Edward Bulwer-Lytton
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer-Lytton

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Fünfzehntes Kapitel.

Arbaces und Ione – Nydia erreicht den Garten – Wird sie entkommen und den Athener retten?

Als Arbaces sein Blut durch ein ziemliches Quantum jenes gewürzten und wohlriechenden Weines, den die Bonvivants damals so sehr liebten, erwärmt hatte, fühlte er sein Herz mehr als gewöhnlich erhoben und frohlockend. Im Triumph der Schlauheit liegt ein Stolz, der, selbst wenn der Zweck ein verbrecherischer ist, ebenso stark gefühlt werden dürfte. Unsere eitle Menschennatur gefällt sich im Bewußtsein überlegener List und selbsterrungener Erfolge, und später erst stellt sich die fürchterliche Gegenwirkung der Reue ein.

Aller Wahrscheinlichkeit nach aber war es nicht Reue, was ein Arbaces je über das Loos des elenden Kalenus fühlen mochte. Er verwischte aus seinem Gedächtnis den Gedanken an des Priesters langsame Todesqual; er fühlte nur, daß eine große Gefahr vorüber und ein möglicher Feind zum Stillschweigen gebracht sei. Das Einzige, was er noch zu thun hatte, war, den Isispriestern Rechenschaft über die Verschwindung des Kalenus zu geben, und dies hielt er für eine leichte Aufgabe. Kalenus war oft von ihm zu verschiedenen religiösen Handlungen in die benachbarten Städte verwendet worden. In einem derartigen Auftrage nun, konnte er behaupten, habe er ihn auch jetzt verschickt, um den Altären der Isis zu Stabä und Neapolis Sühnopfer für die Ermordung ihres Priesters Apäcides darzubringen. War einmal Kalenus fort, so konnte sein Leichnam nach vor des Egypters Abgang von Pompeji in den tiefsten Sarnus geworfen werden, und wurde er dort je aufgefunden, so vermuthete man ohne Zweifel allgemein, die atheistischen Nazarener haben ihn ermordet, um sich für den Tod Olinths in der Arena zu rächen. Nachdem er schnell diese verschiedenen Pläne zu seiner eigenen Sicherheit überdacht hatte, verbannte Arbaces sofort jede Erinnerung an den unglücklichen Priester aus seinem Gemüth, und ermuthigt durch den Erfolg, der in der neuesten Zeit alle seine Entwürfe gekrönt, wandte er seine Gedanken ungetheilt Ione'n zu. Als er sie das letztemal gesehen, hatte sie ihn durch vorwurfsvollen und bitteren Spott, den seine hochmüthige Natur nicht zu ertragen vermochte, aus ihrer Nähe vertrieben. Jetzt fühlte er sich ermuthigt, den Besuch zu wiederholen; denn seine Leidenschaft für sie äußerte auf ihn dieselben Wirkungen, wie sie ein derartiges Gefühl bei andern Menschen hervorbringt. Es trieb ihn unaufhaltsam in ihre Nähe, obgleich er in dieser Nähe erbittert und gedemühtigt wurde. Aus Zartgefühl für ihren Gram legte er seine dunkeln und prunklosen Gewänder nicht ab, erneuerte aber die Wohlgerüche in seinen Rabenlocken, brachte die Tunika in die anmuthigsten Falten und begab sich sodann nachdem Zimmer der Neapolitanerin. Da er auf seine Frage, ob sich Ione schon zur Ruhe begeben habe, von der außerhalb des Zimmers harrenden Sklavin erfuhr, daß sie noch auf war, und ungewöhnlich ruhig und gefaßt sei, so wagte er sich in ihre Gegenwart. Er fand seine schöne Pflegetochter vor eimem Tischchen sitzend, das Gesicht in nachdenklicher Stellung auf beide Hände gelehnt. Dasselbe entbehrte jedoch heute seines gewöhnlichen, hellen und psychenartigen Ausdrucks süßer Geistesgröße; die Lippen stunden offen – das Auge war ausdruckslos und unaufmerksam und das lange, dunkle Haar, das ungeordnet auf ihren Nacken herabfiel, verlieh durch seinen Gegensatz den Wangen, die bereits die Rundung ihres Umrisses verloren hatten, eine weitere Blässe.

Arbaces beobachtete sie einen Augenblick, ehe er näher trat. Auch sie schlug die Augen auf; doch, als sie den Eintretenden erkannte, schloß sie dieselben wieder mit einem Ausdruck von Schmerz, ohne sich jedoch zu rühren.

»Ach,« begann Arbaces in leisem, ernstem Tone, während er achtungsvoll, ja demüthig vertraut und sich in einiger Entfernung von dem Tische niedersetzte: »ach, daß mein Tod Deinen Haß tilgen könnte, dann wollte ich so freudig sterben! Du thust mir Unrecht, Ione; aber ohne Murren will ich das Unrecht tragen, wenn ich Dich nur bisweilen sehen darf. Zanke, schmähe, verachte mich, – wenn Du willst – ich will es tragen lernen. Denn ist nicht selbst Dein bitterster Ton meinem Ohre süßer als die Musik der kunstvollen Laute? So Du schweigst, scheint die Welt stille zu stehen – eine Stockung tritt ein in den Adern des Herzens – es gibt keine Erde, kein Leben ohne das Licht Deines Antlitzes und die Melodie Deiner Stimme.«

»Gib mir meinen Bruder und meinen Bräutigam wieder,« sagte Ione mit ruhigem und flehenden Ton, während einige große Thränen, ohne daß sie es bemerkte, ihre Wangen hinabrollten.

»Oh, daß ich den Einen vom Tode erwecken und den Andern retten könnte!« erwiderte Arbaces mit anscheinender Rührung; »Ja, um Dich glücklich zu machen, wollte ich meiner unglücklichen Liebe entsagen und gern und freudig Deine Hand in die des Atheners legen. Die Möglichkeit ist immer noch vorhanden, daß er ungefährdet aus dem Prozeß hervorgeht« (Arbaces hatte die Kunde nicht zu ihr dringen lassen, daß die Gerichtsverhandlung bereits begonnen), »und in diesem Falle sollst Du volle Freiheit haben, ihn selbst loszusprechen oder zu verdammen. Und glaube nicht, o Ione, daß ich Dich länger mit einer Liebesbitte verfolgen werde. Ich weiß, es wäre nutzlos. Nur gestatte mir, mit Dir zu weinen, mit Dir zu klagen. Vergib mir eine tief bereute Heftigkeit, deren Wiederkehr Du nie mehr zu befürchten hast. Laß mir Dir nun wieder sein, was ich einst gewesen – ein Freund, ein Vater und ein Beschützer. Ach, Ione, sei gnädig gegen mich und vergib mir!«

»Ich vergebe Dir. Rette nun Glaukus, und ich will ihm entsagen. O gewaltiger Arbaces! Du bist mächtig im Guten wie im Bösen: Rette den Athener, und die arme Ione will ihn nie wiedersehen.«

Während sie also sprach, erhob sie sich schwach und zitternd, fiel ihm sodann zu Füßen, umschlang seine Kniee und rief: »Wenn Du mich wirklich liebst – wenn Du ein menschliches Wesen bist – so gedenke der Asche meines Vaters – gedenke meiner Kindheit – gedenke alle der Stunden, die wir glücklich mit einander verbrachten, und rette meinen Glaukus!«

Gewaltige Convulsionen erschütterten den Körper des Egypters; auf seinen Zügen ward ein fürchterlicher Kampf sichtbar; er wandte sein Gesicht ab und sagte mit hohler Stimme. »Wenn ich ihn noch jetzt retten könnte, ich würde es thun; aber das römische Gesetz ist unbeugsam und streng. Doch, wenn es mir gelänge – wenn ich ihn zu befreien und zu retten vermöchte – wolltest Du die Meinige, meine Gattin werden?«

»Die Deinige?« wiederholte Ione sich erhebend; »die Deinige – Deine Braut! Noch ist meines Bruders Blut nicht gerächt: Wer erchlug ihn? O Nemesis, kann ich selbst um das Leben des Glaukus die heilige Pflicht, die Du mir übertragen, verkaufen? Arbaces – die Deinige? Nie!«

»Ione, Ione!« rief Arbaces leidenschaftlich, »wozu diese geheimnisvollen Worte – weshalb bringst Du meinen Namen mit der Erinnerung an Deines Bruders Tod in Verbindung?«

»Meine Träume verbinden ihn, und Träume kommen von den Göttern.«

»Nichts als leere Phantasien! Wegen eines Traumes also willst Du den Unschuldigen kränken, die einzige Möglichkeit, Deines Geliebten Leben zu retten, aufs Spiel setzen?«

»Höre mich,« sagte Ione mit fester, entschiedener und feierlicher Stimme, »wird Glaukus von Dir gerettet, so will ich nie als Braut in sein Haus einziehen. Aber den Schauer vor der Verbindung mit einem Andern kann ich nicht bemeistern! ich kann Dich nicht heirathen. Unterbrich mich nicht, sondern höre wohl auf, Arbaces – stirbt Glaukus, so mache ich noch an demselben Tage alle Deine Künste zu nichte und lasse Deiner Liebe bloß meinen Staub! Ja, Du magst immerhin Wasser und Gift aus meinem Bereich entfernen – Du magst mich einkerkern – magst mich in Fesseln legen; einer tapfern Seele, die zur Flucht entschlossen ist, fehlen nie die Mittel. Diese Hände, obwohl nackt und unbewaffnet, sollen die Bande des Lebens zerreißen. Fessle sie, und diese Lippen werden sich aufs Entschiedenste weigern, Luft einzuathmen. Du bist gelehrt – Du hast gelesen, wie Frauen eher starben, als sich der Entehrung unterwarfen. Geht Glaukus unter, so will ich nicht unwürdig hinter ihm zurückbleiben. Bei allen Göttern des Himmels und des Meeres und der Erde, ich weihe mich dem Tod – Du hast es jetzt gehört!«

Hoch, stolz, ihre Gestalt wie eine Begeisterte erhoben, flößte Ione durch Haltung und Stimme ihrem Zuhörer ehrfurchtsvolle Scheu ein.

»Muthiges Herz!« sprach er nach kurzer Pause, »Du bist in der That würdig, die meinige zu werden. Oh, wie oft habe ich von einer solchen Genossin meines erhabenen Geschicks geträumt und sie nie, als in Dir, gefunden! Ione,« fuhr er hastig fort, »siehst Du nicht, daß wir für einander geboren sind? Erkennst Du nicht etwas Deiner eigenen Kraft, Deinem eigenen Muth Verwandtes in meiner hohen, unabhängigen Seele? Wir sind geschaffen, unsere Sympathien zu vereinigen – geschaffen, dieser abgelebten, plumpen Welt einen neuen Geist einzuhauchen – geschaffen zu den mächtigen Geschicken, die meine Seele, das Dunkel der Zeit durchdringend, mit prophetischem Auge voraussieht. Mit einer der Deinigen gleichkommenden Entschlossenheit trotze ich Deiner Drohung schmachvollen Selbstmordes. Ich begrüße Dich als die Meinige! Königin ferner Himmelsstriche, die der Fittig des römischen Adlers noch nicht verdunkelt, sein Schnabel noch nicht verwüstet hat, ich beuge mich vor Dir in ehrfurchstsvoller Huldigung, aber ich fordere Dich in Anbetung und Liebe! Zusammen wollen wir den Ocean durchkreuzen – zusammen wollen wir unser Reich auffinden, und die fernsten Jahrhunderte sollen dem königlichen Geschlechte gehorchen, das aus der Vermählung des Arbaces mit Ione entsprießt!«

»Du rasest; solche mystische Phrasen passen eher für eine gichtbrüchige Alte, die Zaubermittel auf dem Markt verkauft, als für den weisen Arbaces. Du hast meinen Entschluß gehört – er ist so unbeugsam wie die Parzen selbst. Orkus hat mein Gelübde vernommen, und es ist eingetragen in das Buch des nie vergessenden Hades. Sühne also, o Arbaces, sühne die Vergangenheit, verwandle Haß in Achtung – Rache in Dankbarkeit; rette Einen, der nie Dein Nebenbuhler sein wird. Solches Thun ziemt sich für Dein Wesen, das Funken von etwas Hohem und Edlem zeigt. Es wiegt schwer in der Wagschale des Todtenrichters, gibt den Ausschlag an jenem Tage, wo die entkörperte Seele schaudernd und bang zwischen Tartarus und Elysium steht, und erfreut das Herz sogar im Leben schon, mehr und länger, als die augenblickliche Befriedigung der Leidenschaft. O Arbaces, höre mich und laß Dich bewegen!«

»Genug, Ione. Alles, was ich für Glaukus thun kann, soll geschehen; aber schilt mich nicht, wenn es ohne Erfolg bleibt. Befrage meine Feinde sogar, ob ich nicht bemüht war und noch jetzt bemüht bin, den Spruch von seinem Haupte abzuwenden, und beurtheile mich darnach. Schlafe also, Ione. Die Nacht rückt vor; ich überlaß Dich ihrer Ruhe, und mögest Du freundlichere Träume von einem Manne haben, der nur in Dir lebt.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sich Arbaces hastig; vielleicht weil er sich fürchtete, länger Zeuge der leidenschaftlichen Bitten Ione's zu sein, die ihn mit Eifersucht folterten, sogar während sie sein Mitleid erregten. Aber das Mitleid selbst kam zu spät. Hätte ihm Ione sogar ihre Hand als Lohn verheißen, er hätte jetzt, nachdem einmal sein Zeugnis abgelegt und das Volk aufgeregt war, den Athener nicht mehr zu retten vermocht. Durch die Kraft seines Gemüthes jedoch noch immer zu Hoffnung geneigt, überließ er sich den Möglichkeiten der Zukunft und glaubte eines Tages über das Weib zu triumphiren, das ihm eine so gewaltige Liebe eingeflößt hatte.

Während ihn seine Diener für die Nacht entkleiden halfen, fiel ihm plötzlich der Gedanke an Nydia bei. Er fühlte, wie nothwendig es war, daß Ione nie etwas von ihres Geliebten Wahnsinn erfahren, damit nicht diese Seelenstörung sein vorgebliches Verbrechen entschuldige. Erwägend aber, wie leicht es möglich sei, daß ihre Sklavinnen sie von der Anwesenheit Nydia's unter seinem Dache benachrichtigten und sie die Blinde zu sprechen wünsche, rief er einem seiner Freigelassenen zu: »Geh sofort zu Sosia, mein Kallias, und sag ihm, daß er unter keinem Vorwande die blinde Nydia aus ihrem Zimmer lasse. Doch halt – begib Dich zuerst zu den Dienerinnen meiner Mündel und befiel ihnen, ihr nicht zu sagen, daß das blinde Mädchen in meinem Hause ist. Geh – rasch!«

Der Sklave beeilte sich zu gehorchen. Nachdem er seinen Auftrag bei Ione's Dienerinnen vollzogen, suchte er den würdigen Sosia. Da er ihn nicht in der kleinen, zu seinem Schlafgemach bestimmten Zelle fand, so rief er seinen Namen laut und hörte nun aus dem daneben befindlichen Zimmer Nydia's die Stimme Sosia's antworten: »O Kallius, bist Du es? Die Götter seien gepriesen! Öffne die Thür, ich bitte Dich.«

Der Sklave schob den Riegel zurück und das klägliche Gesicht Sosias drängte sich heftig entgegen.

»Was? – In einem Zimmer mit dem jungen Mädchen, Sosia! Schäme Dich! Gibt es nicht reife Früchte genug im Haus, daß Du Dich mit solch unzeitlichen einläßt?«

»Nenne die kleine Hexe nicht,« unterbrach ihn Sosia ungeduldig, »sie wird mein Verderben sein!« und sofort theilte er dem Kallias die Geschichte von dem Luftgeist und von der Flucht der Thessalierin mit.

»So häng Dich nur auf, Unglücksvogel! Ich habe Dir gerade etwas von Arbaces ans Herz zu legen – daß Du das Mädchen unter keinem Vorwand, auch nicht für einen Augenblick, aus diesem Zimmer lassen sollst.«

»Me miserum! rief der Sklave, »was kann ich thun? – Jetzt wird sie schon in halb Pompeji herumgelaufen sein. Aber morgen will ich mich verpflichten, sie in ihren alten Schlupfwinkeln aufzufinden. Laß nur Nichts von der Sache verlauten, lieber Kallias.«

»Ich will Alles thun, was die Freundschaft vermag, so weit es sich mit meiner eigenen Sicherheit verträgt. Aber bist Du auch gewiß, daß sie das Haus verlassen hat? – Vielleicht ist sie noch hier irgendwo versteckt.«

»Wie wäre das möglich? In den Garten konnte sie leicht kommen, und die Thüre stund, wie ich Dir sagte, offen.«

»Nicht doch; denn gerade zu der Stunde, von der Du sprichst, war Arbaces mit dem Priester Kalenus im Garten. Ich ging dorthin, um einige Kräuter für das Bad meines Herrn auf morgen zu suchen; das Tischchen, das Du aufgestellt, sah ich wohl, aber die Thüre war, wie ich gewiß weiß, zu; verlaß Dich darauf, daß Kalenus durch den Garten eintrat und natürlich die Thüre hinter sich zumachte.«

»Aber sie war nicht verschlossen.«

»Doch; denn ich selbst, ärgerlich über eine Nachlässigkeit, die die Bronzen im Peristyl der Gnade des ersten besten Diebes preisgab, drohte den Schlüssel herum, zog ihn ab und – ich fand nämlich den betreffenden Sklaven nicht, sonst würde ich ihn tüchtig ausgezankt haben – hier steckt er noch in meinem Gürtel.«

»O gnädiger Bacchus, ich habe also nicht umsonst zu Dir gebetet. Laß uns keinen Augenblick verlieren; wir wollen sogleich in den Garten – vielleicht ist sie noch dort!«

Der gutmüthige Kallius willigte ein, dem Sklaven beizustehen, und nachdem sie vergeblich die anstoßenden Zimmer und die Nischen des Peristyls untersucht hatten, traten sie in den Garten.

Um dieselbe Zeit etwa hatte Nydia beschlossen, ihr Versteck zu verlassen und sich hinauszuwagen. Leicht zitternd, den Athem anhaltend, der bisweilen krampfhaft hervorbrach – jetzt an den blumenbekränzten Säulen des Peristyls hingleitend – dann den stillen Mondschein, der auf dessen eingelegten Boden hinfiel, mit ihrem Schatten verdunkelnd – hierauf die Terrasse des Gartens erklimmend und unter den düstern und athemlosen Bäumen hinschleichend, erreichte sie endlich die verhängnisvolle Thüre – um sie verschlossen zu finden. Wir alle haben schon jenen Ausdruck des Schmerzes, der Ungewißheit und der Furcht gesehen, den eine plötzliche Enttäuschung des Tastsinns, wenn ich nicht dieses Ausdrucks bedienen darf, auf dem Gesicht eines Blinden erscheinen läßt. Welche Worte aber wären im Stande, das fürchterliche Wehe, das Hinabsinken des ganzen Herzens zu schildern, das jetzt auf den Zügen der Thessalierin sichtbar war! Wieder und wieder tasteten ihre kleinen, zitternden Hände an der unerbittlichen Thüre umher. Armes Geschöpf! – Vergebens war all dein edler Muth, deine unschuldige List, dein Mühen, dem Jäger und seiner Meute zu entgehen. Nur wenige Schritte von dir stehen deine Verfolger, lachend über deine Bemühungen – deine Verzweiflung; denn sie wissen, daß du ihnen nicht mehr entrinnen kannst, und warten mit grausamer Geduld den beliebigen Augenblick ab, ihre Beute zu erfassen. Wohl dir, daß Du sie nicht siehst!

»Still, Kallius, laß sie machen, wir wollen sehen, was sie anfängt, wenn sie sich überzeugt hat, daß die Thüre verschlossen ist.«

»Sieh – jetzt erhebt sie das Gesicht zum Himmel – sie murmelt etwas – sie sinkt verzweifelnd nieder! Nein – beim Pollux, sie hat irgend einen neuen Plan; sie ergibt sich noch nicht! Beim Jupiter, ein zähes Köpfchen! Sieh, jetzt springt sie auf – jetzt schlägt sie den Rückweg ein – sie denkt an einen andern Ausweg! Ich rathe Dir, Sosia, nicht länger zu zögern. Pack sie, ehe sie den Garten verläßt – jetzt!«

»Ha, Wegläuferin! Habe ich Dich wieder – he?« rief Sosia, die unglückliche Nydia fassend.

Wie der letzte menschenähnliche Schrei des Hasen in den Fängen der Hunde – wie der durchdringende Schreckensruf, den ein plötzlich aufgeweckter Nachtwandler ausstößt – war der Schrei des blinden Mädchens, als sie den plötzlichen Griff ihres Kerkermeisters fühlte. Es war ein Schrei jener fürchterlichen Todesqual, jener vollendeten Verzweiflung, so im Ohre jedes Hörers bis auf die fernsten Zeiten fortzutönen vermöchte. Ihr war, als würde jetzt dem sinkenden Glaukus das letzte Brett aus den Händen gerissen. Bisher war es ein Kampf zwischen Leben und Tod gewesen, jetzt aber hatte der Tod das Spiel gewonnen.

»Götter!« rief Kallias, »dieses Geschrei wird das Haus in Aufregung bringen! Arbaces hat einen sehr leisen Schlaf. Stopfe ihr den Mund!«

»Ach ja, da habe ich gerade das Tuch, mit welchem die junge Hexe meinen Verstand wegzauberte. Komm her, so ist's recht; jetzt bist Du stumm und blind zugleich.«

Und die leichte Bürde in seine Arme nehmend, erreichte Sosia bald das Haus und das Zimmer, aus welchem Nydia entwichen war. Dort nahm er ihr den Knebel ab und überließ sie einer Einsamkeit, die so qualvoll und fürchterlich war, daß sie den Hades selbst kaum an Schrecken zu überbieten vermöchte.


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