Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Fünfzigstes Kapitel

Nach Lederose zurückgekehrt, war ich ein anderer Mensch. Ich lebte auf einer höheren Ebene, zu der mich der Verkehr mit Carl und Ploetz, das Gespräch mit meinem Vater erhoben hatten. Besonders dieses, durch das mir von dem auf Erden höchst verehrten Menschen die Lebensrechte eines Erwachsenen zugebilligt worden waren, wirkte auf meine innere, meine äußere Haltung ein. Als ich freilich in der gewohnten Weise mir selbst überlassen dahinlebte, mich die alte Tretmühle Woche um Woche mehr und mehr abgestumpft hatte, erwies sich die neue Ebene nicht immer als tragfähig. Wie auf einer zu dünnen Eisdecke brach ich wieder und wieder ein und mußte mir zu Gemüte führen, daß die Gefahr des Ertrinkens noch keineswegs überwunden war.

 

Zunächst trug ich meinen Kopf ziemlich hoch. Der Gedanke, eines Tages die landwirtschaftliche Akademie in Proskau zu beziehen, wurde in Sorgau erörtert. Sie sollte mich in das Gebiet tragen, das Carl und Ploetz mit so viel Genuß zu bearbeiten angefangen hatten. Eine Zeitlang hob mich diese Aussicht und ihre Betonung Onkel und Tante gegenüber über die maukige Atmosphäre hinaus. In der Betrachtung meiner Umgebung ward ich eifriger. Sie bekam einen sozusagen naturwissenschaftlichen Beigeschmack. Insbesondere war es der Landmann, dessen Wesensart und Lebensform mich lebhaft beschäftigten. Sein Vertrauen gewinnen war schwer, ja etwas im guten aus ihm herauszubringen, ein Ding der Unmöglichkeit. Die Frauen besaßen mehr Intelligenz, und ihre Freude am Reden bedeutete eine natürliche Aufgeschlossenheit. Was ich auf diese Weise erfuhr, überraschte mich und erweckte in mir einen Drang, auf die meiner Meinung nach verblendete Denkungsart der Dorfbewohner einzuwirken, die gegen so ziemlich alles und alles außer dem engen Kreise bäuerlicher Tätigkeit ablehnend war.

Die Verstrickung in eine Art Demagogie erregte und belebte mich. Ich, der ich vor allem der Belehrung bedürftig war, verfiel dem Zwang, belehren zu wollen. Aber docendo discimus – ich habe auch durch Lehren gelernt.

 

Ich brachte diesmal nach Lederose die Freude am neuen Deutschen Reich, übernommen von meinem Vater, in das ärmliche Gutsleben mit. Das Echo im besten Fall war Gleichgültigkeit. Wenn ich mit übernommenem Enthusiasmus von Bismarck, Moltke und anderen sprach, war entweder ein tückisches Schweigen die Antwort, oder Moltke wurde ein Feigling genannt, der sich immer wohlweislich hinterm Berge gehalten und andere ins höllische Feuer geschickt habe. Da war ein lebhafter, etwas stotternder Gutsarbeiter, der drei oder vier bildschöne Töchter hatte. Er besaß ein kleines Anwesen und stand in Arbeit auf unserem Hofe. Er sprach überstürzt, wenn er das Wort ergriff, und ebenso düster verbittert, wie seine schweigende Miene meist düster verbittert war.

Er hatte im Kriege von siebzig eine Enttäuschung gehabt, aber sie war es nicht, die seiner Feindschaft gegen alles und alles, den Kaiser, das Reich, die Regierung, das Parlament, zugrunde lag. Dazu war diese Feindschaft in dieser Gegend zu allgemein. Immerhin war es ein Fall, der ihn wurmen mußte. Daß dieser cholerische, im Grunde noble Mann nicht log, wenn er erzählte, er habe bei einem Sturm, sechzig und mehr Meter den andern voran, eine Kirchhofsmauer übersprungen, war selbstverständlich: erstens, weil ein solcher Furor ganz seinem Wesen entsprach, und dann, weil er sich übrigens nichts darauf einbildete. Er habe, sagte er, drei oder vier Rationen Schnaps in sich gehabt und sei ungeheuer erstaunt gewesen, als er plötzlich allein auf der Mauer stand. Aber nun hatte ein anderer, den man irrtümlich statt seiner mit dem Eisernen Kreuz dekoriert hatte, den Lohn für dieses heldenhafte Geschehnis eingeheimst.

Übrigens verbreitete sich die Lästerchronik über alles, was mit Regierung und Behörde, mit Kirche und Gerichtsbarkeit zusammenhing. Hier sei alles auf die Bedrückung und Beraubung des gemeinen Mannes angelegt. Ähnliche Urteile hörte man unter den Weibern beim Rübenhacken hin und her gehen. Die Arbeiter riefen sie einander beim Düngerladen oder Garbenreichen zu. Die Siegesfreude, die deutsche Einheit, durch die Reichsfahne dargestellt, der Taumel des Erfolges, kurz alles, was die Lehrer in den Schulen, das Bürgertum und einen Teil des Adels begeisterte, hatte hier nur stille Wut und dumpf entschlossenen Haß ausgelöst. Diese Volksseele ließ sich durch nichts erweichen.

Diese Paganen, denen man vielfach scharfen Verstand und durchdringenden Blick nicht absprechen konnte, waren auch religionsfeindlich, steckten im Heidentum. Man hätte ihnen, das spürte man instinktiv, mit Jesus Christus nicht kommen dürfen. Anteil nahmen sie höchstens insofern an ihm, als sie feststellten, wie wenig das Leben gewisser Pastoren seiner Lehre entsprach. Hier war ihnen besonders der Jenkauer Pfarrer, genannt Jenker Pforr, anstößig. Er war Witwer und hatte neben seiner Hausdame Liebschaften. Er lebte üppig, nicht nur, weil seine Pfarre eine der fetteren war, sondern weil er mit Glück spekulierte und so ein privates Vermögen erworben hatte. Dieser Mann ahnte nicht, daß abertausend Augen ihn scharf und feindlich beobachteten, vor denen ihn von morgens bis abends und noch mehr von abends bis morgens keine noch so dicke Mauer zu verbergen vermochte.

Dies alles, ich weiß nicht wieso, schmerzte mich. Von der erbitterten Feindschaft aller dieser Menschen gegen die andere Schicht, der auch der gütige Onkel Schubert und ich angehörten, hatte ich nichts gewußt. Da Knechte, Mägde, Tagelöhner und Tagelöhnerfrauen ihre Arbeit nicht freiwillig, sondern durch die Not gezwungen mit knirschendem Ingrimm verrichteten, lebten sie ja in Sklaverei. Die Sklaverei war nicht abgeschafft, ich wollte das aber im Grunde nicht Wort haben. Unzählige Fragen, die in mir aufstiegen und die ich zunächst nicht beantworten konnte, vermehrten meine innere Unruhe. Das große Unbehagen, in das mich meine Entdeckung versetzte, verlangte irgendeine Linderung. Ich glaubte sie darin zu finden, daß ich nach Kräften versöhnlich wirkte. Mein Bemühen, die verhaßte obere Schicht als notwendig, ja verdienstlich hinzustellen, fruchtete nichts. Diese sturen und harten Köpfe wollten im Grunde keine Wissenschaft, weder die niederen noch die höheren Schulen, ja überhaupt die Städte nicht gelten lassen. Da wohnten für sie nur unnütze Fresser und Faulenzer.

Bismarck, Moltke und der Kaiser, hieß es, täten für die armen Leute nichts. Den Eltern würden die Kinder, das heißt die Arbeitskräfte, genommen, und diese müßten sich drei Jahre lang um nichts und wieder nichts beim Militär kujonieren lassen und abrackern. Der Reichstag bestehe aus einem Haufen von Betrügern und Nichtstuern. In dieser Art, die Welt zu betrachten, die vaterländischen Dinge zu beurteilen, herrschte völlige Einigkeit, und niemand war davon abzubringen.

Man hatte mir »Menschenschinder!« nachgerufen. Ich mußte erkennen, daß in den Augen dieses Volkstums jeder Gutsbesitzer, jeder Bürger einer war, ohne daß eine solche Verblendung auf demagogische Umtriebe zurückzuführen gewesen wäre. Auch für Agitatoren, die sie ebenfalls für Betrüger erklärt hätten, waren sie völlig unzugänglich.

In dem Bestreben, sie in versöhnlichem Sinne zu beeinflussen, in der natürlichen Neigung für sie und in dem Wunsch, ihr Fassungsvermögen zu ergründen, sprach ich eines Tages einer Arbeitskolonne, die ich im Feld zu beaufsichtigen hatte – es waren ältere Männer, Weiber und Kinder darin vertreten –, den »Taucher« von Schiller vor. Hier endlich kam die Stunde zu Ehren, in der mir mein Vater vor Jahren diese Ballade eingeprägt hatte. Ich konnte mich überzeugen, daß sie von Anfang bis zu Ende mit Spannung gehört und verstanden wurde. Ihr Inhalt lief noch tagelang während der Arbeit von Mund zu Mund. Der Edelknecht war der Liebling aller geworden. Zur Beschimpfung des Königs, der den Becher zum zweitenmal ins Meer geworfen hatte, mußte der herrschende Dialekt die allerkräftigsten Ausdrücke hergeben. Es war schön, zu sehen, wie die Augen dieses oder jenes lebhaften alten Weibchens funkelten, und kluge Bemerkungen aller Art aufspringen zu hören, die bewiesen, welche Macht die unsterbliche Dichtung auf diese gesunden Gemüter ausübte.

Ich weiß seitdem, daß der Durst nach dem Schönen in den meisten unverbildeten Menschen verborgen ist.

Beiläufig sei gesagt, daß unter diesen Leuten, die täglich elf Stunden mit gekrümmten Rücken Rüben hackten oder eine andere Arbeit taten, die Weiber fünfzig Pfennige, die Männer eine Mark Tagelohn erhielten, einen Lohn, bei dem selbst die christliche Seele meines allgütigen Onkels Schubert nichts zu erinnern fand.

 


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