Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Vierzigstes Kapitel

Es ist selbstverständlich, daß ein Verfolgen des eignen Lebensganges durch fünfundzwanzig Jahre, wie hier, Stückwerk bleiben muß. Seine sprachliche Darstellung um so mehr. Die stärksten unserer Erinnerungen werden aneinandergereiht, darunter jedoch liegt das eigentliche Wachstum unsichtbar, liegt das Unbewußte. Die Reihung selbst geschieht sozusagen auf dem Faden der Zeit. Könnten die darauf gereihten Gegenstände nach Art von Perlen, Steinen und allen Arten von Früchten sichtbar gemacht werden, so würde die Kette sehr ungleich sein und einen harmonischen Anblick nicht abgeben.

Dies ist auch auf meinen Rückblick zutreffend.

Es kommt hinzu: wir dürfen das Nacheinander dieses Werks als Kette nicht ansprechen. Das Heute ist! das Morgen erwarten wir! das Gestern ist tot! es ist gewesen. Wir leben ja schließlich nur immer einen Tag, den der Gegenwart.

Ich sage das, damit uns die vielen, scheinbar nicht zu vereinenden Gegensätze, die Widersprüche und Scheingewinste eines Lebens nicht allzusehr anfechten.

Durch einen Querschnitt werden die Jahresringe eines Baumes, wird also sein Alter festgestellt. Für den Menschen und insonderheit dessen Geist fehlt in diesem Betrachte jede Möglichkeit.

 

Georg Büchners Werke, über die ich im Verein »Durch!« einen Vortrag gehalten habe, hatten mir gewaltigen Eindruck gemacht. Das unvergleichliche Denkmal, das er nach nur dreiundzwanzig Lebensjahren hinterlassen hat, die Novelle »Lenz«, das Wozzeck-Fragment hatten für mich die Bedeutung von großen Entdeckungen. Bei dem Kultus, den ich in Hamburg sowohl wie in Erkner mit Büchner trieb, kam in meine Reise nach Zürich etwas von der sakralen Vergeistigung einer Pilgerfahrt. Hier hatte Büchner gewirkt, und hier war er begraben.

Ich kannte die Abbildung seiner Grabstätte. Sie befand sich in freier Natur, nicht auf einem Kirchhofe, am Zürichberg. Bald nach der Ankunft hatte ich den »Epikurischen Garten« in meinen Kultus eingeweiht, und wir waren an Büchners Grab gezogen. Der meine war wohl seit Jahren der erste Kranz, den jemand hier niederlegte.

Georg Büchners Geist lebte nun mit uns, in uns, unter uns. Und wer ihn kennt, diesen wie glühende Lava aus chthonischen Tiefen emporgeschleuderten Dichtergeist, der darf sich vorstellen, daß er, bei allem Abstand seiner Einmaligkeit, ein Verwandter von uns gewesen ist. Er ward zum Heros unseres Heroons erhoben.

Das Grab Georg Büchners wurde für unseren Kreis, die werdenden Forscher und werdenden Dichter, ein ständiger Wallfahrtsort.

Unter den Dichtern hatte Karl Henckell bereits die volle Reife erlangt. Er schuf im Sinne Herweghs Gedichte mit erstaunlicher Leichtigkeit. Ihm war wirklich die Gabe des Worts und des Reims in den Schoß gefallen.

In den »Modernen Dichter-Charakteren« vertreten, hatte er deren zweite Einleitung geschrieben. Auf den Dichtern des Kreises, den dieses Buch vereine, schrieb er da, beruhe die Literatur und die Poesie der Zukunft, eine bedeutsame Literatur, eine große Poesie. »Die Geister erwachen«, hieß es mit Hutten; der Geist des Künstlers wiege mehr als das Werk seiner Kunst.

Henckell schien unkompliziert und war überaus gutmütig. Frank Wedekind, dessen Sarkasmus zuweilen beißend war, mokierte sich über die Langeweile, die Henckell ausstrahle.

Um so überraschender, um so naturhafter sprangen fertige Gedichte aus ihm, die der leidenschaftliche Atem sozialpolitischen Kampfes erfüllte.

Wir waren Wissenschaftler und Dichter. Politische Agitatoren in irgendwelchem Sinne waren wir nicht.

 

Das waren am Ende doch wohl die Russen, weiter oben am Zürichberg. Sie hungerten bei Zigaretten und Tee und führten nächtelang ihre Debatten. Aber wenn auch Berührungen ohne allzu große Reibung stattfanden, blieb uns das russische Wesen letzten Endes doch wesensfremd. Die Eudämonie, in der wir, mit Platon und Epikur, das höchste menschliche Ziel sahen, lag damals in einem gewissen Sinne über uns. Schlichthin gesagt, fühlten wir uns zu wohl, um uns in einen finsteren politischen Dogmatismus irgendwie einzulassen.

 

Ein Dichtwerk, das weiterhin auf uns von größtem Eindruck war, hatte den Amerikaner Walt Whitman zum Verfasser und trug den deutschen Titel »Grashalme«. Nicht zuletzt durch unsere Begeisterung hat es dann seinen Weg gemacht und ist in einer herrlichen Übertragung in den Bestand unserer Literatur übergegangen.

Versuche ich, mir die innere Lage deutlich zu machen, in der Bruder Carl sich damals befand, so komme ich zu dem Schluß, daß er wohl damals von den beiden Parolen – hie Wissenschaft! hie Dichtkunst! – zerrissen wurde. Aber den Mut, der Wissenschaft und praktischen Zielen zu entsagen, hatte er noch nicht. Ebensowenig den Mut zur Kunst und den Glauben in dieser Beziehung an sich. Aus diesen Gründen war er vielleicht nicht so glücklich wie wir, weil innerlich ringend und disharmonisch.

Unser Leben im ganzen, unser soziales Mitgehen, unsere Verbundenheit mit gewissen utopischen Strömungen, lag ihm durchaus in keinem Sinn. Er ist niemals, soweit ich es überblicken kann, im Politischen irgendwie echt interessiert gewesen. Schwieg mein Bruder zu alledem, wenn er es bei uns im Gange sah, nun, so war er eben kein Spielverderber.

Natürlich nahm er teil an unserer allgemeinen Euphorie.

Nichts konnte sie eigentlich eindämmen oder wohl gar vernichten. Die Eindrücke aus den medizinischen Kliniken, von denen Simon und Ploetz tagtäglich berichteten, waren ernst genug. Meine Eindrücke im Burghölzli nicht minder. Alle aber wurden verdaut und mußten für unseren Fortschritt herhalten. Seinen Rhythmus, den Tritt seiner Sohlen in seiner frischen Entschlossenheit konnte man nie überhören, ob wir auch äußerlich noch so stillsaßen.

 

Im Burghölzli sah ich und unterschied nach und nach alle hauptsächlichsten Formen des Irreseins. Grausige Bilder waren darunter. An alle knüpfte ich wieder, nach meiner schlechten oder guten Gewohnheit, eigene Gedanken an. Einst wurde eine Paranoiakranke vorgeführt, deren Diagnose einer der studentischen Praktikanten stellen sollte. Er sprach wohl fünf oder zehn Minuten mit ihr, ohne daß sie anders als vernünftig antwortete. Schließlich sagte er, er könne von einer Krankheit nichts feststellen und würde sie seinerseits für gesund halten. Da sprang sie auf im höchsten Triumph und wurde nicht müde, ihm wieder und wieder recht zu geben. So sei es, sie sei wirklich kerngesund! Sie habe das Unglück, sagte die einfache Bauersfrau, eine natürliche Tochter Kaiser Friedrichs III. zu sein, sie sei auch deshalb in Berlin gewesen. Man erkläre sie für verrückt, weil sie dies der Wahrheit gemäß behaupte. Ihren zuverlässigen Zeugen glaube man nicht. Sie werde mißhandelt, sie sei völlig widerrechtlich im Irrenhause.

Diese Frau also hatte ihre fixe Idee und war in der Tat sonst völlig gesund. Sie konnte mit ihrer fixen Idee neunzig Jahre und darüber alt werden.

Hat nicht, ging es mir durch den Kopf, jeder Mensch seine fixe Idee? Der protestantische Geistliche so wie der Katholik? Der Philosoph, der Arzt, der Forscher? Und ist hier nicht zwischen Gesundheit und Krankheit nur ein gradueller Unterschied?

Es gibt neben der Proportionslehre für bildende Künstler, die das harmonische Maßverhältnis des menschlichen Körpers festzustellen sucht, leider keine dergleichen für die menschliche Seele, so daß man zwar ihre Entartung, aber nicht ihre normale, gesunde Form festzustellen vermag.

Ich sah eine maniakalische Frau, deren Alter man, während sie in ihren Exaltationen tanzte und sang, nicht feststellen konnte. Sie war das lebende Volkslied für mich. Eros hatte von ihr Besitz genommen. Sie ließ die süßesten, überirdisch hingebungsvollen Töne innig, fast girrend, aus ihrer Kehle hervortreten! Und außerdem erkannte ich die Mänade in ihr, sie stellte durchaus den Zustand dar, den Euripides in den »Bakchen« schildert.

Vierzehn Tage später wurde die schamlose Bakche als gesundet wiederum vorgestellt. – Sie hatte im Rausch der Krankheit dem Professor mit einem wilden Griff die Weste und Hose aufgerissen. Jetzt stand sie da, ein bescheidenes, schüchternes, äußerst dürftiges Muttelchen, dessen abgehärmtes Faltengesicht von einem halben Jahrhundert der Arbeit und des Leidens zeugte.

 

Das Kapitel der Lues ward uns durch Forel in seiner ganzen Grausigkeit aufgeschlagen. Der Zustand der Paralyse ist als eine ihrer ernstesten Folgen bekannt. Lebendig Tote, sahen wir die Opfer in ihren letzten Stadien herumliegen. Sie murmelten unverständliche Worte und wußten nicht, daß sie sich mit ihrem eigenen Kot, den sie sich vor die Augen hielten, belustigten. So endet im tiefsten Marasmus, was, abgesehen von dem selig-erotischen Akt, der den Keim der Krankheit legt, gleichsam mit einer universellen Euphorie beginnt.

Auch Kranke in diesem Beginn wurden uns gezeigt. Es gab nichts in der Welt, was sie nicht besaßen oder sich durch ein Machtwort verschaffen konnten. Sie hoben Lasten von vielen Zentnern mit spielender Leichtigkeit. Ein schwächlicher Mensch kroch unter den Flügel, der im Saale der Anstalt stand. Er kroch wieder hervor und hatte ihn nicht einen Zoll hoch gehoben. Aber er war überzeugt, er habe ihn als ein zweiter Herkules auf dem Rücken herumgetragen.

In einem Gewölbe des Burghölzli, das ein raubtierhaftes Arom erfüllte, sah ich ein junges, erregtes Weib. Sie sah uns nicht, sie war ganz allein. Plötzlich kroch sie die Wand hinauf und hing sich an das vergitterte Fenster. Ich hatte den Eindruck, ihr Dasein drücke sich in einem allgewaltigen Grausen aus. Sie lallte von Sonnen, Planeten und anderen Weltkörpern, vielleicht schoß sie selbst, das lebendige Entsetzen, in unendlicher Einsamkeit durch den grundlosen Raum.

Ich hörte Rufe, die nichts Menschliches an sich hatten: »Verflu–u–ucht! Verflu–u–ucht!«, und fand einen Mann hinter Eisengittern, der diese Rufe von morgens bis abends wiederholte. Seit Jahren wiederholte er sie. Er wußte nicht, daß er war, wo er war. Aber ich wußte es: in der Hölle.

 

Wie gesagt: die Woge des Elends, die immergegenwärtige Brandung des Jammers warf trotzdem damals nur leuchtenden Schaum an unseren Strand, den die Sonne vergoldet hatte. Aber wir waren ja auch Soldaten, die sich überzeugt hielten, wider Elend und Jammer der Menschheit ins Feld zu ziehen! Sollte ja damals doch das Paradies aus dem Jenseits ins Diesseits verlegt werden!

Vererbungsfragen sind schon damals in der Medizin und darüber hinaus viel diskutiert worden. Unter Forels und Ploetzens Führung auch in unserem Kreis. Die Degeneration im Bilde der Familien wurde, meines Erachtens zu Unrecht, meist auf den übertriebenen Genuß von Alkohol zurückgeführt. Aber der Kampf ums Dasein hat doch wohl andere Schädigungen in unendlicher Menge aufzuweisen, die den Kämpfer und also auch seine Nachkommen schwächen.

Der Idealismus Ploetzens überschlug sich eines Tags, und er teilte uns mit, daß er sich nach halbjähriger freier Abstinenz persönlich Forel gegenüber verpflichtet habe, alkoholische Getränke für immer zu meiden. Ich vermute, daß er dies Gelübde, das uns mit Bestürzung erfüllte, bis heut nicht gebrochen hat. Gelübde dieser Art abzulegen, wäre mir ebenso vorgekommen, als ob ich mich für das ganze Leben an eine Kette gelegt hätte. Kette bleibt Kette! Mag ihre Länge auch abertausend Kilometer sein. Jede Art von Gefangenschaft hätte ich immer als gegen die Ehre meines freien Willens gerichtet empfunden.

Unsere Tischgespräche, und nicht nur sie, beherrschte fortan die Alkoholdiskussion. Bei Spaziergängen, wenn gelacht wurde, ohne Alkohol, ward dies jedesmal durch Ploetz gleichsam triumphierend festgestellt: auch ohne Alkohol, wie man sähe, hieß es dann, könne der Mensch übermütig und heiter sein.

August Forel war zu jener Zeit neben Bernheim in Nancy der größte Vertreter der Hypnose in der Wissenschaft. Wir haben von ihm wahre Wunder gesehen. Die Materie ist bekannt und braucht nicht näher erörtert zu werden.

Die Wärterinnen des Burghölzli, traf er sie in den Gängen, sanken auf seinen Blick in Schlaf. Standen sie dann wie schlafende Säulen, empfingen sie seine Suggestion, um dann, erwacht, die absurdesten Dinge auszuführen.

 

Ein Jugendlicher wurde uns eines Tages in einem Kolleg über gerichtliche Medizin vorgeführt. Er sank in Schlaf, und Forel suggerierte ihm, er werde, erwacht, nicht fähig sein, sich vom Flecke zu rühren. Es war so, wie Forel befohlen hatte. Wiederum in Schlaf gesenkt, wurde dem Jungen suggeriert, ein in der zweiten Bank als dritter sitzender junger Arzt habe ihm ein Tuch gestohlen. Im Erwachen rührte der Junge sich nicht vom Fleck, faßte jedoch sogleich den vermeintlichen Dieb ins Auge. Er wurde gefragt: »Warum blickst du den Herrn so an?« – »Er hat mir mein Taschentuch gestohlen!« – Nun wurde ihm der Unsinn seiner Behauptung diesem ehrenwerten Herrn gegenüber klargemacht – er ließ nicht von seiner Beschuldigung. »Wo war es«, fragte Forel, »wo stahl dir der Herr dein Taschentuch?« Der Junge schilderte nun Ort und Zeit aufs genaueste, wo und wann der Diebstahl geschehen sei, und das war es, worauf der Psychiater hinauswollte. Die völlig überzeugende Sprache des angeblich Bestohlenen würde jeden Richter überzeugt haben und der junge schuldlose Arzt verurteilt worden sein.

Wiederum wurde der Junge in Schlaf versenkt, die Diebstahlgeschichte ihm ausgeredet. Du hast behauptet, wurde ihm nach dem Erwachen gesagt, es sei dir ein Tuch gestohlen worden und dort dieser junge Herr sei der Dieb.

Ich saß in der ersten Bank und konnte die Mienen des Jungen genau beobachten. Er brach über diese Behauptung in Gelächter aus. Es war klar, daß man sich einen Spaß mit ihm machen wollte.

Forel warf seine Sachen zusammen, winkte ab, das Kolleg war aus.

Nun zum Schlusse kam das Seltsame: im allgemeinen Aufbruch wurde klar, der Junge konnte sich nicht vom Platze rühren. Es war, als wäre er eingewurzelt. Versuche, sich loszumachen, schlugen fehl. Das Zauberwort, das ihn löste, hatte Forel zu sprechen vergessen. Es bedurfte dazu einer neuen Hypnose, einer neuen Suggestion.

So drang einen Winter lang Neues und immer wieder Neues auf mich ein.

Auch die Musik wurde nicht vernachlässigt. Zürich ist eine musikalische Stadt.

Einer der edelsten Männerchöre war damals von einem bedeutenden Dirigenten und Komponisten namens Hegar geschaffen worden und zu großer Berühmtheit gelangt.

Ich habe in Zürich Marcella Sembrich gehört. Sie war die allererste der Welt als Koloratursängerin.

Ich erzähle dies alles, um zu zeigen, wieviel heterogene Dinge damals in den Schmelztiegel meines Geistes geworfen wurden.

 

Inzwischen war der Winter vergangen. Das Züricher Volksfest des Sechseläutens kam heran. Der herrlichste Frühlingsmorgen überflutete die alte Stadt mit Festlichkeit.

Es ist ein Zunftfest, und noch hatte Zürich die schönsten Zunfthäuser. Es gibt nichts Traulicheres als diese Bauten, die man noch überall in den Städten der Schweiz finden kann. Die gewaltigen Glocken des Großmünsters und der anderen Kirchen werden, wenn mir recht ist, an diesem Tage nach langem Winter zuerst wieder um sechs statt um fünf Uhr nachmittags geläutet. Das Volksfest zu schildern würde zu weit führen. Genug, daß es in jedem Sinne ein solches ist. Das Patriziertum hat dabei die Führung. Ein großer Festzug zeigt allen Reichtum, allen Glanz, alle Schönheit, dessen es mächtig ist.

Früh zogen wir aus, um daran feiernd und schauend teilzunehmen.

Es sei hier ein kleiner Umstand berichtet:

Auf der Bahnhofstraße, vom Bahnhof nicht weit, vor dessen Eingang das Denkmal Eschers, des Erbauers der Gotthardbahn, errichtet ist, sah ich drei Männer vorsichtig Hand in Hand über den Damm schreiten. Ich erkannte, daß die hohe Gestalt, welche die kleinere und die kleinste sorgsam betreute, Arnold Böcklin war, die kleinere Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller aber die kleinste.

Der Festzug des Sechseläutens wurde erwartet, da es bereits gegen Mittag war. Das Trio indessen verschwand im Eingang einer kleinen Weinstube.

Sind sie wohl, um den Festzug zu sehen, wieder aufgetaucht?

So schön er ist, ich hätte gern die Stunde, die jene begnadeten drei beim Wein in ihrer inneren Festlichkeit miteinander verlebten, dafür eingetauscht!

 

»Die Geister erwachen, es ist eine Lust zu leben!« So riefen unsichtbare Stimmen überall während der Lutherzeit, und auch über unserer hallten die gleichen Rufe.

Das Heut und das Damals vermählten sich miteinander. Wir fühlten im Herzen die ewig alte, die ewig neue deutsche Reformation. Und so war denn der innere Weg zu Ulrich von Hutten gegeben.

Der äußere war nicht weit. Im Zürichsee liegt ja die Insel Ufenau, wo der zu Tode Gehetzte gestorben und begraben ist.

Bald wurde die Wallfahrt auch an diese geweihte Stätte vom Kreise der Freien Straße angetreten.

Vom Ufer des herrlichen Zürichsees bis zur Ufenau ist nur eine kurze Überfahrt. Der Reformator Zwingli ist es gewesen, der über die letzten Lebenstage des Märtyrers Ulrich von Hutten seine helfende Hand gehalten hat. Er hat ihn zum Abt von Pfäffers gesandt, um die dortigen heißen Quellen gegen sein gallisches Leiden zu gebrauchen. Aber heftiger Regen, heißt es, habe sie kalt gemacht, und sie brachten ihm keine Linderung.

Der Mittellose kehrte, ausgestattet vom Abt, nach Zürich zurück, um sich bald darauf in die Hut eines Arztes und Pfarrers namens Hans Schneg, der die Ufenau einsam bewohnte, zu geben, wohin ihm der Tod auf dem Fuße nachfolgte.

Hier also auf diesem weltvergessenen Fleck grüner Erde, der sich kaum über das Wasser erhob – wir betraten ihn mit Erschütterung –, hat ein unsterblicher Kämpfergeist sein zeitliches Ende gefunden. Wir hörten das nie mehr verstummende Echo seines Wortes »Ich hab's gewagt!« über Wasser und Erde.

 

Was hatte Ulrich von Hutten gewagt?

Wie wir es heißen Herzens untereinander und ihm vereint auffaßten, schloß die Antwort eine Vielfalt geistiger Elemente ein, bei denen allerdings der äußere Gegensatz zwischen einem Kaiserreich Deutscher Nation und dem römisch-katholischen Gottesreich nicht auszuschalten war, aber nicht ihre Wesenheit ausdrückte. Zwar sahen wir Hutten, selbst Lutheraner, als solchen an, aber als einen, der wie wir das Lutherium, wie wir sagten, objektiviert hatte.

Mochte sein wie unser Herz mit den deutschen Pulsen des Reformators gemeinsam schlagen – römische Dogmen durch deutsche Dogmen ersetzen wollten wir nicht! Wir sahen in ihm den Kämpfer für eine reine, unabhängige deutsche Geistigkeit: also für freie Forschung, freies Denken und freie Kunst. Er war uns der Humanist sowohl im ursprünglichen wie in dem damals üblichen Sinne der Wiederbelebung des Altertums mit seinen Philosophen, Dichtern und Künstlern. Theologengezänk mochten wir ebensowenig wie er. Freilich ahnte ich damals nichts von der gnadenlosen Wut sogenannter philosophischer Kämpfe.

Auch in unserem Kreise gab es Streiten und Widerspruch. Aber es steht doch meinem Nachdenken fest, daß wir die höchsten Güter der Kultur im Sinne göttlicher Toleranz in einem in sich fruchtbaren, in sich wachsenden Frieden suchten.

 

Eines Frühlingsmorgens von unsäglicher Lichtfülle, Jugend und Heiterkeit bestieg ich mein Dreirad, das mich gesund gemacht hatte, um auf dem linken Ufer bis Rapperswyl und zum Ende des Zürichsees vorzudringen. Es wurde von allen, die ich gemacht habe, wohl die lustigste Fahrt:. Ich trat die Pedale, ich sang, ich jauchzte. Ein immerwährend glückseliges inneres Lachen beseligte mich. Es läge bei der Erinnerung nahe, Vergleiche über gesunde und kranke Euphorie anzustellen. Es war die gesündeste Euphorie!

Und doch hatte sie eine dunkle Folie.

Dorothea Trudel, eine Prophetin, quasi protestantische Heilige, lebte und starb in Männedorf. Kranke strömten bei ihr zusammen, die sie durch Gebet heilte. Ihre Tätigkeit wurde durch einen männlichen Heiligen fortgesetzt.

Während der Lederoser Tage meiner Jugend lebte sie noch und wurde im Hause der Schuberts, wie ich erzählt habe, viel genannt. Auch Schriften waren von ihr vorhanden, Traktätchen, die ich wohl erst in der Schweiz erhielt und die mich immerhin interessierten.

Wenn ich von einer dunklen Folie sprach, so mag man sich meiner Seelennöte und ‑qualen bei den Schuberts erinnern, meiner apokalyptischen Ängste vor den Schrecken des Jüngsten Gerichts und des Weltuntergangs, vor dem Reiche des Antichrist und den grausigen Strafen der Hölle. Mochte auch meine Vernunft sich davon nicht einem Licht gleich auslöschen lassen, so konnte sie schwere Träume doch eben nicht gänzlich ausschalten.

Als ich die Fahrt zur Trudel beschloß, bewog mich dazu wohl ein Gefühl außer der Wißbegierde an sich, als ob ich doch einmal den Triumph meiner völligen Freiheit von dem Nachtmahr Lederoses genießen müßte. Es würde doch, schien mir, ein großes Vergnügen sein, schwindelfrei in den Abgrund der einstigen Nacht herniederzusehen. Übrigens hatte ich damals bereits so viel zusammengelesen, daß ich in den Traktätchen der Dorothea Trudel Züge feststellte, die der stoischen Philosophie nicht ferne standen, was mich irgendwie auf den Betrieb in der Männedorfer Anstalt neugierig machte.

In Männedorf angelangt, hatte ich es nicht schwer, den Trudelschen Häuserkomplex zu finden. Es hieß, die Anstalt sei überfüllt. Da grade, erklärte der dienende Geist, Bruder Soundso eine Andacht abhalte, dürfte er mich als Fremden nicht einlassen. Es war nicht schwer, ihm ein tiefberechtigtes Mißtrauen gegen mich anzumerken. Doch Zögern und Weigern half ihm nichts. Ich war entschlossen, den Betsaal zu finden und der Versammlung beizuwohnen, zumal ich bereits die Stimme des Predigers deutlich vernahm.

Der Betsaal glich einer größeren Schulstube, deren Bänke von Männern und Frauen aller Stände besetzt waren. Ich hatte mich leise eingeschlichen und hinter der letzten Reihe aufgestellt. Ein kerniger Schweizer, bärtig und vierschrötig, donnerte vom Katheder herab. Er glich durchaus einem wütenden Schulmeister. »Doktor Soundso!« rief er mit heftiger Stimme, »wie heißt die Stelle, auf die ich eben anspielte, im Evangelium?«

Die Antwort kam mit bebender Stimme.

»Falsch, mein Bester! Die Bibel nicht vernachlässigen! Justizrat Markuse! Gräfin Soundso!« So ging es weiter wie mit Schulkindern.

Ich dachte: Wie kann doch die Angst vor dem Tode so erniedrigen!

Ich wußte kaum wie, und schon war ich wieder draußen im Freien.

Meine Fahrt war wiederum Singen, Jauchzen und Dankgebet.

Bald betraf mich ein sündhaftes Abenteuer, wodurch irgendein Puck wohl das empfundene Grauen vor kriechendem Getier wieder wettmachen wollte. »Es lächelt der See, er ladet zum Bade.« Und die Badehose hatte mir Mary im Hinblick auf die immerhin lange Uferfahrt sorglich beigepackt. Ich traf in der Nähe eines Dorfes eine leere Badeanstalt.

Eine Erfrischung! Gedacht, getan.

Kaum schwamm ich in dem bezirkten Gebiete herum, mußte ich mit Entsetzen erkennen, daß ich in die Privatbadeanstalt eines Mädchenpensionats geraten war. Etwa zwanzig der hübschesten Kinder aller Nationen kamen lachend herein, ohne, so schien es, mich zu bemerken. Im Handumdrehen waren ihre Gewänder abgestreift und die Badetrikots sichtbar geworden, worauf mich dann sofort das lustigste Gewimmel lachender, prustender, sich im Wasser wälzender Nixen umschwamm.

 


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