Edward Bulwer-Lytton
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer-Lytton

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Drittes Kapitel.

Die Christenversammlung.

Gefolgt von Apäcides, erreichte der Nazarener das Ufer des Sarnus. Dieser Fluß, der heutzutage zu einem Bächlein eingeschrumpft ist, stürzte sich damals munter in das Meer, bedeckt mit zahllosen Fahrzeugen und aus seinen Wogen die Gärten, die Weinberge, die Paläste und die Tempel von Pompeji zurückwerfend. Von seinen geräuschvolleren und besuchteren Gestaden wandte Olinth seine Schritte einem Pfade zu, der in geringerer Entfernung vom Flusse unter dem Schatten von Bäumen sich hinabschlängelte. Dieser Weg war des Abends ein Lieblingsplätzchen der Pompejaner, während der Hitze und Lasten des Tages aber selten besucht, außer etwa von einigen Gruppen spielender Kinder, einem nachdenkenden Poeten oder einigen streitsüchtigen Philosophen. Auf der vom Ufer entferntesten Seite tauchten unter dem zarteren und schwindenden Laubwerk mehre Buchsbäume auf, und diese waren in tausend wunderliche Gestalten geschnitten, indem sie bald Faunen und Satyre, bald die Nachahmung egyptischer Pyramiden, bisweilen auch die Buchstaben darstellten, welche den Namen eines beim Volke beliebten oder hochgestellten Bürgers bildeten. So ist der falsche Geschmack ebenso alt als der reine, und die Kaufleute, welche sich vor hundert Jahren nach Hackney und Paddington zurückzogen, ahnten vielleicht nicht, daß sie zu ihren verstümmelten Eibenbäumen und ihrem ausgeschnittenen Buchs in der versteinerten Periode des römischen Alterthums, in den Gärten Pompeji's und den Villen des so schwer zu befriedigenden Plinius ihre Vorbilder finden konnten.

Dieser Spaziergang war jetzt, wo die Mittagssonne senkrecht durch das bunte Laub herabbrannte, gänzlich verlassen. Wenigstens brachen keine andere Gestalten als die des Olinth und des Priesters auf die Einsamkeit herein. Die Beiden setzten sich auf eine der Bänke, die in gewissen Entfernungen in der Weise zwischen die Bäume gestellt waren, daß unsern Freunden die schwache Brise, die langsam vom Flusse herkam, ins Gesicht wehte, dessen Wellen vor ihnen tanzten und funkelten; – ein eigenthümliches und merkwürdig contrastirendes Paar! – ein Bekenner des jüngsten und ein Priester des ältesten Cultus der Welt!

»Bist Du,« fragte Olinth, »glücklich gewesen, seit Du mich so plötzlich verlassen? Hat Dein Herz seine Zufriedenheit gefunden unter diesem priesterlichen Gewande? Hast Du in Deinem Verlangen nach der Stimme Gottes etwas gehört, daß sie Dir aus den Orakeln der Isis Trost zuflüsterte? Dieser Seufzer, dieses abgewandte Gesicht, geben mir diejenige Antwort, die meine Seele voraussagte.«

»Ach,« entgegnete Apäcides wehmütig, »Du siehst einen elenden und verstörten Mann vor Dir! Von meiner Kindheit an habe ich die Tugend schwärmerisch angebetet, habe die Heiligkeit von Männern beneidet, die in Höhlen und einsamen Tempeln in die Gesellschaft überirdischer Wesen zugelassen wurden; meine Tage verzehrten sich in fieberhaften und unbestimmten Wünschen, meine Nächte in Visionen, die, obwohl sie feierlich waren, mich doch nur höhnten. Verführt durch die geheimnisvollen Prophezeihungen eines Betrügers habe ich dieses Gewand angelegt; meine Natur – ich bekenne es Dir frei – meine Natur empörte sich über das, was ich sah und woran ich Theil zu nehmen verdammt war! Nach Wahrheit ringend, ward ich nur ein Diener der Lüge. An dem Abend, an welchem wir uns zuletzt sahen, wurde ich durch Hoffnungen emporgehoben, die derselbe Betrüger, den ich bereits besser hätte kennen sollen, in mir erweckt hatte. Ich habe – doch lassen wir das – genug, ich habe Meineid und Sünde der Übereilung und der Betrübnis beigefügt. Nunmehr aber ist der Schleier für immer von meinen Augen gerissen – ich sehe einen Schurken, wo ich einem vermeintlichen Gotte gehorchte; die Erde dunkelt vor meinen Augen, ich befinde mich im tiefsten Abgrund der Finsternis; ich weiß nicht, ob es Götter da oben gibt – ob wir Geschöpfe des Zufalls sind – ob jenseits des beschränkten und düsteren Jetzt Vernichtung oder ein Nachher folgt – sage mir also Deinen Glauben, löse mir diese Zweifel, wenn Du in Wahrheit die Macht dazu hast.«

»Ich wundere mich nicht,« antwortete der Nazarener, »daß Du also geirrt hast, also zum Zweifler geworden bist. Vor 80 Jahren hatte der Mensch noch keine Gewißheit von Gott oder von einer sichern und bestimmten Zukunft jenseits des Grabes. Neue Gesetze sind dem verkündet worden, der Ohren hat zu hören – ein Himmel, ein wahrer Olymp, ist dem enthüllt, der Augen hat zu sehen – habe also Acht und höre.«

Und mit dem ganzen Ernste eines Mannes, der selbst inständig glaubt und eifrig ist, Andere zu bekehren, trug der Nazarener dem Apäcides die Verheißungen der Schrift vor. Er redete zuerst von den Leiden und Wundern Christi, weinte, während er sprach, und ging sodann zu den Herrlichkeiten der Auferstehung des Heilandes, zu der klaren Verheißung der Offenbarung über. Er beschrieb jenen reinen und unsinnlichen Himmel, der der Tugendhaften harrte; jene Flammen und Qualen, die das Los der Sünder seien.

Zweifel, wie sie in dem Geiste späterer Vernünftler hinsichtlich der unermeßlichen Opferung Gottes für die Menschen, sich einstellen, konnten einem Helden jener Zeit sich durchaus nicht aufdrängen. Dieser war daran gewöhnt zu glauben, daß die Götter auf Erden gelebt, menschliche Gestalten angenommen, menschliche Leidenschaften, menschliche Beschäftigungen und menschliches Mißgeschick getheilt hätten. Was war denn das Wirken des Sohnes der Alkmäna, auf dessen Altären jetzt der Weihrauch von zahllosen Städten brannte, anders denn eine zum Besten des Menschengeschlechts übernommene Mühe? Hatte nicht der große horische Apoll eine mystische Sünde dadurch gesühnt, daß er zum Grabe hinabstieg? Alle Gottheiten des Himmels waren die Gesetzgeber oder Wohlthäter der Erde gewesen, und Dankbarkeit hatte zu ihrer Anbetung geführt. Für einen Heiden lag somit weder etwas Neues noch etwas Sonderbares in der Lehre, daß Christus vom Himmel gepflanzt worden sei und ein Unsterblicher die Sterblichkeit angenommen und die Bitterkeit des Todes verschmeckt habe; das Ziel aber, um Dessentwillen er also gerungen und also gelitten – wie unendlich herrlicher erschien es dem Apäcides als das, um Dessentwillen die alten Gottheiten die niedere Erde besucht und die Thore des Todes durchschritten hatten! War es nicht eines Gottes würdig, in die dunklen Thäler herabzusteigen, um die Wolken zu zerstreuen, die sich über dem dunklen Berge jenseits zusammgezogen hatten – um die Zweifel der Weisen zu stillen – um Vermuthung in Gewißheit zu verwandeln – und durch das eigene Beispiel die Regeln des Lebens vorzuzeichnen und durch Offenbarung das Geheimnis des Grabes zu lösen und zu beweisen, daß die Seele keiner vergeblichen Sehnsucht sich hingebe, wenn sie von einer Unsterblichkeit träume? Dieser letzte Punkt hauptsächlich war der stärkste Beweis jener niedern Männer, welche die Erde zu bekehren bestimmt waren. Wie dem Stolze und den Hoffnungen der Menschen nichts mehr schmeichelt, als der Glaube an einen künftigen Zustand, so konnte auch nichts unbestimmter und verworrener sein, als die Begriffe der heidnischen Weisen über diesen mystischen Gegenstand.

Das wußte Apäcides bereits, daß der Glaube der Philosophen nicht der der großen Heerde war; daß, wenn sie auch insgeheim an eine göttliche Macht glaubten, sie es doch nicht für klug hielten, diesen Glauben der Masse mitzutheilen. Bereits wußte er, daß selbst der Priester das verlache, was er dem Volke predigte, daß die Begriffe der Vielen und er Wenigen beständig von einander abwichen. In diesem neuen Glauben hingegen schienen ihm Philosophen, Priester und Volk, die Ausleger der Religion wie ihre Jünger vollständig übereinzustimmen; sie grübelten und stritten nicht über Unsterblichkeit, sondern sprachen davon, als von etwas Gewissen und Zugesicherten. Die Erhabenheit der Verheißung blendete, ihre Tröstungen beruhigten ihn. Denn der christliche Glaube machte seine frühesten Bekehrungen unter Sündern. Manche seiner Väter und Märtyrer waren Männer, welche die Bitterkeit des Lasters gefühlt hatten, und sich deshalb durch seinen falschen Schein nicht mehr von dem Pfad einer strengen und unwandelbaren Tugend verlocken ließen. Alle die Zusicherungen dieses heilenden Glauben luden zur Buße ein – paßten besonders für die am Geiste Zerschlagenen und Kranken; und gerade die Reue, welche Apäcides über seine neuesten Ausschweifungen empfand, zog ihn zu einem Manne hin, der in dieser Reue etwas Heiliges sah und von der Freude sprach, die im Himmelreich sein werde über einen Sünder, der Buße thue.

»Komm,« sprach der Nazarener, als er die von ihn hervorgebrachte Wirkung gewahrte, »komm in die niedere Halle, in welcher wir uns versammeln, eine kleine Schaar von Auserlesenen und Erwählten. Höre dort unsere Gebete an; betrachte die Aufrichtigkeit unserer reumüthigen Thränen; nimm Theil an unserem einfachen Opfer, bei welchem wir keine Thiere oder Kränze darbringen, sondern unbefleckte Gedanken auf dem Altare des Herzens niederlegen; unsere Blumen sind unvergänglich, sie blühen über uns, wenn wir nicht mehr sind, ja sie begleiten uns bis jenseits des Grabes, sprossen im Himmel unter unsren Füßen auf, entzücken uns durch ewigen Duft, denn sie gehören der Seele an und theilen ihre Natur; diese Opfergaben sind überwundene Versuchungen und bereute Sünden. Komm, o komm! verliere keinen weiteren Augenblick, bereite Dich schleunigst auf die große, die hehre Reise von der Dunkelheit zum Licht, von der Betrübnis zur Wonne, von der Verderbnis zur Unsterblichkeit. Dies ist der Tag des Herrn, ein Tag, den wir zu unsrer Andacht besonders ausgewählt haben. Obgleich wir gewöhnlich Nachts zusammenkommen, sind doch auch jetzt schon Einige von uns versammelt. Welche Freude, welcher Triumph wird bei uns Allen sein, wenn wir ein verwirrtes Lamm in die heilige Hürde bringen können.«

Dem Apäcides, der von Natur ein so reines Herz besaß, schien etwas unaussprechlich Edles und liebreiches in dem Geiste der Bekehrung zu liegen, welcher den Olinth beseelte – ein Geist, der in dem Glücke Anderer seine eigene Wonne fand, dessen umfassende Menschenliebe darnach strebte, sich Genossen für die Ewigkeit zu schaffen. Er fühlte sich gerührt, erweicht, bezwungen. Er war durchaus nicht in der Stimmung, gerne allein bleiben zu wollen; auch die Neugierde mischte sich in seine reineren Triebe – er wünschte die religiösen Gebräuche zu sehen, über welche so viele dunkle und widersprechende Gerüchte im Umlauf waren. Einen Augenblick hielt er an, schaute auf sein Kleid, dachte an Arbaces, schauderte vor Schrecken und erhob seine Augen zu der breiten Stirne des Nazareners, auf der sich ängstliche und wachsame Sorge, aber nur für sein Bestes, für seine Rettung, aussprach! Dann hüllte er sich in seinen Mantel ein, so daß dieser sein Amtskleid völlig verbarg und sagte: »Führe mich, ich will Dir folgen.«

Olinth drückte ihm freudig die Hand, stieg mit ihm zum Ufer des Flusses hinab und rief eines der Boote herbei, die dort beständig umherfuhren. Sie bestiegen dasselbe; eine übergespannte Decke, die sie vor der Sonne schützte, sicherte sie auch zugleich vor der Beobachtung Fremder. Schnell fuhren sie über das Wasser hin. Aus einem Boote, das an ihnen vorbeifuhr, ertönte eine sanfte Musik und sein Vordertheil war mit Blumen geschmückt; es glitt der See zu.

»So,« sagte Olinth wehmütig, »so segeln die Götzendiener irdischer Pracht, unbewußt und freudig in ihren Täuschungen, auf den großen Ocean des Sturmes und Schiffbruches hinaus; still und unbeobachtet fuhren wir an ihnen vorbei, um das Land zu erreichen.«

Apäcides schlug die Augen auf und gewahrte durch die Oeffnung an der Decke das Gesicht einer der Personen, die sich in jener m untern Barke befanden – es war das Gesicht Ione's. Die Liebenden hatten sich zu jener Spazierfahrt eingeschifft, auf der wir sie begleiten. Der Priester seufzte und sank auf seinen Sitz zurück. In der Vorstadt, an einer Stelle, wo eine Reihe kleiner und bescheidener Häuser sich bis zum Flusse hinstreckten, erreichten sie das Ufer. Sie traten ans Land, und Olinth, der dem Priester voranging, führte diesen durch ein Labyrinth von Gäßchen, bis er endlich vor der verschlossenen Thüre einer etwas größeren Behausung anlangte. Dreimal klopfte er; die Thüre ging auf und schloß sich wieder, so bald Apäcides seinem Führer über die Schwelle nachgefolgt war.

Nachdem sie ein einsames Atrium durchschritten, gelangten sie in ein inneres Gemach von mäßiger Größe, das, wenn die Thüre geschlossen war, all sein Licht nur durch ein kleines, über der Thüre selbst angebrachtes Fenster erhielt. An der Schwelle dieses Zimmers jedoch blieb Olinth stehen, klopfte an und sagte: »Friede sei mit Euch!« worauf eine Stimme von innen antwortete: »Friede mit wem?«

»Mit den Gläubigen,« entgegnete Olinth und die Thüre ging auf. Da saßen zwölf oder vierzehn Personen, schweigend und dem Anscheine nach in Gedanken versunken, in einem Halbkreise, ihnen gegenüber aber befand sich ein roh aus Holz geschnitztes Kruzifix.

Als Olinth eintrat, schlugen sie, ohne zu sprechen, ihre Augen auf; der Nazarener selbst kniete, bevor er sie anredet, sofort nieder und aus seinem bewegten Lippen und dem fest auf das Kreuz gerichteten Blicke, ersah Apäcides, daß er im Stillen betete. Nachdem diese religiöse Handlung vollbracht war, wandte sich Olinth gegen die Versammlung mit den Worten: »Männer und Brüder, erschreckt nicht, einen Priester der Isis in Eurer Mitte zu sehen; er hat bei den Blinden geweilt, aber der Geist ist über ihn gekommen; er wünscht zu sehen, zu hören und zu verstehen.«

»Möge er das thun,« sagte einer von der Versammlung, in welchem Apäcides einen noch jüngern Mann als er selbst, erblickte, von einem gleich blassen und abgemagerten Gesicht, dessen Auge in gleichem Maaße die rastlose und feurige Thätigkeit eines regsamen Geistes zur Genüge andeutete.

»Möge er das thun,« wiederholte eine zweite Stimme, und der also sprach, stund in der Mitte seines Mannesalters; seine bronzierte Haut und seine asiatischen Züge verriethen in hm einen Sohn Syriens – in seiner Jugend war er ein Räuber gewesen.

»Möge er das thun,« sagte eine dritte Stimme und der Priester, der sich von Neuem nach dem Sprechenden umwandte, sah nun einen alten Mann mit langem, grauen Barte, in welchem er einen Sklaven des reichen Diomed erkannte.

»Möge er das thun,« wiederholten einstimmig die übrigen Leute, die, einen Officier der Leibwache und einen Kaufmann aus Alexandria ausgenommen, augenscheinlich der unteren Kaste angehörten.

»Wir verpflichten Dich nicht,« begann Olinth von Neuem, »wir verpflichten Dich nicht zur Geheimhaltung; wir legen Dir keine Eide auf, uns nicht zu verrathen, wie es manche unserer schwächeren Brüder thun würden. Es gibt allerdings kein bestimmtes Gesetz gegen uns, aber die Menge, wilder als ihre Gebieter, dürstet nach unserm Leben. So meine Freunde war es, als Pilatus zögerte, das Volk, welches schrie: ›Kreuzige ihn, kreuzige ihn!‹ Aber wir verpflichten Dich nicht zu unserer Sicherheit – nein, verrathe uns der Menge – klage uns an, lästere und verleumde uns, wenn Du willst; wir stehen über dem Tod, und würden freudig in die Löwengrube oder auf die Folterbank gehen – wir können das Dunkel des Grabes niedertreten und was für einen Verbrecher Tod ist, das ist für den Christen Ewigkeit.«

Ein leises und beifälliges Flüstern machte sich in der Versammlung bemerklich.

»Du bist in unsere Mitte gekommen als ein Prüfender, mögest Du bleiben als ein Bekehrter. Unsere Religion? Du siehst sie! Jenes Kreuz ist unser einziges Bild, jene Rolle enthält die Geheimnisse unseres Cäre und Eleusis! Unsere Moral? sie spricht sich in unserem Leben aus! Sünder sind wir Alle gewesen; wer kann uns aber jetzt eines Verbrechens anklagen? Wir haben die Vergangenheit in der Taufe von uns abgewaschen. Glaube nicht, dies sei unser Vollbringen, es ist Gottes Werk. Komm her, Medon,« dem alten Sklaven zuwinkend, welcher der dritte gewesen, der für die Zulassung des Apäcides gesprochen hatte, »Du bist der Einzige unter uns, der nicht frei ist; aber im Himmel werden die Letzten die Ersten werden und so sei es auch bei uns. Entfalte jene Rolle, lies und erkläre.«

Wir haben wohl nicht nöthig, der Vorlesung Medons oder den Erläuterungen der Versammlung hier Wort für Wort zu folgen. Jene damals seltsamen und neuen Lehren sind jetzt allgemein bekannt. Achtzehn Jahrhunderte haben uns aus der Lehre der Schrift oder dem Leben Christi wenig zu erläutern übrig gelassen. Auch würden wir in den Zweifeln, welche einem heidnischen Priester sich aufdrängten, wenig mit unsern Ideen Verwandtes, sowie wenig Gelehrsamkeit in den Antworten finden, die bloße Zweifel von unerzogenen, ungebildeten und einfachen Leuten erhielten, deren einzige Kenntnis in dem Bewußtsein bestand, daß sie größer waren, als sie schienen.

Etwas rührte den Neapolitaner besonders; als die Vorlesung beendigt war, hörte man ein sehr leises Klopfen an der Thüre; das Einlaßwort wurde auf vorgängiges Befragen gegeben, die Thüre öffnete sich und zwei Kinder, deren ältestes sieben Jahre alt sein mochte, traten schüchtern ein. Es waren die Kinder des Hausherrn, jenes dunklen und kräftigen Syriers, der seine Jugend unter Rauben und Blutvergießen zugebracht hatte. Der älteste der Gemeinde, jener alte Sklave, öffnete ihnen seine Arme; sie flogen zu ihm hin, kletterten zu seiner Brust hinauf und seine harten Züge wurden mild, als er sie liebkoste. Und diese kühnen und inbrünstigen Männer, unter dem Wechsel der Dinge aufgewachsen, von den rauhen Winden des Lebens zerschlagen – Männer von eiserner und unbezwinglicher Tapferkeit, bereit, einer Welt die Stirne zu bieten, gefaßt für die Folter und gewaffnet für den Tod – Männer, die jeden denkbaren Gegensatz zu den schwachen Nerven, den leichten Herzen, und der zarten Gebrechlichkeit der Kinder darboten, drängten sich nunmehr um die Kleinen, die Falten ihrer Stirne legte sich und ein freundliches und herzliches Lächeln trat auf ihre bärtigen Lippen. Dann öffnete der alten Mann die Rolle und lehrte die Kinder jenes schöne Gebet nachsprechen, das wir noch immer das Gebet des Herrn heißen und auch unser Kinder lehren. Dann erzählte er ihnen in einfacher Sprache von der Liebe Gottes zu der Jugend, und wie kein Sperling vom Dache falle, ohne daß es sein Auge sehe. Dieser liebliche Brauch, die Kinder in die Religion einzuweihen, wurde in der frühesten Kirche lange Zeit beibehalten, zum Gedächtnis der Worte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.« Und von ihm vielleicht rührte jene abergläubische Verleumdung her, die den Nazarenern dasjenige Verbrechen zuschrieb, welches die Nazarener, als sie Sieger waren, den Juden zur Last legten, nämlich das Einziehen von Kindern zu ihren abscheulichen Gebräuchen, bei welchen diese insgeheim geschlachtet würden.

Der ernste, reuige Vater aber schien in der Unschuld seiner Kinder eine Rückkehr zu seinem früheren Leben zu fühlen – zu seinem Leben, ehe er gesündigt hatte. Der Bewegung ihrer jungen Lippen folgte er mit ernstem Blicke; er lächelte, als sie mit schüchterner und ehrerbietiger Miene die heiligen Worte nachsprachen, und als diese Belehrung vorüber war, und sie frei und heiter auf seinen Schooß sprangen, da drückte er sie an seine Brust, küßte sie zu wiederholtenmalen, und Thränen flossen seine Wangen hinab – Thränen, deren Quelle aufzufinden unmöglich gewesen wäre, so sehr vermischten sich in ihnen Freude und Kummer, Reue und Hoffnung, die Gewissensbisse der eigenen Brust und Liebe für die Kleinen!

Es lag etwas, sage ich, in dieser Scene, das den Apäcides besonders ergriff, und es ist in der That schwer, eine feierliche Handlung zu erdenken, die der Religion der Liebe entsprechender wäre, mehr zu den gewöhnlichen und allgemeinsten Gefühlen spräche, eine empfänglichere Saite in der Menschenbrust berührte.

In diesem Augenblicke öffnete sich eine innere Thüre leise und ein sehr alter Mann trat, auf einen Stab gestützt, in das Zimmer. Bei seinem Eintritt erhob sich die ganze Versammlung; ein Ausdruck tiefer und zärtlicher Achtung malte sich auf jedem Gesichte, und Apäcides fühlte sich, als er die Züge des Eintretenden betrachtete, durch eine unwiderstehliche Sympathie zu ihm hingezogen. Nie sah Jemand ohne Liebe auf dieses Gesicht; denn auf ihm hatte das Lächeln der Gottheit, der Menschwerdung göttlicher Liebe geruht und die Herrlichkeit jenes Lächelns war nie wieder verschwunden!

»Meine Kinder, Gott sei mit Euch,« sprach der Alte, seine Arme ausbreitend, während die Kindlein auf ihn zusprangen. Er setzte sich nieder und sie nisteten sich liebkosend in seinen Schooß. Ein herrlicher Anblick, diese Vereinigung der Extreme des Lebens – der aus seiner Quelle sprudelnde Bach und der majestätische, dem Ocean der Ewigkeit zueilende Strom. Wie das Licht des scheidenden Tages Erde und Himmel zu vereinigen scheint, indem es die Umrisse beider kaum sichtbar macht und die rauhen Bergspitzen mit dem Himmel verschmilzt, so schien auch das Lächeln dieses liebreichen alten Mannes die äußere Erscheinung derer, die ihn umgaben, zu heiligen, die scharfen Unterscheidungen der verschiedenen Jahre zu verschmelzen und über Kindheit und Mannesalter das Licht des Himmels auszugießen, in welchem es so bald verschwinden und sich verlieren sollte.

»Vater,« sagte Olinth, »Du, an dessen Leib das Wunder unsers Erlösers wirkte, Du, der dem Grabe entrissen wurde, um ein lebendiger Zeuge seiner Gnade und seiner Macht zu werden, siehe einen Fremdling in unserer Versammlung – ein neues Lamm, das in die Hände geführt wurde!«

»Laßt mich ihn segnen,« sprach der Greis und Alle machten ihm Platz. Apäcides näherte sich instinktmäßig und fiel vor ihm auf die Kniee; der Greis legte seine Hand auf des Priesters Haupt und segnete ihn, aber mit leiser Stimme. Während seine Lippen sich bewegten, waren seine Augen gen Himmel gewandt und Thränen – wie sie gute Menschen nur in der Hoffnung auf das Glück Anderer vergießen – flossen ihm reichlich über die Wangen.

Die Kleinen hielten sich zu beiden Seiten des Neubekehrten, sein Herz war wie das ihrige – er war geworden wie eines von ihnen, um in das Himmelreich zu kommen.


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