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13. Unverstandne Sehnsucht

Dann fuhr Lamettrie fort: »Vielleicht schon heute abend will ich Dein freundliches Anerbieten, mir im Garten was Beruhigendes vorzulesen, annehmen. Aber Aussprache mit unseren Gästen ist mir jetzt Bedürfnis, zumal ich sie um Verzeihung zu bitten habe ... Meine Mißverständnisse haben Verwirrung angerichtet ...«

Burger versuchte bescheidene Einrede, doch das Wort schnitt ihm Lamettrie ab: »Gerade mit Ihnen, Herr Burger, möcht' ich noch etwas reden. Als wir auf der Bahnfahrt von Doppelgängerei plauderten, haben Sie Beispiele angeführt von Spaltung des Ich-Bewußtseins ...« Der alte Mann zögerte, als ob etwas in ihm Scheu habe, tiefer auf dieses Thema einzugehen.

Jetzt wird er die heikle Frage stellen! dachte Helmut und warf einen Streifblick auf seinen Freund. Dieser legte den Finger an die Lippen.

Und Lamettrie fuhr fort: »Ich gestehe, daß ich in einer Anwandlung von Ironie mich ein bischen dumm gestellt habe – als ob mir Doppelbewußtsein etwas unerhört Neues wäre. Dem ist nicht so, im Gegenteil!«

Stutzig blickte alles ihn an.

»Zutreffend war Ihre Darlegung, Herr Doktor Burger, nur hat es mich etwas gereizt, daß Sie diese seelische Erscheinung für etwas bloß Pathologisches halten, für einen Zerfall, für eine Störung der Urteilskraft. An einer wunderlichen Spaltung des Bewußtseins litt ein Professor der Philosophie, der sich als ein scharfsinniger Logiker bewährt hat. Er bildete sich zeitweise ein, er sei ein Glasröhrchen und hatte dann Angst, zu zerbrechen. Trotz solcher Erscheinung, die bei ihm periodisch eintrat, konnte er seine Vorlesungen halten, die stark besucht waren. Solch eine Störung des Ich-Bewußtseins können Sie als krankhaft ansehen, aber diese Ansicht trifft nicht auf jede Bewußtseinsspaltung zu. Sie scheinen keine Ahnung davon zu haben, daß in diesem scheinbaren Zerfall eine Selbstreparierung der Maschine walten kann. Sie wissen aber doch, daß manches von dem, was früher für Krankheit galt, ein Heilprozeß ist. So ist die Entzündung und das Fieber eine Arbeit des Blutes, der Herzpumpe, um Infektionen und sonstige Störungen zu beseitigen ...«

Helmut Burger nickte.

»Nun gut! um so eher verstehen Sie, worauf ich hinauswill. Auch das Doppel-Ich hat oft den heimlichen Zweck, eine gefährdete Existenz zu retten. Ein Schiffbrüchiger, der sein Schicksalsboot aufgeben muß, klammert sich an eine schwimmende Planke. Und wenn jemand mit seinem bisher führenden Ich nicht weiter zu leben vermag, kann es vorkommen, daß er sich hinüberrettet zu einem andern Ich, das ihm als Ersatz dienen muß. Es ist ähnlich wie mit einem Maschinenfuß.«

Verwundert blickte alles auf den Sonderling, der doch aus guten Gründen entmündigt sein mußte, aber verblüffend scharfsinnig urteilen konnte.

Daß er Eindruck machte, schien er mit einem bitteren Behagen zu beobachten. »Ja, sehen Sie, Doktor Bürger, obwohl in mir viel Amerikanismus steckt, fehlt es mir nicht ganz an jener Inwition, die Ihr schwäbischer Vetter den Yankees abspricht – der verrückte Lamettrie ist eben doch nicht ganz ohne!«

Helmut wagte sich mit einer Bemerkung heraus: »Was Sie da sagen, daß man aus einem alten Ich, wenn es unerträglich wird, in ein neues flüchten könne, ist allerdings eine Intuition, und hat etwas bestechend Einfaches.«

Gerhart saß wie auf Kohlen.

Aufleuchtenden Blickes triumphierte der Greis: »Simplex sigillum veri! so sprach der große Boerhave von der Universität Leyden – der Stempel des Wahren ist Einfachheit.«

»Sehr gut, Onkel!« warf Gerhart dazwischen, und atmete auf – »nur muß zum Stempel Einfachheit noch ein anderes hinzukommen: die Probe aufs Exempel. Erst wenn sich die Intuition in der Praxis bewährt, ist sie erwiesen.«

Ernst und stolz lautete Lamettries Bescheid: »Wo die Planke wirklich zur Rettung dient, bewährt sie sich doch selbstverständlich.«

»So meine ich's nicht«, wandte Gerhart ein – »ich denke an Bewährung nach anderer Richtung. Das Wrack darf nicht vorschnell preisgegeben werden, seinen Schaden soll man möglichst ausbessern

Lamettrie schien das zu überhören und fuhr fort: »Nur freilich kann die Kraft dem Schiffbrüchigen, der sich an seine Planke klammert, im wilden Meer erlahmen, so daß er losläßt und versinkt. Von solch einem Falle weiß ich zu berichten. Wollt Ihr hören?«

Gespannt blickten alle auf den alten Mann, der plötzlich verriet, daß er die Natur seiner seltsamen Veranlagung weit besser überschaue, als er bisher hatte merken lassen.

Nach einer Pause düsteren Sinnens begann er aufseufzend: »Ach ja, mit der Ersatzware geht es, so lange man's aushält. Laßt mich erzählen! Vor etwa achtzig Jahren mag es gewesen sein, da lebte in München ein Doktor Weihenmüller, Kenner der orientalischen Literatur – die Märchen Tausendundeinenacht hat er aus dem Arabischen übersetzt, sich auch in alte Mystik Indiens vertieft. In seiner sonstigen Lebensführung schiffbrüchig, nämlich verlassen von seiner leichtfertigen Frau, nun ganz ohne Familie und ohne Verkehr, hauste er in einer stillen Gasse unterm Dach, ähnlich einem Einsiedlerkrebs im Schlupfloch, und war nur für feine Bücher interessiert. Wenn sich zwischendurch quälende Gedanken an die Vergangenheit bei ihm meldeten, machte er sich taub durch krankhaftes Ablenken.

In einen Traum, der ihn eines Nachts beglückt hatte, war er so närrisch verliebt, daß er sich drillte, ihn zu wiederholen und weiterzuspinnen. Darin erlangte er solche Virtuosität, daß er sich den Tag über auf die Nacht freute, die ihn allemal einer indischen Prinzessin zugesellte und den märchenhaften Erlebnissen in ihrem Garten und Palast. So gewann er ein anderes Ich und zweites Leben. Erfahren hat man davon aus seinen hinterlassenen Aufzeichnungen.

Einen umfangreichen Roman hat er sich zusammengeträumt: Farbenglänzende Bilder, eine selige Romantik von Liebe, Genuß und Heldentum. Nachdem er mit seiner dunkeläugigen Braut erst heimliche Zusammenkünfte an mondbeglänzter Meeresküste gehabt hatte, erreichte sie, daß ihr Vater ihn zu seinem Ratgeber erhob und zum Schwiegersohn.

Nun wurden Feste gefeiert, auf goldenen Schüsseln prangten die Früchte des Südens, Harfen und Flöten jubelten, Märchenerzähler ließen ihre Wunder leuchten. In überschwenglich glücklicher Ehe bescherte die engelhafte Prinzessin ihrem Gatten Kinder, eins immer lieblicher als das andere. Dann erlebte er den Heldenrausch, Siege zu erfechten, als Feldherr des Reiches, vom Volke bejubelt und vom gern abdankenden König auf seinen Tron erhoben, wo er nun, die Liebste zur Seite, über unabsehbare Lande herrschte, ein zweiter Salomo ...

Ist es nicht ein kluger Trick der Allmaschine Natur, daß sie ihrem Geschöpfe, dem Menschen, für den Fall, daß ihm die Wirklichkeit verhagelt, Ersatzknospen beigegeben hat, aus denen alsdann jene anderen Blüten hervorsprießen, die gewöhnlich Illusionen heißen.

Ibsen nennt sie Lebenslüge und erklärt geradezu, ohne irgendeine Lebenslüge bringe man nicht genug Selbstbewußtsein auf, um die furchtbaren Enttäuschungen dieses tückischen Daseins zu ertragen. Drum wehe uns, wenn auch noch die Lebenslüge zerflattert!«

»Lebenslüge? Illusion?« überlegte Burger – »ist die sogenannte Illusion nicht vielmehr das wahre Leben?«

Lamettries schwarze Augen blitzten auf: » Meinen Sie?«

»Wie wäre das denkbar?« sann Hulda.

Und Helmut erwiderte: »Wenn die gescholtenen Illusionen ein echtes Ideal sind, das Gebilde einer Sehnsucht, die in sich selbst ihre Erfüllung hegt.«

»Wie soll ich das verstehen?« sagte Lamettrie.

»Wenn sie nicht bloß in der Außenwelt herumtappt und da natürlich enttäuscht wird.«

Aufstöhnend knurrte der Greis: » Außenwelt? Ich hasse diesen Störenfried. In Lapplands Wildnissen und auf den einsamen Lofoten konnt' ich die schwarzen Lose meiner Vergangenheit halbwegs vergessen – teilweise auch hier bei Euch! Doch die Bestie Außenwelt – alle Schlupfwinkel des Einsiedlerkrebses spürt sie auf – und jetzt umschleicht sie mich wieder – ich ahne schon – oh!«

»Aber Onkel!« mahnte Gerhart, wohl um ihn abzulenken von seiner Düsterheit – »Dein König Salomo wußte sich scheints die Außenwelt vom Halse zu halten. Erzähle doch, wie's ihm weiter ging?«

Lamettrie schwieg, schoß auf den Frager einen bösen Blick und zischelte: »Die Außenwelt vom Halse halten – ja, wer das vermöchte

»Nun Onkel, ein Glück, daß Du nicht immer so abweisend gegen die Außenwelt gestimmt bist.«

Dieser kleine Hieb saß, der Sonderling lenkte ein: »Wie's mit ihm weiter ging, willst Du wissen? Empörend traurig! Weil er sich gänzlich vergrübelte in seine Träumereien, vergaß er die Miete zu zahlen, und wollte den Hauswirt nicht einlassen. Bis eines Tages die Polizei öffnete, um das Mobiliar auszuräumen. Als der Gelehrte mit Entrüstung seine Bücher verteidigte, wurde er zur Beobachtung in eine Irrenanstalt gebracht. Da hat man ihm seine Glücksillusionen wegdisputieren wollen – mit dem Erfolg, daß ihm das Herz zersprungen ist ...«


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