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25. Das verräterische Nest

Aus der blaudämmrigen Empfangshalle war man hinausgetreten auf eine Terrasse, die nach dem Westhange des Hügels einen weiten Ausblick gewährte. Durch Wiesen, gelbblühende Flächen und silbergrüne Felder wand sich der blinkende Rhein.

»Dort hinter dem Uferdörfchen auf der kleinen Anhöhe liegt die Lazaruskapelle« – wandte sich Hulda an Helmut, um mit ihm anzuknüpfen.

»Ich bin noch ganz hingerissen von der Musik, o Hulda!« raunte er – »ich habe ja gar nichts gewußt von Deiner Kunst.« Und um nicht von einem der Umstehenden vernommen zu werden, flüsterte er leuchtenden Auges: »Ist es denn wirklich wahr, daß ich eine solch harfende Muse zur Gattin ...«

Freudig bewegt, schwieg sie – er aber merkte, daß Friedrich geneigt war, seinen weiteren Bericht über das Niggerviertel anzubringen. Deshalb ging er mit Hulda an die Terrassenbrüstung. Sie deutete zur Lazaruskapelle: »Onkel und ich fahren manchmal per Auto hin.«

Auf seinen verstohlenen Ton ging sie offenbar mit Wonne ein: »Ja, die Deine bin ich – ach!«

Da Lamettrie mit Frau Belling in eifrigem Gespräche langsam weiterging, konnte das Paar, anscheinend der Aussicht halber, zurückbleiben.

»Und Du, Helmut, spielst Du kein Instrument?«

»Cello!«

»Herrlich!«

»Unser Ausblick ist lauter Seligkeit. O, wie schwimmt die Welt in Wonne!«

Vorsichtig gingen sie zur Ecke des Gebäudes und lugten: Lamettrie und Frau Belling hatten einen bedeutenden Vorsprung und schienen das Paar nicht zu vermissen. Friedrich trollte hinterdrein. So traten die Verliebten denn hinter die Ecke zurück und lagen sich in den Armen, als sei es selbstverständlich, die Gelegenheit zu pflücken.

Was Frau Belling betrifft, so berichtete sie Herrn Lamettrie, was der Gärtner soeben vom Glücksvogel bemerkt hatte: »Er hat ein Nest! und rate mal, wo. Nein, Du kannst es kaum erraten. Im dichten Wipfel der Blutbuche, ausgesucht, wo Hulda ihre Traumbank hat.«

»Das bedeutet etwas!« lächelte Lamettrie.

»Was denn?«

»Daß auch sie aufs Nisten verfallen wird.«

»Na, wer weiß! Herr Burger ist es sicher nicht, der auf sie zielt; der nimmt das Leben eher zu ernst. Das Leben und das Lieben.«

»Zu ernst?« Lamettrie blieb stehen, und fast vorwurfsvoll lohte sein Auge: »Kann man das Leben zu ernst nehmen? Und das Lieben? Nicht ernst genug nimmt es die Welt. Bedenke, was ich gelitten habe, weil ich in meiner Jugend leichtsinnig war. Schwer hab ich das zu büßen. Wenn ich mich jetzt aufrichte aus meiner Gewissensqual, so schöpfe ich die Kraft dazu aus der Hoffnung, meinen Mitmenschen zu zeigen, wie man es nicht machen soll, und somit zur Besserung ihrer Lebensweise beizutragen. Besonders denke ich an Hulda, für die ich eine Liebe hege, wie sie selbstloser kein leiblicher Vater aufbringen könnte. Entsetzlich, zu denken, ihr Schicksal könne noch weitere Enttäuschungen bringen. Grauenvoll schwebt vor meiner Seele, was ich einst angerichtet habe durch meine rücksichtslose Leichtfertigkeit: Ins Wasser ist sie gegangen, weil ich sie verlassen habe.« So klagte der Greis, indem er die Hand auf seine geschlossenen Augen legte. Erschüttert starrte ihn Frau Belling an.

Dumpf grollte er weiter: »Da faselte ich einst – ich überheblicher Rohling – von einer Liebe, die tierisch sei. Das sollte eine Herabsetzung sein. Für mich aber bedeutet tierische Liebe nun etwas, das mehr Hingabe an die Gattung hat, als die sogenannte Liebe unseres zivilisierten Pöbels. So tituliere ich eine Spezies des homo sapiens, zu der ich mich leider selbst rechnen muß. Schämen muß ich mich vor dem kleinen Benedikt und seinem Weibchen, die mit rührender Treue ihr Nest bauen und ihre Brut versorgen. Im Unterschied vom Menschen, der sich vor Folgen seines sogenannten Liebens zu drücken sucht – wie ich es damals aus Feigheit vor meinen Gönnern tat, vor denselben, deren naturwidrige Satzung ich für fromme Sittlichkeit hielt ... O seherhafter Whitman, mit dem mir das gute Huldchen einen ästhetischen Fund zu bescheren glaubte, wie könnte deine Stimme die Verkommenen aufrütteln, wenn du die Welt zum Garten Eden bilden möchtest! Liebe, naturhaft schöpferische Liebe, ist dein Gesang, du Glücksvogel der Menschheit? Die Liebe, wie sie im Leibe lebt, des Daseins Sinn! Prophet einer reineren Welt! Spät erweckt mich deine Stimme; zu spät, um da noch mein Leben zu formen. Nicht zu spät, um sterbend noch meine beste Sehnsucht zu bekennen – Natursehnsucht ist es – sie wird dem Maschinenmenschen zum bekehrenden Damaskus – ich spür's, so muß es kommen. Mein Glücksvogel, dein Nest, wo du unermüdlich auf den fünf Eierchen brütest, ist mir ein liebliches Heiligtum, vor dem ich mich demütige. Glückselig könnt ich jetzt dastehen, ein rüstiger Greis, der ich noch bin, – denn Lamettrie und sein Lebenselixir sind Selbstbetrug! wär's nicht so gekommen, wie's meine Naturwidrigkeit heraufbeschworen hat – ich dürfte jetzt vielleicht froh auf eigene Familie blicken ... Aber! Ich Elender! der ich mir mein Glück zerstörte!«

Tränen im Auge und begütigend streichelte Frau Belling seine Hand.

Er wurde ruhiger und sprach sich weiter aus: »Huldchen ist mir ein Trost. Hulda, auch wenn sie zunächst einsam ist, sie wird noch unser Glücksvogel. Sie wird einmal mit dem, den sie erwählt, ihr Nest bauen, und wir schirmen das Nest. Sollst sehen, Bellchen, welche Freude uns dann kommt!« Die eben noch düsteren Augen leuchteten von Hoffnung, und sie half dem Maschinenmenschen, daß er sich liebend mit der Natur versöhnte.

Das paßte ja auch zu dem Vorhaben, von dem sie sprechen wollte:

»Nicht das mit Hulda«, sagte Frau Belling, »ist es ... so innig ich wünsche, daß sie noch heiratet, ich glaube es kaum. Ihre erste Liebe wird sie nie vergessen.«

»Das soll sie auch nicht. Aber eine neue Liebe schließt das liebende Gedenken an den Verlorenen ja keineswegs aus, und sicher wird sie bald ihren Lebensgefährten finden.«

Frau Belling überlegte. Dann gab sie zurück: »Mag sein. Nun wie gesagt, jetzt geht es zunächst um unsern Glücksvogel! Wo er nistet, ist ja entdeckt, und diese Stelle wollen wir in weitem Umkreis umspannen, damit die Eltern sich nicht ängstigen und nicht nötig haben, vor nahenden Menschen ihr warnendes Rahr zu zetern.«

»Bin ganz mit Dir einverstanden!«

»Gleich soll der Gärtner einen Strick von Baum zu Baum spannen«, meinte Frau Belling – »so haben wir einen Bezirk, daß keiner der Blutbuche zu nahe kommen kann ... Ich will sofort nach der Oertlichkeit sehen und dem Gärtner die nötigen Weisungen geben.«

Auf eine Angelegenheit seiner liebenden Sorgfalt abgelenkt, eiferte der Greis: »Tue das! Wenn die Tierchen gestört werden, verlassen sie ihr Nest. Mein lustiger Benedikt, niemand soll dir zu nahe kommen! Morgen beim Frühstück sollst du uns nichts zu klagen haben, sondern dein sanftes Biwäwü flöten ... Also, Bellchen, jetzt geh ich zu meinen Rosen. Und zu Mittag, Du hast mich ja eingeladen, da komme ich; Euren Gast möcht ich mal schärfer ins Auge fassen.«

»Na, dann auf Wiederseh'n!«

Frau Belling schritt geschäftig durch den Garten.

Das Paar indessen hatte sich manch Wichtiges zu sagen, unendlich viel. Es war wie am Tage der ersten Begegnung brav durch den Garten gegangen, hatte aber zwischen den Büschen gewagt, Arm in Arm zu wandeln, und war nun ahnungslos bei der Lieblingsbank angelangt.

»Hier, mein Schatz«, gestand er – »ist der Funke meiner Liebe zur Flamme aufgelodert.«

»Und davon hat keiner was gemerkt.«

»Wir sind ja auch immer so artig gewesen«, flüsterte er mit zärtlichem Blicke. »Komm, setzen wir uns!« Er führte sie zur Bank und zog sie in seine Arme.

»Mein Gott, was ist das?« dachte verblüfft Frau Belling, die ganz ohne Absicht Zeuge solcher Verliebtheit war – »sie küssen sich! Die haben sich aber rasch gefunden. Unsereins in Eisenach hat sich doch eine Weile geziert. Aber diese Kriegsgeneration – o mein Kind, mein wohlerzogenes! Und nun gar solche stürmischen Gebärden! Sie stören ja das brütende Weibchen! Wie soll ich ihnen das beibringen, wie denn? Ueberraschen? Nein, das mag ich nicht ... Gott sei Dank! jetzt kommen sie zu sich – sie verlassen die Bank – sie gehen weiter, zärtlich umschlungen. Na wartet, Kinder, mit euch muß ich ein ernstes Wörtchen reden!«


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