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59. Letzte Wegfahrt

Die Uebersiedlung der verwaisten Familie Schellmann wurde von Lamettrie sofort in die Wege geleitet. Aus Nordamerika, wohin das Geschehene berichtet war, kabelte Hulda: »Völlig einverstanden, Ende Oktober sind wir Schachthof.«

»Also!« meinte Lamettrie munter zu Frau Schellmann – »wirst sehen, wie wir alle Euch mit Treue umhegen. Ihr sollt Euch wohl fühlen im Ruhrgebiet, da bilden wir eine harmonische Familie. Von Hulda und dem Freundespaar Helmut und Gerhart kann ich Dir viel versprechen, und wie freue ich mich, Friedel miterziehen zu dürfen! Seinem Vater und seiner Mutter soll er mal Ehre machen.«

Marta Schellmann brach in Tränen aus. Die Güte ihrer neuen Verwandte ergriff und tröstete sie.

Von ihrem Bruder – es war ja derselbe Vetter Helmuts, der jenen bedeutsamen Brief aus Amerika geschrieben hatte – erhielt Frau Schellmann ein Schreiben voll echter Teilnahme am Tode ihres Mannes und voll Dankbarkeit über die Wendung des Schicksals der Familie Erlenbach.

Nach einem regnerischen Sommer war ein Herbst voll traumhaft schönem Sonnenwetter über die Gebirgswelt gekommen. Ende Oktober sollte die Familie durch den Forstmeister zum Schachthofe gebracht werden. Vor dem Scheiden vom Riesengebirge aber wollten die beiden Alten noch etliches von dessen Großartigkeit durch eine Wanderung über den Kamm kennen lernen. Da sie noch rüstig zu Fuß waren, hatten sie den Plan, von Krumhübel über die Hampelbaude zur Schneekoppe zu gehen. Daselbst wollten sie übernachten und am nächsten Vormittage weiter marschieren bis zur neuen schlesischen Baude. Dorthin sollte Friedrich den kleinen Friedel von Schreiberhau aus begleiten, damit dieser vor seinem Scheiden vom Riesengebirge wenigstens den Aufstieg längs des Zackelfalls und den Kammweg ins Böhmische kennen lerne.

Der erste Tag der Wanderung war von trockenem Sommerwetter begünstigt. Der Weg zur Schneebaude wurde aber so windig und rauh, daß Lamettrie zum Forstmeister bemerkte: »Gut, daß Mohrchen bei Friedrich geblieben ist, und daß ich diesem den Auftrag gab, meinen Pelzmantel zur Neuen schlesischen Baude mitzubringen.«

»Pelzmantel? Ist der nicht zu schwer? Wir hatten doch bisher ganz warmes Herbstwetter, und so werden die paar Tage auch noch schön bleiben.«

»Es ist ein sibirischer Pelzmantel, der sich außerordentlich leicht trägt und doch sehr warm hält. Allerdings gibt es im Tal ab und zu noch Rosen, auch eine Herbstgrille hörte ich an einem warmen Tage zirpen; aber das Wetter kann plötzlich umschlagen, dann würde der Pelzmantel in seine Rechte treten.«

Wie Jünglinge schritten die beiden Alten dahin. Der Forstmeister, von breiter Brust und wallendem Graubart, erinnerte an den Geist der Berge. Der lange, glattrasierte Lamettrie hatte trotz seiner fünfundsiebzig Jahre noch viel Spannkraft.

Den bequemen, mit Kies bestreuten Fußweg zwischen kahlen Felsen und vereinzelten Wettertannen marschierten sie flott und schauten in der Tiefe den Großen und den Kleinen Teich, die ganz in die wilde Höhenwelt gehörten. Die Teiche drohten wie unheilvolle Träume, Gewölk wallte um die Granitklippen des Ufers. An Abgründen geht es vorbei, wo Ausblicke sind, zu blauen Fernen über dunkle Bergwälder, vorbei an Hängen, wo mit ihren klapprig läutenden Glocken schräg kletternde Rinder werden; auch durch Knieholz, das zwischen den Steinen am Boden kriecht.

Nachdem sie im burgartigen Schneegrubenhotel Brot und Milch genossen und die vom Winde kalten Glieder erwärmt hatten, wollten sie einen Blick tun in die dreihundert Meter tiefen Schneegruben.

Sie traten an den Abgrund, aber die Aussicht war ihnen benommen durch brodelnden Nebel. Einen Felsengrat stiegen sie abwärts, da gewann der Nebel Gestalt; wie ruhevolle Meereswogen wallte er um die ragenden Felsen und nahm Formen an – Gewölk, das immer tiefer sank. Dann sahen sie durch eine Lücke Nadelwipfel, und herauslugte lächelnd ein Stück Bachtal, von blauem Himmel übersonnt.

Die Greise hatten sich an die steile Halde gebettet und starrten träumerisch auf die Wolkenmassen – auf den Kampf, der sich abspielte zwischen wüsten und freundlichen Mächten. Aus dem hellgrauen, von Sonne überglänzten Nebelmeer blickten Wälder golden und hellgrün, mit Schlössern, wie es schien, neben freundlichen Wohnstätten. Eine Insel der Seligen im grauen Meer.

»Wie ein Vergißmeinnicht-Auge« schwärmte Lamettrie – »wie das Glück meiner Jugend lächelt in der Ferne der blaue Höhenzug hinter einem Teich. Es grüßt noch einmal mein Leben im lichten Schleier der Maja. Freilich auch Abgründe sind da, Sturmwolken, trotzige Felsen. Doch Julias Vermächtnis verklärt alles, auch meine düstere Schroffheiten.«

Plötzlich stutzte der Greis; ein lyrisches Wort war ihm von der Landschaft erweckt: Zuletzt – so sann er – wenn die Sonne dunkelrot versinkt, erst dann kann man ungeblendet ihr ins Antlitz schauen. Und hieraus folgt: Wenn mir jetzt mein verflossenes Leben deutlich aufgeht, muß wohl der Untergang meiner Sonne nahe sein. Lebwohl denn, Welt! – Oder ahne ich den Aufgang neuen Tages? Am Horizont erscheint ja frühmorgens dieselbe Purpurscheibe, die abends hinuntergesunken ist – von fernen Völkern wird sie als Morgen begrüßt. Gegensätze, Abendsonne und Morgensonne, fallen also in Eins zusammen ... Doch ich werde ja schauen, was mir der Tod beschert, Frieden ist es jedenfalls.

Und aus seinem Grübeln erwacht, erhob sich Lamettrie freudig: »Nun, Schwager, auf! zur Neuen schlesischen Baude, wo der kleine Friede! vielleicht schon unser harrt!«

Und weiter gingen die beiden Alten. Rechts ein ragender Felsen, der Veilchenstein, von Gewölk umbrodelt, kalt pfiff der Wind.

Als sie in die geheizte Baudenstube traten, kam der Wirt grüßend: »Heißt einer der Herren vielleicht Lametter oder so ähnlich?«

»Ja, Lamettrie!«

»Dann übergebe ich Ihnen den Pelzmantel, den der Postbote für Sie abgegeben hat. Ok a Briefel is drbei!«

Von Mister Friedrich war der Brief, und mit eingeschlossen war ein Brief aus Amerika. Friedrich schrieb: »Wir ist ein kleiner Unfall passiert: habe den Fuß verstaucht, kann daher den kleinen Friedel nicht begleiten. Aber Großmutter Schellmann bringt ihn zur Zackelfallbaude und übergibt ihn dem Knecht, der immer mittags zur Neuen schlesischen Baude geht.«

»Hm!« brummte Lamettrie – »hier wird ein Knecht erwähnt, der werde einen siebenjährigen Knaben bringen. Ist das Kind schon da?«

»Nein! Aber in etwa einer Stunde trifft mein Knecht hier ein.«

Der Brief aus Amerika war kurz, und nachdem ihn der Alte überflogen, lachte er bitter auf: »Welch ein Hohn auf meine Absicht, wiedergutzumachen! Helmut meldet, der Generalpächter habe die Bedingungen mit Kußhand angenommen und mache mit dem Antihumbug Bombengeschäfte. So komme ich also nicht los von meiner Zauberbude – nur ist sie zeitgemäß reformiert ... O Natur und Wildnis! Du bist besser als alle Zivilisation! – Wo ist nun mein Pelzmantel? Ich muß hinaus in die freie Luft, Sturm und Einsamkeit und zu dem Kinde!«

Ein altes Mütterlein brachte den Pelzmantel. Sie lächelt, indem sie den zarten Pelz streichelte: »Asu fein is a!« Dann stutzte sie, sah durchdringend den langen Alten an und murmelte dazu.

» Was meinen Sie? Sie wollten etwas sagen?«

»Nu – »iich wees ne – aber es is mir so düster und ängstlich.« – Dabei schüttelte sie den Kopf: »Ach nee, Herr! Asu schlimm wird's ja ne sain! Nähmen Se mer'sch ne iebel! Grads war mer'sch, als ob Se – im Se lägen blaß und starr vor mir im Schnee.« Dann starrte sie die beiden Greise abwechselnd an, als wäre sie entsetzt, daß sie sich verplappert habe.

Lamettrie warf einen fragenden Blick auf die Alte und zog seinen Pelzmantel über den leichten Ueberzieher an: »Wie meine Karte zeigt, ist der Weg zur Zackelbaude nicht zu verfehlen.«

»Gewiß ne!« versicherte der Wirt. – »Vorm Hause der Wegweiser zeigt nach dem Zackelfall – immer bergab!«

»Willst Du dem Friedel entgegen gehen?« fragte der Forstmeister zögernd – » nötig wäre es ja nicht – der Baudenknecht liefert ihn sicher hier ab.«

»Schon recht!« lächelte Lamettrie – »doch ich habe grade Sehnsucht nach dem Kleinen – bin nun mal so'n Kindskopf ... Du aber, Schwager, laß Dich nicht abhalten, mach Dir's behaglich und iß was Warmes! In einer Stunde werden wir hier sein.«

»Wir wärdn aber bald Sturm bekommen – un Regen«, wagte der Wirt einzuwenden – »hier is es rauher als wie eim Tale.«

»Ein Stündchen wird's Wetter wohl leidlich bleiben. Na – und ich habe ja meinen Pelzmantel.« Hiermit trat Lamettrie seinen Schicksalsgang an.

»Ju, ju! da iis ju dr Pelz! der hält warm!« meinte der Wirt zum Forstmeister, der seelenruhig aus seiner Pfeife paffte. »Na, un wenn's ock länger als 'ne Stunde dauern kann, dr Weg is gor ne zu verfählen.«

»Was war denn das mit der alten Frau, die den Pelz beschnüffelte und ein so wunderliches Gerede hatte?« fragte der Forstmeister.

»Ach, de ale Gottsteinsche!« brummte der Wirt – »das iis Aberglauben! Se bildt sich asu Ahnungen ein! Aber bloß manchmal hat se recht behalten. Tummes Gemare!«


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