Herren Gustav von Moser gezeigt. Ich bin bei dieser Gelegenheit einem wenn auch für die Zeit charakteristischen, doch äußerst juvenilen Zuge zum Opfer gefallen. Unfaßbar die Überhebung, ja die Verachtung, die ich gegen diesen harmlosen und so überaus liebenswürdigen Lustspieldichter empfand. Freilich waren wir zwei Persönlichkeiten, die gegensätzlicher nicht zu denken sind. Aber was hatte mir Gustav von Moser getan? und was seine talentvollen, allbeliebten Lustspiele? Und was hatte ich demgegenüber vorzuweisen?

Die Wanderung wurde fortgesetzt.

Da war nun wieder das alte Schlesien.

Es bestand wirklich noch mit seinen eigentümlichen, von allem übrigen abstechenden Sprachlauten, seinem vokalreichen, im Munde der Bauern schleppenden Dialekt. Das liebe alte Warmbrunn umgab mich wieder. Ich hatte die Gartentür der Villa Jungnitz geöffnet, wo ich als Knabe mit meinem Vater gewohnt hatte. Der Gärtner sagte, es gehöre den Jungnitzens längst nicht mehr. Da lag das Haus, in dem ich vor den Meinigen beim ersten Frühstück nach dem Genuß der schönen Butterhörnchen halb nackt einen Kosakentanz ausgeführt hatte. Es war noch derselbe Garten, in dem ich zuerst meinen Vater durch den nachgemachten Nachtigallenschlag meiner Kehle in heitere Verwunderung gesetzt hatte.

Von alledem sprach ich mit Schmidt. Ich schilderte ihm jenen wilden Rausch, der mich auf der Straße hinter Buchwald überkommen hatte, als ich erkannte, daß eine entgegenkommende Equipage unsere eigene war und meine sämtlichen Geschwister samt der Mutter beherbergte. Kein Wunder, wenn mich die maßlose Freude ums Leben gebracht hätte.

 

Es war ein Ausruhen, dieses gemeinsame Tafeln und Wandern mit Hugo Schmidt. Die Krankheit von Frida Thienemann hatte für mich nun einmal diese sonnige Kehrseite. Während die arme Frida dem Tode entgegendämmerte, war für mich und Hugo Schmidt das Atmen wohlig und friedevoll. Er sprach von München, von der »Allotria«, dem Hofbräuhaus und den großen Bräugärten, wo die Künstler ihre Bierschlachten austrugen, erzählte von Kaulbach, Lenbach und Piglheim, jenen Malern, die damals hauptsächlich genannt wurden. Josef Block und einige andere Besucher der Breslauer Kunstschule hatten in München ebenfalls Fuß gefaßt. Tragikomisches war davon zu erzählen. Überall spielten Weiber- und Modellgeschichten mit, die sich in München natürlich und ohne Tragik abwickelten. Der junge Boccaccio hätte daran mit uns seine Freude gehabt.

Der klarste Tag führte uns gegen das gewaltig und vielfältig vor uns liegende Gebirge zu, das man auf dem Wege von Warmbrunn nach Hermsdorf von der Schneekoppe bis zum Reifträger und Hochstein überblickt.

Unter der schönen Ruine Kynast traten wir in das enge Bergtal ein, durch das uns Gewässer in steinigem Bachbett entgegenstürzten. In etwa sechs- bis siebenhundert Meter der Talenge liegt Agnetendorf.

Wir nahmen dort unser Mittagbrot, und ich ahnte die fernen Schicksale nicht, die mich dereinst an diesen kleinen Gebirgswinkel binden sollten. Nachmittags erreichten wir den Gebirgsrücken – ich betrat ihn zum erstenmal – und stiegen, nachdem wir uns in der Peterbaude gestärkt hatten, nach dem herrlich-alpinen Spindelmühle ab.

Und nicht wie junge, hitzige, dem Wandersport verfallene Touristen verhielten wir uns nun, sondern wie Leute, die lieber betrachtend in Ruhe genießen.

Wir lebten in einem freundlichen Gasthaus, plaudernd oder auch schweigend nebeneinander, jeder für sich hin auch wohl ins Gras gestreckt, irgendein Buch genießend.

Ich weiß kein Bild, mit dem ich diese quietistische Woche inmitten der schönsten Gebirgsnatur in den Gang meines Lebens einreihen sollte. Sie steht in meinem Gedächtnis inselhaft.

Was sie auszeichnet, ist ein friedliches Seelengenügen, durchgeistigt stiller Daseinsgenuß, den Eros unaufdringlich und rein wie Bergluft durchdringt.

»Heirate nicht!« sagte ich zu Hugo Schmidt, der mir von einer Dame erzählte, die etwas Vermögen besaß und ihm nachsetzte. Sie lebte in England und wollte im Herbst nach Berlin kommen. Ein Sofakissen hatte sie mit Stickereien verziert und einstweilen vorausgeschickt. Ich warnte, ich machte den Diabolus. Schmidt verschwor sich, er lachte, ich brauche durchaus keine Angst zu haben. Dieses resolute Mädchen sei für ihn nicht im geringsten eine Gefahr, sagte er.

Im Frühjahr darauf war er leider verheiratet. Mit dem Tage seiner Hochzeit begann sein schweres Martyrium, das ihm bis zu seinem frühen Tode treu bleiben sollte.

Nach Erkner zurückgekehrt, empfing ich die Nachricht vom Tode Frida Thienemanns. Vier oder fünf Tage später war meine junge Frau wieder daheim, der Schmerz hatte eine neue berückende Schönheit über sie ausgegossen.

Wenn ich Schmidt vor der Ehe gewarnt habe, so galt diese Warnung nur für ihn. Mich selber hat sie gerettet, ja glücklich gemacht.

 

Ich lebte damals in einer durch die Nähe Berlins mit bedingten tragisch großen Phantasmagorie. Trat ich des Abends vor das Haus, so sah ich im Westen bei klarer Luft den Widerschein der Riesin blutrot am Himmel. Das wimmelnde Leben der Weltstadt, das ich ja aus vielen Vigilien kannte, lebte in mir. Mit einer Hellsicht, die vielleicht der eines Fiebernden glich, sah ich die wilden, schmerzlichen Verknäulungen ihres Innern. Was wurde nicht alles aus der drei deutsche Meilen entfernten Stadt an Elend und Jammer ans Ufer gespült! Kein Sommer verging, allein hier in Erkner, ohne daß ein von Fliegen umsummter, behoster und bekleideter Leichnam, meist der eines Selbstmörders, im Forst gefunden wurde.

Das ungeheure Lebewesen und Sterbewesen Berlin, wie gesagt, war mir alpartig gegenwärtig.

Meine Lapplandhunde, Ziu und Fana, gehörten mit in die Phantasmagorie. Das Leichenschauhaus, die Mordkommission, Polizeiberichte und Schwurgerichte spukten und geisterten durch die Vororte. Mordgesindel und Diebesgelichter trieb sich spürbar tags und nachts an der Großstadtperipherie herum, darunter die sogenannten Ballonmützen. Die Wolfshunde gaben mir Sicherheit.

Der Winter wurde uns wohl zu lang. Darum siedelten wir, ich glaube im Januar 87, mit Kind und Kegel nach Hamburg über, das heißt, wir luden uns bei den Eltern ein.

Die Wohnung war eng. Ich schlief auf dem Sofa in der Wohnstube. Romanideen wühlten und spukten in meinem Kopf. Daß ich zu einer ernsthaften Arbeit gekommen bin, glaube ich nicht. Es fehlte zunächst ein Arbeitsraum, ich konnte mich in dem kleinen Quartier nicht absondern.

Außerdem war mein Gesundheitszustand während dieses Flamburger Winters jämmerlich. Um meine Nerven zu beruhigen, verschrieb mir der Arzt Bromnatrium. Ich verlor das Rezept. Ein willfähriger Pharmazeut gab mir, was ich irrtümlich verlangt hatte: Bromkalium, wodurch er mich fast getötet hätte. Nachts überfiel mich rasendes Herzklopfen, so daß ich, in kalten Schweiß gebadet, vor Angst gegen die Wände stieß.

Ich litt an schrecklichen Magenschmerzen. Manchmal wand ich mich qualvoll auf der Erde, als ob mich jemand unter den Brustkorb getreten hätte. Aufrecht zu bleiben, wenn dieser Anfall kam, vermochte ich nicht. Ich schlief nicht im Bett. Gustav Jäger in Stuttgart hatte einen dicken Wollsack konstruiert, der um den Hals geschlossen wurde.

Nach einiger Zeit brach bei Ivo, dem Säugling, infolge der damals schlechten Milchverhältnisse der Hansestadt Brechdurchfall aus, was unseren Zustand noch trostloser machte. Der gelbe Hamburger Nebel drang in die Zimmer und legte sich einem auf die Lungen. Vergeblich wehrte sich das Gemüt gegen tagelange, bedrückende Finsternis.

Es waren die Folgen der Breslauer Hungerzeit, die Folgen des Typhus, auf die der freundliche Wärter in Rom auf dem kapitolinischen Krankenhaus mich glaubte vorbereiten zu müssen. Ganz gewiß sah es nicht gut mit mir aus.

Bei alledem unterlag ich den Geboten meines inneren Berufs, meiner literarischen Besessenheit. Zu Studienzwecken nahm ich meine Gewohnheit wieder auf, mich vor Tag vom Bett zu erheben und Streifzüge durch die Stadt zu machen. Man wird wissen, welche Ausbeute einem Beobachter und Betrachter eine Seestadt wie Hamburg zu geben vermag. Wenn ich einerseits Hypochonder war, medizinische Handbücher wälzte, mir die schwersten Krankheiten andichtete, war ich bei meinen nächtlichen Omnibusfahrten in Kälte und Nässe wiederum gegen mich selbst ganz rücksichtslos.

Ein solches Verhalten war widerspruchsvoll. Da aber mein künstlerischer Trieb in mir gleichsam das Leben selber war, so mußte er mich schließlich immer wieder, allen Hindernissen durch Krankheitsbeschwerden und Hypochondrien zum Trotz, fort- und emporreißen.

 

Auf meinen morgendlichen Fahrten nahm ich zuweilen meinen sechs- oder siebenjährigen Neffen Peter mit. Er ist im großen Weltkrieg gefallen. Ich begreife kaum, wie Georg, mein Bruder, und meine Schwägerin mir den Knaben zu so früher Stunde ausliefern konnten, und ebensowenig meine Unbesorgtheit wegen der damit verknüpften Verantwortung.

In Kälte und Nässe stiegen wir von Omnibus zu Omnibus, weite Strecken in Nebel und Dunst in Richtung Altona oder Wandsbek oder St. Pauli zurücklegend. Die kleinen Dampfer über die Innen- und Außenalster wurden benutzt, wo wir, in zugige Kabinen mit anderen Passagieren fröstelnd zusammengedrängt, halbe Stunden lang auf dem Wasser schaukelten.

Der Knabe fand Vergnügen daran, sonst hätte ich ihn nicht mit mir genommen. Ich liebte den Jungen, seine ruhig verständige Art war mir angenehm. Außerdem gab ich einer von meinem Vater überkommenen Neigung nach, mich im Umgang mit klugen Kindern zu verjüngen. Wochenlang hatte ja mein Vater in Warmbrunn und Teplitz im alleinigen Verkehr mit dem Kinde, das ich selbst damals war, sich wohlgefühlt. Die Freude an der Gemeinschaft mit dem kleinen Burschen und der Wunsch danach beruhte jedoch vor allem auch darauf, daß ich durch seine und meine Augen mehr als ohne die seinen sehen konnte.

Der Tag ernüchtert. Die Nachtgewerbe haben für viele starke Anziehungskraft. Aus ihnen gehen auch die meisten Verbrecher hervor, Einbrecher, Diebe, Hochstapler. Die Welt ist gleichsam ausgestorben des Nachts, und die wenigen Lebengebliebenen gleichen den Menschen des Tages nicht. Nicht nur haben sie ein ganz anderes nächtliches Lebensgefühl, sondern sie hängen auch daran wie der Opiumraucher an seinem Narkotikum.

Die Sinne sind reger in der Nacht. Wer wüßte nicht, daß das Wasser lauter rauscht, der eigene Atem, das eigene Herz stärker hörbar wird oder wieviel Licht und phantastisch gestaltende Helle man aus einer kleinen Kerze saugen kann. Der Tag nimmt dem Leben das Wunderbare.

Den Reiz des Neuen, Fremden, Wunderbaren aber suchte ich immer noch. Ich suchte ihn dort, wo sich die Welt des Tagmenschen mit der des Nachtmenschen vermischt und jede der beiden Welten auf die andere übergreift. Hier fanden meine luzideren Sinne ihr Feld der Beobachtung, und hier schnitt mein leidenschaftlich erregter Geist vermeintliche Ernten.

Kinder haben den genialen Zug, sie sehen wesentlich künstlerisch. So sehen heißt, nichts als bekannt voraussetzen. Mein kleiner Neffe vermochte das besser als ich und brauchte dazu nicht wie ich eine Verstandesoperation, weshalb ich mich seiner wie eines Zauberspiegels bediente.

Seine Bemerkungen warfen überallhin schnelle Strahlungen eigenen Lichts, das vieles mit seltsamer Kraft erschloß.

Dafür fand er dann auch überraschend treffende Ausdrücke. So zu sehen, das heißt, zu beleuchten und die sprachliche Prägung des Erkannten zu finden, war – naiverweise bei ihm, bei mir bewußt – unsere gemeinsame Leidenschaft.

 

Im großen ganzen blieb aber dieser Hamburger Aufenthalt wohl das Äußerste an Freudlosigkeit, wenn nicht Trostlosigkeit. Ob ich mit dem Leben davongekommen wäre, weiß ich nicht, der kleine Ivo sicherlich nicht, wenn der Arzt uns nicht Knall und Fall aus Hamburg verwiesen und nach Erkner geschickt hätte. Wir flüchteten also nach Erkner zurück.

Wirklich, wie durch ein Wunder behielt der Säugling in Erkner die erste Flasche Milch, die ihm gereicht wurde. Ja, er war von Stund an gesund.

In Erkner nahm ich mein altes Leben mit Wanderungen und Beobachtungen aller Art wieder auf. Ich machte mich mit den kleinen Leuten bekannt, Förstern, Fischern, Kätnerfamilien und Bahnwärtern, betrachtete eine Waschfrau, ein Spitalmütterchen eingehend und mit der gleichen Liebe, als wenn sie eine Trägerin von Szepter und Krone gewesen wäre. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern einer nahen chemischen Fabrik über ihre Leiden, Freuden und Hoffnungen und fand hier, in nächster Nähe Berlins, besonders auf den einsamen Dörfern, ein Menschenwesen, das sich seit einem halben Jahrtausend und länger unverändert erhalten hatte. Daß es ein geeinigtes Deutschland gab, wußten sie nicht. Davon, daß ein Königreich Sachsen, ein Königreich Bayern, ein Königreich Württemberg bestand, hatten sie nie gehört. Es gab einen Kaiser in Berlin: viele wußten noch nichts davon.

Ich hatte Anwandlungen und Anfechtungen einer patriarchalischen Humanität. Ich quälte Mary, wir sollten das Hausmädchen an unserem Tische essen lassen. Als Mary endlich zustimmte, lehnte das Mädchen ab. So wurde es wenigstens veranlaßt, ihr Mittagessen nicht nach, sondern vor uns einzunehmen.

Solche Marotten mußten sich herumsprechen. Dazu hielt ich die Wochenschrift »Die Neue Zeit«, die den wissenschaftlichen Sozialismus vertrat.

Noch herrschte das Sozialistengesetz. Es war selbstverständlich, daß ich mit alledem den Ortsbehörden verdächtig wurde.

Meinen Roman hatte ich liegenlassen, er verwirrte sich und mich. Ich kam nicht zu Rande damit. Dagegen machte ich mich an kleinere Arbeiten.

Man hörte im Winter das Krachen im Eise der Seen weit über Land und das sogenannte Seegebrüll, das Tönen des Wassers unter dem Eise, »wie Tubaruf nach verlorener Schlacht. Es klang wie dumpfer Titanenzorn, wie Rolandsruf aus geborstenem Horn«. Und die Seen verlangten alljährlich Opfer. Da schilderte ich in einer kleinen Novelle, wie der Segelmacher Kielblock mit seiner Frau und seinem Kinde in einer Mondnacht einbrach und unterging.

Mein literarischer Ehrgeiz war nun brennend geworden. Er stachelte mich zu immer neuen Versuchen an. Ich hatte dem Deutschen Theater mein Drama »Tiberius« eingereicht und mit Dank und freundlichen Worten zurückerhalten. Das aber konnte mich nicht im geringsten entmutigen. Mein literarischer Eifer wurde nur noch heftiger angespornt. Während mein zweiter Sohn geboren wurde, schrieb ich an einer Novelle »Bahnwärter Thiel«, die ich im späteren Frühjahr beendete. Sie wurde von Michael Georg Conrad in München erworben und in seiner Zeitschrift abgedruckt.

Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten.

Die arme Mary hatte unseren zweiten Sohn, wie den ersten, ohne alle ärztliche Hilfe am 22. April 1887 zur Welt gebracht. Nur die Norne aus dem Waldinnern hatte sich wieder eingefunden. Die Mutter, stumm, schweigend, ohne Laut, war ein Vorbild an Tapferkeit. Bei mir im Arbeitszimmer befand sich indessen ein Mensch, ein Jenenser Student, von Carl empfohlen, den ich durchaus nicht loswerden konnte. Er las mir seine Gedichte vor; es war läppisches Zeug, in dem mein Bruder Talent gesehen haben sollte.

Amtsvorsteher und Standesbeamter in Erkner war ein Herr von A., dem ich die Geburten meiner Söhne anzumelden hatte: ein politischer Heißsporn, der überall staatsgefährliche Elemente roch. Ich wurde bei pflichtmäßigen Begegnungen von ihm mit deutlicher Absicht kalt abgetan.

Ich entdeckte im Walde ein Nest von alten Kleidern. Sie mußten von Strolchen stammen, die sich hier umgezogen hatten. Törichterweise und in der Vermutung, dies könnte die Spur eines damals gesuchten Einbrechers sein, machte ich dem Herrn Amtsvorsteher persönlich Anzeige. Wie er das aufnahm, die Geringschätzung, die er meinem Bericht entgegenbrachte, die hochmütige Ablehnung, die er mir zuteil werden ließ, fand in einer Komödie, »Der Biberpelz«, die ich später schrieb, ihren Niederschlag.

Die äußerste Peripherie Berlins wies eine Menge brüchiger Existenzen auf. Ihr Studium bereicherte mich. Diese Bereicherung aber wurde in einigen Fällen durch eine gleichsam handgreifliche und darum schmerzhafte Belehrung herbeigeführt.

Als wir das Haus am Walde gemietet hatten, bat der Besitzer, ein alter, zu Geld gekommener Handwerker, ihn und seine Frau in einigen Zimmern des Dachgeschosses zu dulden, wo man sich ganz bescheiden und eingezogen betragen wollte. Mary war dagegen, ich jedoch hatte nicht das Herz, die rührende Bitte abzuschlagen.

Wir haben in Haus, Hof und Garten Ärger über Ärger davon gehabt.

Eines Tages setzten uns diese ständigen und ständig mißgünstigen Aufpasser fremde Leute in ihre Wohnung hinein, einen verkrachten hinkenden Forstmann, den man wohl einen Forstnarren nennen kann, und seine Frau. Er kleidete sich wie ein Förster, was er wie durch ein Wunder bewerkstelligte, da er nicht eine Faser des grünen Rockes bezahlt hatte. Zu seinen Gewehren und sonstigen Jagdutensilien, die er niemals gebrauchen konnte, war er auf ebendieselbe wunderbare Weise gelangt. In einem Gang nach dem nahen Walde mit seiner baumlangen Lebensgefährtin oder ohne sie, wobei der gestiefelte und gespornte Mann ein Waldhorn umhängte, bestand seine tägliche Tätigkeit. Und so hörte man immer wieder die Mißtöne zwischen den Bäumen hervordringen, die er unermüdlich dem Waldhorn entpreßte. Der üble, nicht unamüsante Mensch und seine aus Riga stammende, ihm bedingungslos hörige Frau hatten sich bald in unser Vertrauen schmarotzt und wurden, da sie das spärlichste Einkommen hatten, von unserer Köchin durchgefüttert.

Der Forstmann führte einen anderen dunklen Ehrenmann bei uns ein, mit dem ich arge Erfahrungen machte. Für mich ein Kursus im Fache menschlicher Schlechtigkeit. Aber ich schweige gern davon.

 


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