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28. Mit Peter Schlemihl

Der Onkel hatte seinen Diener beauftragt, nun auch dem Herrn Päch eine Tasse zu holen und für frischen Kaffee zu sorgen.

Helmut warf einen schätzenden Blick auf die Eichenschränke und meinte: »Wie viel Bücher wohl sind hier untergebracht?«

»Hier im Lesesaal« – erwiderte Päch – »zur Zeit etwa 8000 Bände, in den Nebenräumen nochmal soviel, und fortwährend strömen neue herzu; natürlich englisch und französisch und sonst noch einige Sprachen beherrscht Herr Lamettrie, dazu Volapük und Ido, außerdem spricht er noch lappländisch. Er ist sprachlich wie als Techniker ungewöhnlich begabt.« Flüsternd fügte er hinzu: »Nur schade, daß er, wie Ihnen bekannt sein wird, an fixen Ideen leidet. Er lebt in eingebildeten Welten, wie er zum Beispiel mich Peter Schlemihl nennt, und, um die Verwirrung noch zu steigern, auch sich selber als einen Peter Schlemihl bezeichnet.«

»Sich selber? Und wie kommt er dazu?«

Herr Päch sah sich ringsum, ob der Diener noch im Saale sei, fühlte sich unbelauscht und fuhr fort: »Der Schatten – ja was bedeutet er? Sie wissen, im Märchen hatte Schlemihl, um Gold vom Teufel zu erlangen, ihm seinen Schatten abgetreten, vermeintlich ein bedeutungsloses Anhängsel unseres Körpers. Aber weil das Fehlen des Schattens den Leuten unheimlich war, fühlte sich der reichgewordene Schlemihl unter den Menschen entsetzlich geniert: Im Sonnenschein durfte er sich nicht sehen lassen; drum hätte er gern allen Reichtum hingegeben, um seinen Schatten wieder zu kriegen. Aber schattenlos blieb er; nur daß der gute Genius, der auch im Unglück nicht ganz von uns weicht, ihn Siebenmeilenstiefel finden ließ, mittels deren er in Wildnissen abseits der Zivilisation sein Leben verbringen und als Naturforscher Trost finden konnte.«

»Na, und Herr Lamettrie?« mahnte Helmut – »er glaubt dem Schlemihl zu ähneln?«

»Der Schatten ist, was alle von Hause aus selbstverständlich haben, und worauf sich auch der Aermste noch etwas zu gute tun kann. Herr Lamettrie hat einmal, als er in Möller-Stimmung war, die Sache so aufgefaßt: die Geltung, die einer bei den Leuten hat, das ist sein Schatten. So kann einer mit Sicherheit sagen: ich bin der Tischlermeister Otto Schulze aus Dortmund – eine zuverlässige und beheimatete Person. Aber einer, der nicht weiß, ob er Ignaz Möller ist oder der Baron Lamettrie, hat seinen Schatten eingebüßt – muß als Schlemihl durch die Welt taumeln und schon zufrieden sein, wenn ihm Werke, wie diese hier, gelingen. Dabei dachte Lamettrie wohl an seine technischen Erfolge, und daß er es fertig bringen wird, Bilder in die Ferne wirken zu lassen – das optische Seitenstück zum drahtlosen Fernspruch. Wenn er sich freilich einbildet, den Maschinenmenschen konstruiert zu haben, so ist das eine Narrheit, oder wenn man es beschönigen will, sein Museum ist sozusagen eine verblüffende Zauberbude! und noch viel Geld ließe sich damit zusammenscharren.«

In diesem Moment verstummte Herr Päch, weil Friedrich mit der Tasse kam. Dann sagte Helmut: »Ich danke Ihnen, möchte Sie aber meinerseits nicht weiter bemühen!« Der Diener schenkte aus der noch heißen Kanne ein, verbeugte sich gegen die Herren und verließ die Lesehalle.

Päch schlürfte behaglich und fuhr fort: »Die Noblesse verläßt Herrn Lamettrie niemals, selbst wenn er aus der üppigen Lamettrie-Rolle ins Möller-Elend fällt. In der Beurteilung seines Charakters sind wir uns einig, wir Beamten hier.«

»Bisher hab ich im Schachthof fast nichts von Angestellten bemerkt.«

»Im Schachthof ist auch nur das Personal für Haus und Garten. Bei Bellings geht es höchst einfach zu, obwohl die Familie sehr vermöglich ist. Alle stehen sie – mit Einschluß des Herrn Lamettrie auf dem Standpunkt: Reichtum verpflichtet.«

Obwohl Helmut das Lob seiner künftigen Familie natürlich gerne vernahm, war er in Verlegenheit, daß ihre Vermögensverhältnisse aus dem Munde eines Angestellten ihm gegenüber berührt wurden, und er lenkte ab: »Ich habe das gar nicht anders erwartet. Wer ist denn hier alles angestellt?«

»Wir in der Bibliothek sind allerdings nur fünf, aber das technische Personal ist sehr zahlreich.«

»Und die Räume für ein so verzweigtes Unternehmen? ich sehe wenig davon.«

» Unterirdisch! In den Schacht, der ja seine Stollen noch hat, sind Gemächer und Gänge eingebaut. Ein seitlicher Eingang befindet sich unterhalb der westlichen Terrasse, von wo Sie heute vormittag die Aussicht ins Rheintal betrachtet haben.«

Ein leises Zusammenfahren durchzuckte den Bräutigam: Hat uns am Ende jemand beobachtet?

Und zu einem andern Thema ging er über: »Sie sagten vorhin, das Lamettrische Museum sei eine Art Zauberbude. Wie meinen Sie das?«

»Nun, wie Ihnen bekannt ist, hat sich Descartes, um den Menschengeist zu erhöhen, zu der Behauptung verstiegen, die Tiere seien automatische Maschinen. Der Mensch allein habe Anteil an der göttlichen Vernunft und sei unsterblich. Solche Theorien lenkten die Aufmerksamkeit auf Mechanismen, die den Eindruck machen sollten, als seien sie lebendig. Ein gewisser Vaucanson konstruierte eine Ente, die schnatternd anwatschelte und mit charakteristischen Bewegungen Schlamm und Körner durch ihren Schnabel gleiten ließ. Auch einen Maschinen menschen versuchte er herauszubringen, einen der die Flöte spielt. Man bestaunte solche technischen Leistungen, ohne mit voller Klarheit zu sehen, wie weit ab diese Spielereien von Lebendigkeit bleiben.

In Wahrheit hat die Ente keinen verdauenden Magen, der Flötenspieler keine atmende Lunge. Weil aber der Philosoph Lamettrie ein Buch verfaßt hat, l'homme machine, läßt sich unser Chef von solchen plump aufgemachten Analogien täuschen und bildet sich ein, die äußere Nachäffung einer lebendigen Gliedergestalt könne dartun, das Leben sei nichts als ein Mechanismus, und eine vervollkommnete Technik könne der organisierenden Natur ihre Schliche ablauschen. Der Philosoph Lamettrie hält den Unterschied zwischen der Maschine und einem lebendigen Organismus nur für einen verhältnismäßigen: Die Triebwerke, welche die Natur hervorbringt, seien lediglich komplizierter, als die Leistungen menschlicher Erfindungskunst, nichts absolut Anderes. Aber daß die schaffende Natur unmöglich als eine gesteigerte Technik denkbar, hat der große Leibniz eingesehen. Leibniz, ein Erfinder der Unendlichkeitsrechnung, begreift, daß keine Steigerung, keine Vermehrung imstande ist, aus etwas Endlichem ein unendlich Kompliziertes zu machen. Jeder beliebige Organismus ist eine Schöpfung jenes geheimnisvollen Allgeistes, der unendlich ist und seine Geschöpfe in sich trägt.«

Nach einer Weile meinte Päch weiter: »Um noch einmal auf die Zauberbude zu kommen! Ist Ihnen Beireis bekannt, der zu Goethes Zeiten Professor der Medizin an der Universität Helmstädt war?«

»Ja, Goethe hat seinen Besuch bei ihm geschildert; aber meine Erinnerung versagt hier.«

Päch stand auf und drückte auf einen Knopf an der Wand. Alsbald erschien ein junger Mann, dem Päch zurief: »Bitte, bringen Sie Goethes Tages- und Jahreshefte!« Der Eingetretene machte eine kurze Verbeugung und brachte das Buch in einer halben Minute. Päch blätterte in dem Bande. »Ach hier! Das Jahr 1805 war's – da machte Goethe dem Professor Beireis einen Besuch, den er in seiner reservierten Weise schildert. Beireis, ein Sammler von Merkwürdigkeiten, hatte eine marktschreierische Art, sein Cabinett zur Geltung zu bringen. Darin waren auch jene Vaucansonschen Automalen, veraltete Berühmtheiten. Hören Sie nun Goethes Worte: »In einem allen Gartenhause saß der Flötenspieler in sehr unscheinbaren Kleidern, aber er flötete nicht mehr, und Beireis zeigte die ursprüngliche Walze vor, deren erste einfache Stückchen ihm nicht genügt hatten ... Die Ente, unbefiedert, stand als Gerippe da, fraß den Hafer noch ganz munter, verdaute jedoch nicht mehr. An alledem war er aber keineswegs irre, sondern sprach von diesen veralteten, halbzerstörten Dingen mit solchem Behagen und so wichtigem Ausdruck, als wenn seit jener Zeit die höhere Mechanik nichts Bedeutenderes hervorgebracht hätte ...« So Goethe. Sie sehen, Herr Burger, hier die Grenzen zwischen den beiden Gebieten, die doch so verschieden sind, wie ein endliches Ding und die Unendlichkeit. Solche Unterschiede soll man nicht logisch verwischen. Das Museum des Herrn Lamettrie – ich sage es frei heraus – wirkt zum Teil wie eine begaukelnde Schaubude.«

»Haben Sie das auch schon Herrn Lamettrie, ihm selber, gesagt?«

Päch stutzte, dann raffte er sich zu der festen Antwort auf: »Das würde ich, sobald ich hoffen dürfte, daß diese Wahrheit ihn nicht schädlich erregen würde. Aber wenn er auch jetzt behauptet, sein Möller-Elend überwunden zu haben, ich glaube nicht daran.«


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