Edward Bulwer-Lytton
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer-Lytton

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Fünftes Kapitel.

Die Zelte des Gefangenen und die Höhle des Todes – Der Gram kennt keinen Schrecken.

Erstaunt über seine Rettung und nicht recht wissend, ob er wirklich wache, war Glaukus von den Kampfwärtern in eine kleine Zelle des Theaters geführt worden. Sie warfen dem Athener einen weiten Mantel über und drängten sich glückwünschend und verwundert um ihn. Auf einmal wurde außerhalb der Zelle heftig und eindringlich gesprochen; die Thüre ging auf und das blinde Mädchen lag, von einer freundlichen Hand geleitet, zu den Füßen des Glaukus.

»Ich habe Dich gerettet,« rief sie aus; »jetzt laßt mich sterben!«

»Nydia, mein theures Mädchen! mein Schutzgeist!«

»O laß mich Dich berühren, Deinen Odem fühlen! Ja, ja, Du lebst! Wir sind nicht zu spät gekommen! Die schreckliche Thüre, sie wollte fast nicht aufgehen! und Kalenus, o seine Stimme glich einem ersterbenden Hauch unter Gräbern. Wir mußten warten; Götter, es schienen mir ganze Stunden zu verstreichen, ehe Speise und Wein seine Kräfte wieder etwas hergestellt hatten; aber Du lebst! Du lebst noch! und ich – ich habe Dich gerettet!«

Diese rührende Scene wurde bald durch das eben beschriebene Ereignis unterbrochen.

»Der Berg! das Erdbeben!« schrie man nach allen Seiten. Die Kampfwärter flohen mit den andern Zuschauern und überließen es Glaukus und Nydia, sich selbst zu retten.

Als der Athener von dem hereinbrechenden Unglücke hörte, dachte sein edles Herz sogleich an Olinth. Durch die Hand der Götter war dieser von dem Tiger befreit worden; sollte er nun einem nicht minder traurigen Tode in der benachbarten Zelle überlassen bleiben? Glaukus nahm Nydia bei der Hand, eilte durch die Gänge und gelangte zu dem Verwahrungsorte des Christen. Er fand Olinth auf den Knieen liegend und im Gebet begriffen.

»Steh auf! steh auf, mein Freund!« rief er ihm zu. »Flieh und rette Dich! Sieh, die Natur ist Deine furchtbare Befreierin!« Er führte den verwunderten Christen hinweg, machte ihn auf das Geschrei und das Gedräng der bestürzten Menge aufmerksam und zeigte ihm die Wolke, welche immer finsterer und finsterer heranschwebte und Asche und Bimssteine ausgoß.

»Dies ist Gottes Hand! Gott sei gelobt!« sagte Olinth demüthig.

»Fliehe! suche Deine Brüder auf! Bewerkstellige mit ihnen Deine Rettung. Lebe wohl!«

Olinth gab weder Antwort, noch bemerkte er die Entfernung seines Freundes. Hohe und feierliche Gedanken durchglühten seine Seele, und in dem Enthusiasmus seines Herzens frohlockte er mehr über die Barmherzigkeit Gottes, als er über die furchtbaren Beweise seiner Macht zitterte. Endlich faßte er sich und eilte davon, wußte aber kaum wohin.

Plötzlich bemerkte er auf seinem Pfade die offene Thüre einer öden finstern Zelle, durch deren Dunkel aber eine Lampe strahlte, und bei dem Scheine derselben sah er drei wilde, nackte Gestalten todt auf der Erde liegen. Plötzlich hielt er seine Schritte an; denn unter den Schrecken dieses Jammerortes, des Spoliariums der Arena, hörte er eine leise Stimme den Namen Christi nennen.

Diesem Rufe könnte er nicht länger widerstehen; er trat in die Zelle, und seine Füße wurden von dem Blute benetzt, das in langsamen Strömen aus den Leichen über den Sand sich ergoß.

»Wer ruft den Namen des Sohnes Gottes?« fragte der Nazarener.

Keine Antwort. Endlich bemerkte Olinth, als er sich rings umsah, bei dem Scheine der Lampe einen alten Mann mit grauen Haaren, der auf dem Boden saß und das Haupt eines unlängst Verschiedenen in seinem Schoße hielt. Die Gesichtszüge des Todten hatten in dem letzten Schlafe einen festen und kalten Ausdruck angenommen; aber auf den Lippen spielte ein stolzes Lächeln, nicht das Hoffnungslächeln des Christen, sondern das finstere Hohnlachen des Hasses und Trotzes! Übrigens hatte sein Gesicht noch die herrliche Fülle der Jugend; lockig wallte das Haar über die faltenlose Stirne, und der noch schwache Bart beschattete leicht den Marmor seiner zwar farblosen, aber männlich schönen Wangen. Über dieses Antlitz beugte sich eines mit so unaussprechlicher Trauer, so wehmuthsvoller Zärtlichkeit und so tiefer Verzweiflung! Der alte Mann weinte schwere und heiße Thränen; aber er fühlte sie nicht, und als seine Lippen sich bewegten, als er mechanisch das Gebet seines segens- und hoffnungsreichen Glaubens hersagte, da wußte weder sein Herz noch sein Gemüth etwas von den Worten desselben: es war gleichsam nur der willkürliche Ausbruch der Lethargie seines Geistes. Sein Sohn war todt, für ihn, den Vater, gestorben! und das Herz des Greises war gebrochen!

»Medon!« sagte Olinth mitleidig, »steh auf und fliehe. Gott fährt einher auf den Flügeln der Elemente! das neue Gomorrha wird zerstört! Fliehe, ehe das Feuer Dich vernichtet!«

»Er war immer so lebenskräftig! Er kann nicht todt sein! Komm hieher! Lege Deine Hand auf sein Herz. Gewiß, es schlägt noch!«

»Bruder, seine Seele ist entflohen! Wir wollen ihrer in unsern Gebeten gedenken. Du kannst den stummen Leichnam nicht wider beleben. Komm, komm! Horch, während ich spreche, stürzen dort die Mauern zusammen! Hörst Du das Todtengeschrei? Nicht ein Augenblick ist zu verlieren! Komm!«

»Ich höre nichts,« sagte Medon, seinen grauen Kopf schüttelnd. »Mein armes Kind, seine Liebe tödtete es!«

»Komm, komm! Vergib mir meine freundliche Nöthigung.«

»Was! wer will den Vater von dem Sohne trennen?« damit schloß Medon den Leichnam fest in seine Arme und bedeckte ihn mit glühenden Küssen. »Geh!« sagte er, einen Augenblick noch zu Olinth emporblickend. »Geh – wir müssen allein beisammen sein!«

»Ach!« versetzte der mitleidige Nazarener; »der Tod hat Euch bereits getrennt!«

Der alte Mann lächelte ganz ruhig. »Nein! nein! nein!« sprach er mit immer matterer Stimme, »der Tod ist gütiger gewesen!«

Jetzt sank sein Haupt auf die Brust seines Sohnes; seine Arme fielen erschlafft zu Boden. Olinth ergriff ihn bei der Hand, aber der Puls schlug nicht mehr. Der zärtliche Vater hatte die Wahrheit gesprochen: Der Tod war gütiger gewesen.

Mittlerweile flohen Glaukus und Nydia rasch durch die gefährlichen Straßen. Der Athener hatte von seiner Retterin gehört, daß Ione noch im Hause des Arbaces sich befinde. Dorthin eilte er, um sie zu befreien, sie zu retten. Die wenigen Sklaven, welche der Egypter daheim ließ, als er mit großem Gefolge nach dem Theater zog, hatten der bewaffneten Macht des Sallust keinen Widerstand zu leisten vermocht, und als nachher der Ausbruch des Vulkans erfolgte, hatten sie sich erstaunt und erschrocken in die innersten Gemächer des Hauses geflüchtet. Selbst der schlanke Äthiopier hatte seinen Posten an der Thüre aufgegeben, und Glaukus (der Nydia draußen ließ – die arme Nydia, welche sogar in dieser Stunde einer eifersüchtigen Regung sich nicht erwehren konnte), ging ungehindert durch die große Halle, ohne Jemanden zu treffen, von dem er das Zimmer der Ione hätte erfahren können. Auch nahm die Finsternis, welche den Himmel bedeckte, auf einmal so zu, daß er nur mit Mühe vorwärts schreiten konnte. Die blumenbekränzten Säulen schienen zu wanken und zu zittern, und mit jedem Augenblicke hörte er die Asche prasselnd in das unbedeckte Peristyl fallen. Athemlos ging er, laut den Namen Ione rufend, weiter; endlich hörte er am Schlusse der Galerie eine Stimme, und zwar ihre Stimme, ihm antworten. Vorwärts stürzen, die Thüre erbrechen, Ione in seine Arme schließen und mit ihr aus dem Hause eilen, war das Werk eines Augenblicks.

Kaum hatte Glaukus die Stelle erreicht, wo Nydia stand, als er Schritte in der Richtung gegen das Haus zu hörte und die Stimme des Arbaces erkannte, der zurückkehrte, um seine Schätze und Ione aufzusuchen, ehe er das untergehende Pompeji verlassen wollte. Aber so dicht war bereits die rauchende Atmosphäre, daß die Feinde selbst in der äußersten Nähe einander nicht sahen, außer das Glaukus wie im Dämmerlicht in der Finsternis die Umrissen der weißen Kleider des Egypters wahrnahm.

Alle drei, der Athener, Nydia und Ione, eilten weiter, aber ach! wohin? Sie sahen jetzt auf keinen Schritt mehr vor sich: so groß war das Dunkel. Zweifel und Schrecken umgaben sie von allen Seiten, und der Tod, dem er entronnen, schien dem Glaukus nur die Gestalt gewechselt und seine Opfer vermehrt zu haben.


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