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12. Gewitterschwüle

Wieder unterbrach Lamettrie, an Gerhart gewandt: »Das ist mein Fuß, Wahlneffe!«

»Verzeih, lieber Onkel! Ich wollte nicht ...«

»Du wolltest nicht mir einen Tritt versetzen, sondern Deinem Freunde – wolltest ihm zu verstehen geben, er solle aufhören mit dem Vorlesen ... Ei ja, aus Rücksicht auf die mir zugeschriebene Verrücktheit – um mich nicht zu reizen!«

Gerhart wollte aufs neue beschwichtigen, aber Lamettrie winkte knurrig ab: »Weiß schon, daß Du es nicht übel meinst. Doch ich bin nun mal empfindlich – und eine Bitte mußt Du mir erlauben. Ich habe sie auf dem Herzen, seit Du das letztemal hier warst.«

»Was denn, lieber Onkel?«

»Ei, Gerhart, muß ich das erst sagen? Dein verstecktes Wesen mein' ich – ja wohl, es ist versteckt. Um mich herum geht etwas vor, lauert etwas. Man will meine Vergangenheit erforschen – will mich behandeln!« Wie ein Aufschrei waren diese Worte.

Erschrocken blickte Frau Belling. Huldas sanftes Gesicht war schmerzlich verzogen. Gerhart starrte düster vor sich hin. In Verlegenheit steckte Helmut Burger den Brief ein, der so was angerichtet hatte.

Der alte Sonderling aber, dessen schwarze Augen wild umhergerollt waren, als ob er hier oder dort etwas suche – räusperte sich nervös, rückte mit seinem Sessel und stand auf: »Bitte um Entschuldigung! ich – muß Atem schöpfen – oh! diese Schwüle!« Noch ein finstrer Blick, dann verließ er das Zimmer. In starrem Ernst verharrten die Uebrigen und schwiegen. Fernher rollte ein Donner, und Gerhart nickte seinem Freunde zu: »Der Gewitterkopf, der überm Rheine stand.«

Frau Belling schien zu glauben, diese Bemerkung wolle auf den Groll des Onkels anspielen: »Gleich wird er wiederkommen – ich kenne ihn – er möchte einlenken.«

»Schon gut, liebe Tante,« meinte Gerhart – »aber diesmal liegen die Dinge besonders ernst; ich habe Dir ja schon davon gesprochen. Onkel hat recht – um ihn herum geht was vor, und ich bin dabei, seine Vergangenheit zu erforschen, weil das unerläßlich ist, um ihn seinen Verirrungen zu entreißen, ihn zu retten

»Wäre das überhaupt noch möglich?« fragte betrübt Hulda – »und könnte solch ein Versuch ihn nicht in eine Krise stürzen, die bei seinem Alter ...«

»Er hat erstaunliche Elastizität, kann gut noch seine zehn Jahre leben, zählt nämlich erst fünfundsiebzig. Ja, ja, Huldchen! Oder bist Du so naiv, die Faseleien vom Lebenselexir und dergleichen ernst zu nehmen?«

»Aber woher willst Du wissen –?«

»Die Daten seines Lebens hab ich einigermaßen herausgebracht – bloß daß ich noch nichts davon gesagt habe ...«

»Still!« winkte Frau Belling, »er kommt!«

In der Tat hörte man Schritte, die Türe ging auf, und da stand der schlanke Greis, anscheinend beruhigt: »Ah, solch ein Aufatmen im Freien tut wohl! Im Garten hätt ich noch länger verweilt, aber gleich wird es losbrechen, das erste Gewitter in diesem Jahr.«

Auf seinem Sessel nahm er wieder Platz. Freundlich lächelte ihn Hulda an und Frau Belling schenkte ihm eine frische Tasse ein.

»Pardon! liebe Verwandte und verehrter Herr Burger!« erklärte Lamettrie – »ich bin vorhin ein wenig aufgebraust. Na, Gerhart, jetzt wirst Du begreifen, die Art, wie Du indirekt, so hinten herum ... aber lassen wir's!«

Und zu Burger gewandt, den er wohl zum Vermittler machen wollte, fuhr er fort: »Nicht wahr, verehrter Gast, Sie verstehen, wie einem zumute, der 'ne wunde Stelle hat, daran aber immer wieder gerührt wird ... Nicht aus Rücksichtslosigkeit – ich weiß, lieber Neffe, aber – ließe es sich nicht besser vermeiden

»Gewiß, Onkel Lamettrie«, entgegnete Gerhart ebenso fest wie freimütig – »vermeiden ließe sich das. Nur solltest Du vor allem bedenken, daß der Mangel an Offenheit, über den Du Dich beklagst, nicht zuerst auf meiner Seite aufgetreten ist, sondern daß Du kein hinreichendes Vertrauen zu uns hast.«

Mit einem Schlage war Lamettrie abermals fassungslos – duckte sich und schien in sich hineinzustöhnen. Dann lugte er scheu hinüber zu Hulda, die angstvollen Auges ihr Taschentuch an die Lippen preßte.

Gerhart stand auf, ging um den Tisch herum zum Onkel und bot ihm treuherzig die Hand: »Sei nicht ungehalten! Und wo ich ungeschickt war, habe Nachsicht! Gönne mir eine offene Aussprache, damit wir beseitigen, was verworren und finster zwischen uns liegt. Nicht gerade heute! Wann es Dir paßt

Der Greis atmete schwer, da er sich getroffen fühlte, und blickte auf den jungen Mann etwa wie ein Patient auf den Zahnarzt, wenn dieser mit der Zange kommt. Dann legte er seine schlaffe Hand in die nervige Umklammerung und seufzte: »Ich will. Sobald es sich macht. Es soll wohl sein.«

»Ja, es soll sein! Und, Onkel, beherzige: freimachen kann allein die Wahrheit! Doch allerdings muß ein Auge, das sich geflissentlich mit Halbdunkel umgeben hat, diese verweichlichende Methode aufgeben!«

Lamettrie richtete sich auf: »Gut! weshalb denn aber ein Gesprächsthema plötzlich abbrechen? als ob ich das vom Keinkinder-System nicht hören dürfte. Freilich hab ich schwer gelitten unter dem Unglück, keine Familie zu haben und keine leiblichen Sprossen ... Doch was sag ich? Unglück? Das ist es nicht bloß. Schuld ist es, meine Schuld – Ach!« Wie ein Schrei kam das heraus – und abermals duckte sich dieser seltsame Melancholiker, seine Augen irrten umher wie scheue Pferde.

»Da siehst Du nun, Onkel«, sagte Gerhart weich – »weshalb ich meinen Freund veranlassen wollte, sein Vorlesen abzubrechen – es galt einfach, Deine Nerven zu schonen. Doch jetzt, na ja, jetzt hat sich das Gewitter entladen. Und nicht wahr? jetzt wollen wir uns wieder gemütlich unserm Kaffee widmen.« An seinen Platz kehrte er zurück, und Hulda griff zur Familienkanne.

Lamettries Gedrücktheit indessen dauerte fort, schweigend brütete er vor sich hin, ohne interessiert zu werden von den neuen Gesprächsstoffen, die als Köder nach ihm angelten. Auf einmal grollte er dumpf heraus: » Keinkindersystem! ha, weshalb soll denn das gegen die Natur sein? Müssen es doch die alten Jungfern hinnehmen, obwohl sie auch zur Natur gehören.«

Hulda errötete, ihre Mutter blickte bestürzt.

»Oder« – fuhr Lamettrie herausfordernd fort – »ist das Keinkinder-System etwa kulturwidrig? Sie, Herr Burger, erwähnten in der Eisenbahn den Poverello von Assisi. Nun denn, dieser Heilige, obwohl er seine Clara so innig liebte, wie's sonst Liebende kaum vermögen, er zog es vor, ehelos zu bleiben – und überließ es gewöhnlichen Sterblichen, dem Zwölfkinder-System zu huldigen. Der Mensch sei Herr über seinen Körper, wie über all sein Schicksal! Das ist Naturrecht, also keineswegs wider die Natur.«

Burger schwankte, ob er sich einlassen soll auf das heikle Thema. Als er aber einen Blick von Gerhart auffing, der zu ermuntern schien, meinte er: »In einem apokryphen Evangelium kommt ein Wort Jesu vor, mit dem er seinen Jüngern antwortete auf ihre Entrüstung über einen Ackersmann, der am Sabbath pflügte: Wenn dieser Mann nicht weiß, was er da tut, dann sündigt er, wenn er's jedoch wohlweislich tut, dann sprech ich ihn frei von Schuld. Sonst aber gilt für die Kinder Israel das Gebot Mose: Du sollst den Feiertag heiligen!«

»Gut!« triumphierte Lamettrie – »ausgezeichnet! Mag doch die Menge blind dem Naturtrieb folgen und ihre täppische Art auch noch verherrlichen durch Berufung auf das angeblich himmlische Gebot: Seid fruchtbar und mehret euch! Für die Persönlichkeit aber gilt das apokryphe Wort: Was wohlweislich geschieht ist erlaubt.«

»Vergiß nicht, Onkel« – warf Gerhart dazwischen – »daß der Brief von der Newyorker Gesellschaft redet. Traust Du ihr zu, daß sie aus Persönlichkeiten besteht?«

»Erlaubt auch einer schlichten Frau, sich in Euer Kulturgespräch zu mengen. Drei Kinder hab ich meinem Mann geschenkt, und dann ist er gestorben. Mein Fritzchen war noch klein, als ihn eine Kinderkrankheit dahinraffte. Und unser Karl ist im ersten Gefecht mit den Engländern gefallen. Hulda allein ist mir geblieben. Wenn ich nun bedenke, welches Glück neben allem Schmerzlichen, welcher Schatz von Liebe mir und meinem Manne in unsern Kindern beschert war, so muß ich mich selig preisen, daß mir solche Mutterschaft beschieden war.«

Wieder verlor Lamettrie seine Haltung und sank in sich zusammen.

Hulda, die mit ihrer Mutter flüsterte, sagte weich: »Lieber Onkel, in jeder Lebenslage kann der Mensch aus seinem Herzen heraus wie ein Obstbaum blühen und den Darbenden Frucht spenden. Ich denke beispielsweise an Walt Whitman, der nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein Apostel selbstloser Menschenliebe ist. Liebe deinen Nächsten als dich selbst! Das war ihm kein Gebot, sondern ein Glück, wie Sonnenschein. Dieser Mann, der ehelos blieb, widmete den Spitalkranken, die er in freier Hingabe besuchte, vier Jahre lang eine Pflege, als wär' er ihnen die allertreueste Mutter. Und geliebt, ja vergöttert haben ihn die Tausende, denen er seelisch wie körperlich geholfen hat. Auch auf Dich, guter Onkel, trifft Whitmans Mahnung zu: Sei ein Mann für dich selbst! und sei Kamerad deinen Mitmenschen!«

Als Lamettrie mit schmerzlichem Lächeln nickte, wagte Hulda den Vorschlag: »Wie wär's, wenn Du von Deinen Gästen ein Weilchen Urlaub nähmest und mit mir in den Garten gingest? Da kann ich Dir vorlesen aus Whitmans »Grashalmen«; wir sitzen unter der Blutbuche – und leise zwitschert das Schwarzköpfchen ...«


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