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49. Herzenszweifel und Gewißheit

Tiefbewegt standen Hulda und Helmut, zu denen auch Frau Belling getreten war. Wortlos schloß Lamettrie den Enkel in seine Arme und küßte Hulda auf die Stirn.

Dann schüttelte er Frau Belling, von der die Orgel gespielt war, beide Hände: »Dank Euch Dreien für die herrlichen Zusammenklänge!«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Julias Seele umschwebt uns – und sie ist's, die mich zu einem höheren Leben führen soll ... Dank auch Ihnen, Frau Rade!«

Die Angeredete strahlte vor Freude: »Ja, sie ist bei uns! Ich meine sie zu sehen, wie sie in den letzten Jahren ihres Lebens war: gütig lächelnd in ihrem Tüllhäubchen mit der grünen Schleife. Auch wie sie früher aussah, als sie noch ihr Kindlein auf dem Arme trug – so feierlich froh, wie dort die Madonna ... Die ersten Mutterjahre waren ihre beste Zeit, als sie von Düren weg nach Münden gezogen war, wo wir uns zusammenfanden, und wo ihr Bruder die Forstschule besuchen sollte. Es war dort für uns ein erfolgreiches Ringen, und jede Erweiterung ihres Tee- und Kaffeegeschäftes stärkte ihr Selbstbewußtsein.«

»Dank Ihnen, Frau Rade, für diese Mitteilung und alle Ihre Hilfe, die sie meiner Julia und ihrem Kinde widmeten. Davon müssen Sie mir noch ausführlich erzählen. Heute war ich einem Sturm von Gefühlen preisgegeben, von dem ich mich etwas erholen muß.«

Herzlich schüttelte ihr der Alte die Hand und wandte sich nun an Herrn Päch, der in schüchternem Warten dastand. Man hatte ihn zu der Feier, wie zum Verlobungsfrühstück eingeladen. Er war ein bevorzugter Angestellter des Museums und für Lamettrie eine Zielscheibe launiger Neckereien, die er stets mit stillem Lächeln über sich ergehen ließ.

»Nun, mein lieber Peter Schlemihl! Ich danke Ihnen, daß Sie erschienen sind. Sie werden nun manches verstehen, was Ihnen vielleicht bisher an mir rätselhaft war.«

»Ja, Herr Möller-Lamettrie! Ihr Schicksal geht mir sehr nahe. Und als sich vorgestern für Sie die düsteren Wolken Ihres Lebens so freundlich aufhellten ...«

Er stutzte und schien mit der Sprache nicht herausrücken zu wollen, weil ihn offenbar die anwesenden Gäste störten. Diese merkten es und ließen ihn mit Lamettrie allein.

»Nun was ist?« drang dieser in ihn – »haben Sie wieder irgend einen Streich gemacht?«

»Ich kann nicht glauben, daß es einer ist« – antwortete der Pechvogel, den seine ungeschickte Gutmütigkeit so oft in eine Patsche gebracht hatte.

Nachdem er eine Weile gezögert hatte, wie ein Maikäfer, ehe er sich zum Fluge entschließt, platzte sein Geständnis heraus: »Ich will nämlich wieder heiraten – und zwar – meine frühere Frau, von der ich seit einem Jahr geschieden bin.«

Prüfend musterte ihn der Alte: »Haben Sie sich das auch reiflich überlegt?«

»Fast eine ganze Nacht hab ich darüber gesonnen, über das Für und Wider. Als ich eingeschlafen war, träumte ich von der Pechmarie, auf die aber ein Goldregen niederging, und beim Aufwachen war mir klar: Ja, so muß es sein!«

Der Alte reichte ihm freundlich die Hand: »Nun, so wünsche ich Ihnen zu Ihrer neuen Verbindung alles Gute. Aber will sie denn auch?«

»Ich habe ihr in einem Eilbrief alles dargelegt. Und sie hat eben so eilig geantwortet, schon längst habe sie sich heimlich nach mir gesehnt, und deshalb nichts mehr zu überlegen gehabt. Alles »Wider« von einst möge sich in ein glückseliges »Wieder« verwandeln!«

»So, so«, lächelte Lamettrie – »und da ist sie wohl gleich hergekommen

»Ja« – gestand Päch errötend, »sie ist hier

»Na, das ging ja rasch!« bemerkte Lamettrie. – »Nun – damit Sie nicht gleich mit Sorgen belastet werden, soll von Ihrer Hochzeit ab Ihr Gehalt verdoppelt werden! Jetzt muß ich die große Neuigkeit aber schnell auch den andern Gästen mitteilen, und gewiß wird Frau Belling das neuverlobte Paar Päch an unserer Verlobungstafel willkommen heißen.«

Päch war starr vor freudiger Ueberraschung: »Aber Herr Lamettrie« stammelte er – »Ihre gütige Großmut ...« Und er küßte dem Alten die Hand.

Frau Belling hatte etwas von der Unterhaltung gehört, und während Lamettrie sich entfernte, trat sie auf Päch zu, gab ihm ihre Hand und sagte: »Da feiern wir also gleich eine doppelte Verlobung! Viel Glück zu Ihrem Entschluß! Ihre Braut müssen Sie uns sofort vorstellen, und natürlich hat sie an unserer Festtafel ihren Platz an Ihrer Seite.«

Strahlend neigte sich Päch zum Handkuß.

Auch Hulda, Helmut und die anderen traten herzu, um Herrn Päch zu gratulieren, der daraufhin eiligst verschwand, um seiner Braut die frohe Meldung zu machen.

Helmut, die glückselige Braut am Arm, trat mit ihr vor das Bild der Madonna: »Welch heilige Mutterliebe verklärt das Antlitz der Himmelskönigin! Und wie groß und tiefsinnig blickt der geborene Erlöser hernieder auf die Welt, wo so viel Kampf und Unrast tobt! Erinnert das nicht an Gedanken, die in Großmutters Tagebuch zum Ausdruck kamen? Ja, grausame Wildheit der Natur und rücksichtsloser Kampf der Menschen läßt sich nicht zusammenreimen mit dem Glauben an einen Gott der Liebe. Neu ist mir die Idee, den Gott der Liebe vom Schöpfer und Beherrscher der Welt zu unterscheiden. Nach meiner Ansicht hebt die Ewigkeits-Schau solche Gegensätze auf. Eine klare Vorstellung können wir uns allerdings nicht davon machen, weil wir von der Natur nicht loskommen. Aber ein Gott unendlicher Liebe schließt doch auch diese Gegensätze in sich ein.«

»Was für Rätsel tun sich uns auf? Das ist ja, als ob wir in eine Götter dämmerung schauen!« gestand seufzend die Braut. »Ueberall geheimnisvolles Halbdunkel, darin wir uns notdürftig zurecht finden müssen! Bei solchem Herumtappen darf man fürwahr keinen sogenannten Sünder verdammen!«

Mit tiefem Ernst antwortete Helmut: »Allerdings! von Schuld zu reden steht uns nicht zu.«

»Also ist auch Großvater Lamettrie ein Verkannter. Wenn er mit seinen Anlagen zum Rollenspiel, zum Ehrgeiz und kecken Lebensgenuß auch lange nicht fertig werden konnte, so war er doch ein ehrlicher Kämpfer! Er ist eben eine faustische Natur, die bis zum Ende heldisch zu ringen hat, um dem besseren Selbst zum Sieg über die Leidenschaften zu verhelfen ... Sein Seelenzwiespalt, der ihn bis zum doppelten Bewußtsein trieb, hatte wohl stets eine gewisse Größe – auch in seinen Irrungen kann man ihn noch liebhaben.«

»Ein Spätvollendeter ist er« – sagte Helmut.

Als die Verlobten nun wahrnahmen, daß sie vor dem Madonnenbilde und im Saale allein standen, wandte sich Helmut mit zärtlichem Lächeln zu seiner Braut: »Nun, Schatz, gib Deinem Bräutigam einen Kuß!«

Und stürmisch schlossen sie sich in die Arme, schauten einander in die sinnenden Augen, und das Rätsel, das darin wob, suchte Helmut in seiner Weise zu deuten; leise gestand er: »Ich liebe Dich, mein Schatz! Möchte doch meine Liebe von echter Art sein, daß sie nicht das Ihre sucht, sondern vor allem Dein Bestes, nicht eigenes Glück und Begehren!«

Hulda ergänzte: » Unser Bestes willst Du sagen.«

»Ja, das Erlösende soll in unserer Liebe Geltung gewinnen.

Im Bilde der Gottesmutter, die der Welt den Erlöser bringt, strahlt sie. Aber schau! das Bedeutendste ist doch wohl der Gesichtsausdruck des Kindes. Immer kommen mir beim Anschauen die Verse Schopenhauers in den Sinn:

Sie trägt zur Welt ihn: und er schaut entsetzt
In ihrer Greu'l chaotische Verwirrung,
In ihres Tobens wilde Raserei,
In ihres Treibens nie geheilte Torheit,
In ihrer Qualen nie gestillten Schmerz,
Entsetzt: doch strahlet Ruh und Zuversicht
Und Siegesglanz sein Aug', verkündigend
Schon der Erlösung ewige Gewißheit.


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