Edward Bulwer-Lytton
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer-Lytton

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Viertes Kapitel.

Die Geschichte verweilt einen Augenblick bei einer Episode.

Unstät und unruhig hatte sich Apäcides den Rest des Tages hindurch auf den einsamsten Spaziergängen in der Nähe der Stadt umhergetrieben. Die Sonne ging langsam unter, als er an einer unbesuchten Stelle des Sarnus, wo sich dieser noch nicht durch die Bauten und Anlagen der Üppigkeit und der Macht hindurchwand, stille hielt. Nur durch einige Öffnungen im Wald und in den Weinbergen gewahrte man hier und da einen Theil der weißen und glänzenden Stadt; aber in dieser Entfernung wurde kein Lärm, kein Ton, kein geschäftiges Summen der Menschen gehört. An den grünen Ufern kroch die Eidechse, hüpfte die Heuschrecke, und da und dort brach ein einsamer Vogel in einen plötzlichen Gesang aus, der ebenso schnell wieder verstummte. Tiefe Ruhe herrschte rings umher, aber nicht die Ruhe der Nacht; die Luft athmete noch die Frische und das Leben des Tages; das Gras regte sich noch von der Berührung der Insektenschaar und auf dem jenseitigen Ufer durchstreifte die anmuthige, weiße Ziege nagend das Grün und hielt am Wasser, um zu trinken.

Während Apäcides nachdenkend auf die Wogen hinschaute, hörte er neben sich das leise Bellen eines Hundes.

»Still, armer Freund,« sagte eine Stimme in der Nähe, »des Fremdlings Tritt fügt deinem Herrn keinen Schaden zu.«

Der Neubekehrte erkannte die Stimme; er wandte sich um und erblickte den alten geheimnisvollen Mann, den er in der Versammlung der Nazarener getroffen hatte.

Der Greis saß auf einem mit altem Moos bedeckten Steine; neben ihm lagen Stab und Reisetasche, zu seinen Füßen aber ein kleiner zottiger Hund, sein Begleiter auf so vielen gefährlichen und wunderbaren Pilgerfahrten!

Das Gesicht des alten Mannes war wie Balsam für den aufgeregten Geist des Neophyten; er näherte sich ihm, bat ihn um seinen Segen und setzte sich zu seiner Seite nieder.

»Du hast Dich wie zu einer Reise eingerichtet, Vater,« sagte Apäcides, »willst Du uns schon verlassen?«

»Mein Sohn,« erwiderte der Greis, »der Tage, die ich noch auf Erden zu leben habe, sind nur wenige; ich wende sie, wie es meine Pflicht ist, an, um von Ort zu Ort zu wandern, Diejenigen zu trösten, die Gott versammelt hat in seinem Namen und die Herrlichkeit seines Sohnes zu verkünden, wie sie sich an seinem Diener bewährt hat.«

»Wie man mir sagt, hast Du das Antlitz Christi geschaut?«

»Und dieses Antlitz erweckte mich von den Todten. Wisse denn, junger Bekenner des wahren Glaubens, daß ich der bin, von welchem Du in der Schrift des Apostels liest: Im fernen Judäa, in der Stadt Nain, lebte eine Wittwe, demüthigen Geistes und traurigen Herzens; denn von all den Wesen, die sie an das Leben fesselten, war ihr nur ein einziger Sohn geblieben; und sie liebte ihn mit wehmütiger Liebe, denn er war das Ebenbild des Verlorenen. Und der Sohn starb. Das Rohr, worauf sie sich stützte, war gebrochen, vertrocknet das Öl im Krüglein der Wittwe. Sie trugen den Todten auf einer Bahre hinaus, und nahe beim Stadtthor, wo sich viel Volk versammelt hatte, kam ein Stillschweigen über die Töne der Trauer, denn der Sohn Gottes ging vorüber. Die Mutter, welche der Bahre folgte, weinte nicht laut, aber alle, welche sie betrachteten, sahen, daß ihr Herz zerschlagen war. Und den Herrn jammerte ihrer, er rührte den Sarg an und sprach: Jüngling, ich sage Dir, stehe auf. Und der Todte richtete sich auf und schaute in das Antlitz des Herrn. Oh, jene ruhige und heilige Stirne – jenes unbeschreibliche Lächeln – jenes von Kummer abgehärmte und wehmuthsvolle, von dem Wohlwollen eines Gottes aufgehellte Gesicht, es vertrieb die Schatten des Grabes. Ich richtete mich auf – ich sprach – ich lebte und lag in meiner Mutter Armen – ja, ich bin der zum Leben erweckte Todte! Das Volk schrie – die Leichenflöten erklangen in Thönen der Freude – es war nur ein Ruf – Gott hat sein Volk heimgesucht! – Ich hörte nichts – ich fühlte – ich sah nichts – als das Antlitz des Erlösers!«

Der Greis hielt einen Augenblick tief bewegt inne und der Jüngling fühlte, wie ein Schauer durch alle seine Glieder zog und sein Haar sich sträubte. Er stund einem Manne gegenüber, der das Geheimnis des Todes geschaut hatte.

»Bis zu jener Zeit,« nahm der Sohn der Wittwe von Neuem das Wort, »war ich gewesen wie andere Leute, gedankenlos, doch nicht verworfen – mich um nichts bekümmernd als um Liebe und Leben; ja, ich hatte mich zu den düstern Glauben der sinnlichen Saduzäer hingeneigt! Aber auferstanden von den Todten, aus fürchterlichen und öden Träumen, die diese Lippen nie enthüllen dürfen – wieder auf die Erde berufen, um die Macht des Himmels zu bestätigen – noch einmal sterblich geworden, um für die Unsterblichkeit Zeugnis abzulegen, brachte ich einen neuen Menschen aus dem Grabe mit. O unglückliches, o verlorenes Jerusalem – Ihn, von dem mein Leben kam, sah ich zu schrecklichem und qualvollem Tode verurtheilt – denn im dichten Gedräng sah ich das Licht über dem Kreuze schweben und leuchten – ich hörte Hohngeschrei des Volks – ich schrie laut – ich wüthete – ich drohte – Niemand kümmerte sich um mich – ich war verloren im Strudel und Gebrüll von Tausenden! aber selbst damals, in meiner und seiner Todesqual, schien es mir, als ob mich das glänzende Auge des Menschensohnes suche – seine Lippe lächelte, als ob sie den Tod besiegte – das beschwichtigte mich und ich wurde ruhig. Was war das Grab für ihn, der für einen Andern dem Grabe Trotz geboten? Die Sonne warf ihre schiefen Strahlen auf die blassen und so gewaltig zum Herzen sprechenden Züge und erlosch sodann. Finsternis fiel über die Erde, aber wie lange sie dauerte, weiß ich nicht – ein lauter Schrei erfüllte das Dunkel – ein scharfer und bitterer Schrei und Alles war still.

»Aber wer kann die Schrecknisse jener Nacht beschreiben? Ich wandelte durch die Stadt – die Erde schwankte und die Häuser zitterten in ihren Grundfesten. – Die Lebenden hatten die Straßen verlassen, aber nicht die Todten; durch das Dunkel sah ich sie gleiten – die düstern und gespensterhaften Gestalten in den Gewändern des Grabes mit Schrecken und Wehe und Warnungen auf ihren unbeweglichen Lippen und lichtlosen Augen! Sie schwebten an mir vorbei – sie starrten mich an – ich war ihr Bruder gewesen – und sie neigten ihre Häupter zum Zeichen der Erkennung: – sie waren auferstanden, um den Lebenden zusagen, daß die Todten auferstehen können!«

Abermals hielt der alte Mann inne und fuhr sodann nach kurzer Pause in ruhigem Tone fort: »Von jener Nacht an entsagte ich jedem irdischen Gedanken, der nicht Ihm diente! Ein Prediger und ein Pilger habe ich die entferntesten Winkel der Erde durchreist, seine Göttlichkeit verkündend und neue Bekehrte seiner Heerde zuführend. Ich komme und gehe wie der Wind, und wie er, säe ich den Samen, welcher die Welt reich macht.

»Auf Erden werden wir uns nicht wiedersehen, mein Sohn! Vergiß diese Stunde nicht – was sind alle Genüsse und alle Herrlichkeiten dieses Lebens? Wie die Lampe schimmert, glänzt auch das Leben für eine Stunde; aber der Seele Licht ist der Stern, der ewig flammt in dem Herzen des unermeßlichen Raumes.«

Nunmehr ging ihr Gespräch auf die allgemeine, erhabene Lehre der Unsterblichkeit über; sie besänftigte und erhob das Gemüth des Neubekehrten, der noch vielfach an dem Dunst und Schatten jener Glaubenshöhle hing, die er erst neulich verlassen hatte – es war die Himmelsluft, die den endlich Freigelassenen anwehte. Zwischen dem Christenthum dieses alten Mannes und dem des Olinth herrschte ein gewaltiger und auffallender Unterschied; das des Ersteren war sanfter, milder, göttlicher. Der starke Heroismus des Olinth hatte etwas Trotziges, Unduldsames an sich; er war nothwendig zu der Rolle, die dieser zu spielen berufen war – er hatte mehr von dem Muthe des Märtyrers an sich, als von der Liebe des Heiligen. Statt zu überwältigen und zu sänftigen, regte und reizte er eher auf – stärkte er. Aber das ganze Herz des göttlichen Greises war in Liebe gebadet; das Lächeln der Gottheit hatte den Sauerteig irdischer und roher Leidenschaften hinweggenommen und ihm bei der Energie des Helden die ganze Sanftmuth des Kindes verliehen.

»Und jetzt,« sagte er sich endlich bedenkend, als der letzte Strahl der Sonne im Westen erstarb, »jetzt in der Kühle des Zwielichts setze ich meinen Weg nach dem kaiserlichen Rom fort; dort leben noch manche heilige Männer, die gleich mir das Angesicht Christi geschaut haben, und sie möchte ich gerne vor meinem Tode noch sehen.«

»Aber die Nacht ist kalt für Dein Alter, mein Vater, und der Weg ist lang und die Räuber belagern ihn; ruhe hier bis morgen.«

»Lieber Sohn, was ist in dieser Tasche, das den Räuber locken könnte? – Und die Nacht und die Einsamkeit – diese bilden die Leiter, auf welcher sich die Engel versammeln und unter der mein Geist von Gott träumen kann. Oh, Niemand kann wissen, was der Pilger fühlt, wenn er auf seinem einsamen Pfade dahinzieht; keine Furcht nährend und keine Gefahr erwartend – denn Gott ist mit ihm! Er hört die Winde frohe Botschaften flüstern; – die Wälder schlafen im Schatten der Fittige des Allmächtigen – die Sterne sind die Schrift des Himmels – die Zeichen der Liebe und die Bürgen der Unsterblichkeit – die Nacht ist des Pilgers Tag.«

Mit diesen Worten drückte der alte Mann Apäcides an seine Brust, nahm Stab und Tasche und setzte, während der Hund ihm munter vorausging, mit langsamen Schritten und niedergeschlagenen Augen seinen Weg fort.

Der Neubekehrte schaute der gebeugten Gestalt nach, bis sie gänzlich hinter den Bäumen verschwand, und als die Sterne hervorbrachen, erwachte auch Apäcides aus seinen Träumereien und erinnerte sich seiner Verabredung mit Olinth.


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