Edward Bulwer-Lytton
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer-Lytton

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Fünftes Kapitel.

Die arme Schildkröte – Neuer Wechsel für Nydia.

Die Morgensonne beschien den kleinen und duftigen Garten, der von dem Peristyl im Hause des Atheners eingeschlossen war. Letzterer lag düster und gedankenlos auf dem weichen Grase, das sich durch das Viridarium hinzog, und ein leichter, oben aufgespannter Baldachin brach die glühenden Strahlen der Sommersonne.

Als dieses schöne Haus ausgegraben wurde, fand man im Garten die Schale einer Schildkröte, die seine Bewohnerin gewesen war.Ich weiß nicht, ob man die Schildkrötenschale, welche in dem Hause aufgefunden wurde, das in diesem Werke dem Glaukus zugeschrieben wird, noch aufbewahrt; hoffe es jedoch. Dieses Thier, ein so sonderbares Glied in der Schöpfung, dem die Natur außer einer passiven und traumartigen Empfindung des Lebens alle Lebensgenüsse versagt zu haben scheint, war schon viele Jahre, bevor Glaukus jenen Platz kaufte, der Gast desselben gewesen; so viele über Menschengedenken hinausgehende Jahre, denen die Überlieferung eine fast unglaubliche Höhe zuschrieb. Das Haus war gebaut und wieder gebaut worden – seine Besitzer hatten gewechselt und wieder gewechselt – Generationen hatten geblüht und waren ausgestorben, und noch immer schleppte die Schildkröte ihr langsames, gefühlloses Dasein fort. Bei dem Erdbeben, das vor sechszehn Jahren viele der öffentlichen Gebäude der Stadt umgestürzt und die bestürzten Einwohner fortgescheucht hatte, war das jetzt von Glaukus bewohnte Haus fürchterlich erschüttert worden. Die damaligen Besitzer verließen es auf mehre Tage; bei ihrer Rückkehr räumten sie den Schutt weg, der das Viridarium bedeckte, und fanden noch die Schildkröte, unbeschädigt durch die Zerstörung rings umher und ohne eine Ahnung derselben. Sie schien ein bezaubertes Leben in ihrem langsamen Blute und in ihren unbemerklichen Bewegungen zu haben, doch war sie nicht so unthätig, als es den Anschein hatte; sie hielt einen regelmäßigen, einförmigen Umgang; Zoll für Zoll durchzog sie die kleine Bahn ihres Gebietes, zu deren gänzlicher Umkreisung sie immer Monate gebrauchte. Es war eine rastlose Wanderin, diese Schildkröte – geduldig und mühsam legte sie die selbst vorgeschriebenen Tagereisen zurück, keine Theilnahme zeigend für die Dinge um sie her – eine in sich selbst concentrirte Philosophin! Es lag etwas Großes in ihrer einsamen Selbstsucht! Die Sonne, in der sie sich wärmte – das sich täglich über sie ergießende Wasser – die Luft, die sie ohne es zu fühlen einsog – waren ihr einziger, nie ausbleibender Luxus. Der milde Wechsel der Jahreszeiten in jenem lieblichen Klima fiel ihr nicht empfindlich. Sie hüllte sich in ihre Schale wie der Heilige in seine Frömmigkeit – wie der Weise in seine Weisheit – wie der Liebende in seine Hoffnung.

Sie war unzugänglich für die Stöße und Veränderungen der Zeit, und eben darum auch ein Bild der Zeit selbst. Langsam – regelmäßig – beständig, unbewußt der Leidenschaften, die um sie her wucherten, der Abnützung aller Sterblichkeit. Die arme Schildkröte! Nichts Geringeres als das Bersten von Vulkanen, die Zuckungen der gespaltenen Welt konnten ihren trägen Lebensfunken ersticken. Der unerbittliche Tod, der weder Pracht noch Schönheit schont, ging achtlos an einem Wesen vorüber, bei dem er doch nur einen unbedeutenden Wechsel hätte hervorbringen können.

Für dieses Thier fühlte der feurige und lebhafte Grieche die ganze Bewunderung und Zuneigung, die der Contrast einzuflößen vermag. Er konnte Stunden damit zubringen, sein schleichendes Fortschreiten zu beobachten, Betrachtungen über seinen Mechanismus anzustellen. In der Freude verachtete, im Leide beneidete er es. Während er jetzt, auf dem Rasen liegend, der Schildkröte dumpfe und anscheinend regungslose Masse sich fortbewegen sah, murmelte er vor sich hin: »Der Adler ließ einen Stein aus seinen Krallen fallen, im Glauben deine Schale zu zerbrechen. Der Stein zerschmetterte einem Dichter das Haupt. Dies ist die Allegorie des Schicksals! Dumpfes Ding! du hattest einen Vater und eine Mutter; vor Jahren vielleicht hattest du auch eine Genossin. Liebten deine Eltern, oder liebtest du? Kreiste dein langsames Blut heiterer, wenn du an der Seite deines Weibleins krochst? Warst du der Zuneigung fähig? Und konnte es dich traurig stimmen, wenn sie ferne von dir war? Konntest du es fühlen, wenn sie zu deiner Seite kroch? Was gäbe ich nicht darum, die Geschichte deiner gepanzerten Brust zu kennen – den Mechanismus deiner matten Wünsche zu durchschauen – zu sehen, welche haarbreite Grenzlinie deinen Gram von deiner Freude scheidet! Doch glaube ich, würdest du es fühlen, wenn Ione da wäre! Du würdest ihr Herannahen als eine mildere Luft, als eine heiterere Sonne empfinden. Ich beneide dich jetzt, denn du weißt nicht, daß sie ferne ist, und ich – wie gerne würde ich wie du sein – während der Zeit, da ich sie nicht sehe! Welche Zweifel, welche Ahnungen überfallen mich! Warum versagt sie mir den Zutritt? Tage sind vergangen, seit ich ihre Stimme gehört. Zum erstenmale spricht mich das Leben nicht mehr an. Ich bin wie Einer, der allein nach einem Festmahle zurückbleibt – die Lichter erloschen, die Blumen verwelkt. Ach, Ione, könntest du ahnen, wie ich dich anbete!«

Aus diesen verliebten Träumereien wurde Glaukus durch die Ankunft Nydia's aufgeweckt. Mit ihrem leichten, aber vorsichtigen Schritte kam sie durch das marmorne Tablinum, durchschritt den Säulengang und blieb bei den Blumen stehen, die den Garten einfaßten. Sie hatte ihre Gießkanne in der Hand und begoß die dürstenden Pflanzen, in die bei ihrer Annäherung neues Leben zu kommen schien. Sie beugte sich, um ihren Duft einzuathmen, berührte sie ängstlich und liebkosend, und fühlte an den Stengeln umher, ob nicht ein verwelktes Laub oder ein kriechendes Insekt ihrer Schönheit Eintrag thue. Wie sie so mit ihrem ernsten, jugendlichen Gesichte von Blume zu Blume schwebte, hätte man sich keine entsprechendere Dienerin für die Gottheit der Gärten denken können.

»Nydia, mein Kind,« sagte Glaukus.

Bei dem Tone seiner Stimme blieb sie schnell stehen – horchend, erröthend, athemlos! Mit geöffneten Lippen, um die Richtung des Lautes aufzufangen, in die Höhe geworfenem Gesichte, setzte sie die Kanne nieder, eilte zu ihm, und wunderbar war es zu sehen, wie untrüglich sie ihren dunklen Pfad durch die Blumen fand, und auf dem kürzesten Wege zu ihrem neuen Herrn gelangte.

»Nydia,« sagte Glaukus, ihr langes und schönes Haar zärtlich zurückstreichend – »es sind jetzt drei Tage, seit Du unter dem Schutze meiner Hausgötter stehst. Haben sie auf Dich gelächelt? Bist Du glücklich?«

»Ach, so glücklich!« seufzte die Sklavin.

»Und jetzt,« fuhr Glaukus fort, »da Du Dich ein wenig von den gehässigen Erinnerungen Deines früheren Zustandes erholt hast, jetzt, da man Dich« (hier berührte er ihre gestickte Tunika) »mit Kleidern versehen hat, die für Deine zarte Gestalt besser passen, jetzt, süßes Kind, da Du Dich an Dein Glück gewöhnt hast, das Dir die Götter immer gewähren mögen, möchte auch ich Dich um einen Dienst bitten.«

»Oh, was kann ich für Dich thun?« rief Nydia, ihre Hände faltend.

»Höre,« sagte Glaukus; »so jung Du auch bist, sollst Du meine Vertraute werden. Hast Du je den Namen Ione gehört?«

Das blinde Mädchen schnappte nach Luft, und bleich werdend wie eine der Bildsäulen, die vom Peristyl auf sie herabschauten, antwortete sie mit Anstrengung und nach kurzer Pause: »Ja, ich habe gehört, sie sei von Neapolis und schön.«

»Schön? Ihre Schönheit vermöchte den Tag zu blenden! Neapolis! Nein, sie ist griechischer Abkunft, Griechenland allein konnte solche Gestalten bilden. Nydia, ich lieb sie!«

»Ich dachte mir das,« erwiderte Nydia ruhig.

»Ich liebe sie, und Du sollst es ihr sagen. Ich bin im Begriff, Dich zu ihr zu senden. Glückliche Nydia, Du wirst in ihr Zimmer treten, wirst die Musik ihrer Stimme trinken, wirst Dich in der sonnigen Luft ihrer Gegenwart wärmen.«

»Was, was? Willst Du mich denn von Dir schicken?«

»Du wirst zu Ione gehen,« antwortete Glaukus in einem Tone, der sagte: »Was kannst Du mehr wünschen?«

Nydia brach in Thränen aus.

Glaukus richtete sich auf und zog sie mit den beruhigenden Liebkosungen eines Bruders an sich.

»Mein Kind, meine Nydia! Du weinst, weil Du nicht weißt, welch ein Glück ich Dir gewähre. Sie ist freundlich und gütig, und sanft wie ein Mailüftchen. Sie wird Deiner Jugend eine Schwester sein, wird Deine einnehmenden Talente würdigen und Deine einfachen Grazien lieben, wie es Niemand sonst könnte, denn sie gleichen den ihrigen. Weinst Du noch immer? Liebes Närrchen! Ich will Dich nicht zwingen, meine Süße. Willst Du mir diese Gefälligkeit nicht erweisen?«

»Wohlan, wenn ich Dir dienen kann, so befehle. Sieh, ich weine nicht mehr, ich bin ruhig.«

»Das ist ganz meine Nydia,« fuhr Glaukus fort, ihre Hand küssend. »Geh also zu ihr; wenn Du Deine Erwartungen hinsichtlich ihrer Freundlichkeit nicht befriedigt findest, wenn ich Dich getäuscht habe, so kehre zurück, sobald Du willst. Ich schenke Dich nicht einer Andern, sondern ich leihe Dich bloß. Mein Haus sei immer Deine Zuflucht, meine Süße. Ach, könnte es doch allen Freundlosen und Betrübten Schutz gewähren. Aber, wenn mein Herz mir Wahrheit zuflüstert, so werde ich Dich bald wieder zurückfordern, mein Kind. Mein Haus und Ionens Haus werden Eins werden, und Du selbst bei uns Beiden leben.«

Ein Schauder fuhr durch die zarte Gestalt des blinden Mädchens; aber sie weinte nicht mehr – sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben.

»Geh also, meine Nydia, in Ionens Haus – man wird Dir den Weg zeigen. Nimm ihr die schönsten Blumen mit, die Du pflücken kannst; die Vase dazu will ich Dir geben, und Du wirst ihren geringen Werth entschuldigen. Man soll Dir auch die Laute hintragen, die ich Dir gestern gab, und der Du so bezaubernde Töne zu entlocken verstehst. Auch diesen Brief überreiche ihr, worin ich nach hundert Versuchen meinen Gedanken Worte zu geben bemüht war. Horche auf jeden Ton, auf jede Beugung ihrer Stimme, und sage mir, wenn wir uns wiedersehen, ob ihre Musik mich zu Hoffnungen oder zu Befürchtungen berechtigt. Schon sind es mehre Tage, gute Nydia, daß ich nicht mehr bei Ione zugelassen wurde; es liegt etwas Geheimnisvolles in dieser Ausschließung; ich werde durch Zweifel und Besorgnisse gequält; bemühe Dich also – denn Du bist klug, und Deine Sorge für mich wird Deinen scharfen Beobachtungsgeist zehnfach verfeinern – die Ursache dieser Unfreundlichkeit zu erfahren; sprich von mir, so oft Du kannst; laß meinen Namen stets über Deine Lippen schweben; gib ihr meine innige Liebe eher zu verstehen, als daß Du sie laut aussprichst; habe Acht, ob sie seufzt, während Du sprichst, ob sie Dir antwortet, oder wenn sie Deine Rede mißbilligt, in welchem Tone dies geschieht. Sei meine Freundin, sprich für mich, und oh, wie reich wirst Du das Wenige vergelten, das ich für Dich gethan habe. Du verstehst mich doch, Nydia, Du bist noch ein Kind – habe ich mehr gesagt, als Du verstehen kannst?«

»Nein.«

»Und willst Du mir dienen?«

»Ja.«

»Komm zu mir, wenn Du die Blumen gepflückt hast, und ich will Dir die Vase geben, von der ich sprach; suche mich in dem Zimmer der Leda auf. Du bist doch nicht mehr traurig, hübsches Kind?«

»Glaukus, ich bin eine Sklavin; was habe ich mit Freud oder Leid zu schaffen?«

»Sprichst Du so? Nein, Nydia, sei frei. Ich gebe Dir Freiheit – genieße sie, wie Du willst, und verzeihe mir, daß ich bei Dir den Wunsch voraussetzte, mir zu dienen.«

»Du bist beleidigt. Oh, ich möchte selbst um einen höhern Preis, als die Freiheit, Dich nicht beleidigen. Glaukus, mein Bewahrer, mein Retter, mein Beschützer, verzeihe dem armen blinden Mädchen. Insofern es zu Deinem Glücke beitragen kann, so trauert es selbst dann nicht, wenn es Dich verlassen muß.«

»Mögen die Götter dieses dankbare Herz segnen,« sprach Glaukus überaus bewegt und küßte ihr, ohne zu ahnen, welches Feuer er entfache, zu wiederholten Malen die Stirne.

»Du verzeihst mir,« sagte sie, »und wirst nicht mehr von Freiheit sprechen; meine ganze Glückseligkeit ist, Deine Sklavin zu sein, und Du hast ja versprochen, mich keinem Andern geben zu wollen.«

»Ich habe es versprochen.«

»Und jetzt will ich also die Blumen pflücken.«

Stillschweigend nahm Nydia aus der Hand des Glaukus die kostbare, mit Edelsteinen besetzte Vase, in welcher die Blumen an Farbenglanz und Wohlgeruch mit einander wetteiferten; thränenlos empfing sie seine letzte Weisung. Als er aufhörte zu sprechen, blieb sie einen Augenblick stehen; sie wagte nicht zu antworten, sie suchte seine Hand, führte sie an ihre Lippen, ließ ihren Schleier über ihr Gesicht fallen und entfernte sich plötzlich aus seiner Nähe. Als sie die Thürschwelle erreichte, hielt sie noch einmal an, streckte ihre Hände gegen sie aus und flüsterte: »Drei glückliche Tage – Tage unaussprechlicher Wonne! – habe ich erlebt, seit ich dich überschritten, gesegnete Schwelle! Möge nach meiner Entfernung der Friede ewig bei dir wohnen! Und jetzt reißt sich mein Herz von dir los, und der einzige Ton, der in ihm erklingt, heißt mich sterben!«


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