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34. Paradiesische Unschuld

Als andern Vormittags Helmut von einem Angestellten vernahm, Herr Möller sei bei den Blumenbeeten in der Nähe des Museums, hielt er es für angebracht, ihn sofort zu begrüßen. Gebückt zu gelben Primeln stand der Alte, gärtnerisch machte er sich zu schaffen, wofür auch die grobe Linnenkleidung sprach, und die Erde, die er an den Stiefeln halte. Dabei machte er den Eindruck, als sei er nicht ganz bei der Sache, sondern in Gedanken verlieft.

Zerstreut reichte er dem Ankömmling die Hand: »Blumen find doch rührende Vertreter paradiesischer Unschuld – die reinsten wohl unter den Lebewesen.«

»Guten Morgen, Onkel! Du meinst? Blumen? Gewissermaßen ja! Jedenfalls haben sie nichts von dem Rohen, das an Tieren abstoßend wirkt.«

»Allerdings gibt es auch unter Pflanzen Fleischfresser«, grübelte der Alte – »aber wenn an den Blättchen des Sommertaus Mücken kleben und von der Pflanze verdaut werden, so ist das nichts wesentlich Anderes, als jene Wurzelfunktion, welche Zellkerne verwester Tiere ebenso, wie andere Nahrungsstoffe in den Pflanzenkörper aufnimmt. Jedenfalls waltet hier keine grausame Gesinnung.«

Nach diesen Worten stieß er den Spaten, den er sinnend gehalten hatte, in die Erde und hob einen Klumpen heraus, den er betrachtete: »Oh!« sagte er – »da hab ich, während ich von Pflanzenunschuld schwärmte, versehentlich einen harmlosen Regenwurm durchschnitten.«

Das sichtbare Stück des Wurmes wand sich in offenbarem Schmerz, und der Onkel bettete es in lockerem Humus, indem er fortfuhr: »Trösten wir uns mit Eduard von Hartmann, bei dem ich über den durchschnittenen Regenwurm gelesen habe, daß aus der Schnittstelle allmählich ein weißes Köpfchen hervorsprießt, größer wird, Gliederringe bildet, Verlängerungen des Verdauungskanals, der Stränge für Blut und Nerven. Durch Wachstum also, vermöge einer Bildungskraft, heilt die Natur angerichtete Schäden; wie neue Blättchen an den Zweigen sprießen, wenn mal die ersten Blätter erfroren sind.«

Helmut sah den Onkel schelmisch an und lächelte: »Ahme mit Deiner Technik mal solches Naturverfahren nach! Erfinde zum Beispiel einen Kraftwagen, der für ernste Pannen nicht bloß Ersatzreifen bei sich hat, sondern vorherverfertigte Teile gar nicht erst einzusetzen braucht, vielmehr sie wachsen läßt, in einer technischen Selbstheilung, die den Gipfel automatischer Reparatur darstellen würde. Laß Deine Maschinen leben, das Krokodil Eier legen, aus denen junge Krokodile kriechen, den Neger aus seiner Kulisse heraus mal frei in die Welt gehen! Laß den automatischen Pan denken und fühlen, wär's auch nur das Gefühl eines Regenwurms! Dann hätte Lamettrie recht mit seinem Worte l'homme machine, aber erst dann!«

In Nachdenken versunken nickte der Onkel: »Natur zu erreichen, wenigstens den Schein der Natur, einen Schimmer davon, war meine Automatentechnik bemüht. Welche Mittel sie angewendet hat, sollst Du noch weiter sehen. Unsere heutige Besichtigung des Museums hab ich auf elf Uhr anberaumt, da soll Herr Päch mit Friedrich uns erwarten. Du könntest mich einstweilen nach der Einsiedelei begleiten. Ich muß die Hände säubern und mich umziehen. Adio, ihr gelben Primeln und weißen Windröschen! Rührt mit dem Bilde der Unschuld die Menschen, auf daß sie sich euch zum Vorbild nehmen. Fressen, gewiß, das tun die Pflanzen auch. Über sie fressen in friedliche Weise: Stoffe, die sich ihnen darbieten, auch Zellkerne tierischer Leichen. Roh oder gar grausam darf man solches Verfahren nicht nennen, weil darin bloß der unendliche Kosmos auftritt, der die Pflanze organisiert und die Verantwortung für alles von ihm Verursachte trägt.«

»Ob diese Begründung genügend ist?« wandte Helmut ein – »demnach dürfte auch der Mörder geltend machen: ich bin unschuldig, die in mir waltende Natur ist verantwortlich.«

»Nun ja, darf er das nicht?«

»Aber die Richter, die ihm Mord zur Last legen, können entgegnen: Auch wir lassen ein Höheres in uns walten, das Sittengesetz. Wenn du die Folgen einer Handlung vermeiden willst, nun, so unterlasse sie! Unter den Folgen verstehe ich allerdings nicht bloß die Bestrafung. Kann mir eine Gesellschaft denken, die alles Strafen unterläßt, nach dem Wort: Richtet nicht!«

»Ja, im Sinne der Bergpredigt. Aber wozu dann überhaupt noch Richter?«

»Nun, das Unrecht an den Tag bringen, dem Schuldigen vorhalten, was er angerichtet hat, ihn dem inneren Gericht überlassen, die Gesellschaft aber vor ihm schützen, ohne Hinrichtung oder sonstige rohe Mittel – das könnte genügen.«

»Höre, Helmut,« sagte der Onkel, indem er an seiner Seite ging, »ich glaube, Du hast wahrhaftiges Christentum. Und indem ich Dir zustimme, wird mir klar, daß zur doppelten Wahrheit, von der bei mir das Unrecht seinen Ausgang nahm, auch jene doppelte Sittlichkeit gehört, die in Europa herrscht und in der neuen Welt, die aber noch heuchlerischer als die alte ist. Ich meine, mit den Lippen bekennt man Christentum, mit der Tat brutalste Barbarei, Mammonismus und Genußtaumel, Massenmord und allerlei Frevel. Nicht allein vor Blumen und Bäumen sollten wir uns schämen, sondern selbst vor Tieren. Schlimmer als Krokodil, Tiger und Schlange ist der Zivilisationsmensch, wo er Gelegenheit hat, Völker oder Einzelne auszubeuten. Hier, wie gesagt, sehe ich ein modernes Seitenstück zur doppelten Wahrheit, jener spitzfindigen Theologen, die für ihre Glaubenszweifel die Ausrede haben wollen, es seien eben beide Standpunkte wahr, obwohl sie einander widersprechen. Dasselbe zweideutige Verfahren waltet heutzutage auf sittlichem Gebiete: die biblischen Gebote, man soll nicht töten, selbst seinem Feinde Nachsicht, ja Güte erweisen, werden mit den Lippen bekannt. Tatsächlich herrscht aber eine gegenteilige Moral. Man wendet die Todesstrafe an, und na – Helmut, Du hast ja erlebt, wie verfeindete Völker alle bösen Mittel, Lüge, Betrug, Raub und Mord anwenden, wofern sie ihren gesetzlich sanktionierten Zielen förderlich sind.«

Helmuts Antwort war ein düsteres Schweigen.

»Und jetzt«, fuhr der Onkel grimmig fort – »nachdem die Feinde am deutschen Volke ihren Vernichtungswillen erreicht haben, diktieren sie ihm einen Frieden, der dem Wiedergutmachen dienen soll. Aber dieses Wiedergutmachen ist ein Noch- Schlimmer-machen, für die ganze Menschheit! Auf die Gesinnung kommt es an, auf den Sinn des Lebens, nicht auf politische Ziele und mechanische Ueberlegenheit.«

Möller-Lamettrie blieb auf dem Syringenweg stehen, der Blütentrauben weiß und duftig vorstreckte. »O Unschuld, Güte, Liebe möcht ich verbreiten und alles unterlassen, was nicht echten Kulturwerten dient! Meine Gaukelbude drüben in York, wo die leichtgläubige Menge mit grotesken Lügen getäuscht wird – weg damit! Pfui!«

Helmut mochte den Onkel solcher Stimmung nicht überlassen und suchte zu mildern: »Paradiesische Unschuld ist pflanzenhaft. Aus der Pflanze hat sich aber das Tier entwickelt und das Raubtier Mensch. Das ist nun mal kosmische Tatsache, daß der Einzelne vom Interesse seines Körpers ausgeht. Soll die Rückkehr zur Unschuld eine Reaktion sein? Sollen wir Wurzeln in den Boden strecken und Blüten in den Sonnenschein? Unmöglich! – Oder denkst Du vielleicht an die Lehre: Widerstrebe dem Uebel nicht gewaltsam?«

Wie suchend rollte der Greis die schwarzen Augen: »Zum Bergprediger möcht ich mich bekehren. Güte ist's doch allein, worauf es im Grunde ankommt, um das Böse zu überwinden.«

»Was Dir vorschwebt, ist richtig, Onkel. Aber bedenke auch, wie unsere Vorfahren den Sinn des Alls verstanden. Legten sie ohne weiteres vor dem Feind die Waffen nieder? Nein, sie brauchten die Waffen im treuen Dienst Allvaters, ihm beizustehen bei der Weltregierung.«

»Das heißt« – grollte der Alte – »sie pfuschten ihm ins Handwerk, setzten ihre Stümperei an Stelle unendlicher Weisheit.«

»Auch im Geschöpf kann unendliche Weisheit leuchten.«

»Ja, wenn's wirkliche Unendlichkeit ist, dann zeigt's sich in Liebe, Güte, Unschuld.«

»Die Weisheit Heraklits erkennt auch im Streit den Allvater: Streit ist Vater aller Dinge.«

Möller-Lamettrie stutzte: »Nun ja, Streit im Guten, Wettbewerb im Tüchtigen! Oder insofern Bedrängnis Hilfe herausfordert.«

»Vermag der Mensch denn immer mit Sicherheit zu erkennen, ob im Streite Gott waltet? Doch nur, wenn er Höheres schafft.«

In diesem Augenblick erscholl ein Gekläff Mohrchens, der das Nahen seines Herrn witterte, er kam dahergerannt und hüpfte an ihm hoch.

»Siehst Du, Onkel, auch im Tier ist Treue lebendig und Liebe.«

Froh gerührt, klopfte der Alte dem Pudel die Seiten, und dieser umschwänzelte die Weitergehenden.

So kamen sie zur Einsiedelei. »Tritt ein! ich bin sofort umgezogen, dann gehen wir zum Schach-Automaten. Ei sieh doch! Das Andenken an den guten Pater Ambrosius! Huldchen war hier!«

Mit einer Rose hat sie den Griff der Mönchsgeißel geschmückt.


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