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44. Frau Rade

In Gerharts Auto waren dieser, Helmut und der Forstmeister auf dem Bahnhof angekommen, und da der erwartete Zug diesmal überaus pünktlich angelangt war, irrte Frau Rade vor dem Gebäude schon beunruhigt umher.

»He, Frau Rade!« riefen die drei Männer mit den Hüten winkend, und nach erfolgter Begrüßung sagte Gerhart: »Na, das hätten Sie gewiß nicht für möglich gehalten, so rasch zu Helmuts Verlobung geladen zu werden.« Als Helmuts Freund stand Gerhart auf gutem Fuße mit dessen Wirtin.

Mit strahlender Freude überreichte Frau Rade dem Bräutigam einen mächtigen Strauß von rosa Rosen und knixte in einem fort. Außer einer altmodischen Reisetasche hielt sie eine geheimnisvolle Schachtel, und so stieg die gute Frau zu den Herren ein, und das Auto sauste los.

»Das ist ja schön«, sagte sie – »daß man gleich zu Bekannten kommt und alte Freundschaft erneuern darf, Herr Forstmeister. Ich bedanke mich auch für den großartigen Empfang. Das ist ja fast, als wäre ich die Brautmutter!«

»Die Bräutigamsmutter sind Sie gewissermaßen, Frau Rade«, sagte Helmut – »Ihre Fürsorge hat mir meine Häuslichkeit immer gemütlich gemacht.«

»Das wäre eigentlich eine Rede für die Verlobungstafel! Behalte noch Pulver auf Deiner Pfanne, Junge!« meinte der Forstmeister.

Solche Liebenswürdigkeiten wechselten ab mit Aeußerungen über das Ruhr-Revier und die Landschaft.

»Hurra, da haben wir meine Braut und die Schwiegermutter!« jubelte Helmut, als die Damen auf die Freitreppe des Schachthofs traten. Mit Herzlichkeit begrüßte man sich.

»Und wo haben Sie Ihr Gepäck, Frau Rade?« Diese errötete; Gepäck hatte sie wenig mitgebracht, und vor allem schien ihr die Schachtel am Herzen zu liegen.

»Ich habe nur für zwei oder drei Tage gerechnet!« sagte sie bescheiden.

»Zwei bis drei Tage? Sie bleiben bei uns so lange, als es Ihnen gefällt!« sagte Frau Belling.

Helmut betrachtete mit Neugier die Schachtel und fragte: »Was ist denn das für ein Heiligtum?«

»Ach Gott! das ist eigentlich zu früh gefragt. Aber da Sie nun doch einmal so neugierig sind, will ich Ihnen verraten: das ist Ihr Verlobungsgeschenk, ein kostbares Andenken an Ihre Großmutter. Als Sie hierher gefahren waren, besann ich mich auf Schriftstücke von der Großmutter, nach denen Sie ja gefragt halten. Ich suchte – und fand eine Schatulle, in der Großmutters Tagebuch war.«

»Also doch!« sagte Helmut.

»Ja, und damit kommt etliche Klarheit in die dunkle Geschichte«, antwortete Frau Rade.

»Und wieso?« meinte Helmut.

Frau Belling, die wohl verhüten wollte, daß Lamettrie in solche Erörterungen hereinplatzte, führte die Anwesenden in ihre privaten Räume und bat Sie, Platz zu nehmen.

»Wieso? fragen Sie?« – nahm Frau Rade das Wort – »weil dies Tagebuch zeigen wird, was für eine gute und außerordentlich tüchtige Frau Ihre Großmutter war.«

»Aber wie« – fragte nun Gerhart – »wird dieses Tagebuch auf den Mann wirken? auf ihn, der sie damals im Stiche gelassen hat? Enthalten die Schriftstücke auch nicht etwa Vorwürfe? Dürfte der Onkel sie wohl lesen?«

»O freilich! Nur Sehnsucht könnten sie ihm erwecken nach dieser alles verzeihenden Güte.«

Der Forstmeister nickte stumm, und die Augen wurden ihm feucht. Helmut warf seinem Freunde einen leuchtenden Blick zu und sagte zu Frau Rade: »Ein solches Verlobungsgeschenk nehme ich mit Tausend Freuden an. Aber wie war es nur möglich, daß Sie diesen Nachlaß erst jetzt gefunden haben?«

»In der Schatulle lag ein loses Brettchen, das wie der Boden aussah, so daß man meinen konnte, sie sei leer. Aber kurz vor meiner Abreise, als ich die hinterlassenen Urkunden und einige Photographien in die Schatulle legen wollte, rutschte mir diese aus der Hand auf die Diele, und das Brettchen fiel heraus mitsamt dem Tagebuch. Sie können sich denken, wie verblüfft ich über diesen Fund war ... Als ich ersten Einblick in das Tagebuch genommen hatte, kam es mir vor wie eine Fügung, daß ich Ihre Großmutter bei der Verlobung ihres Enkels vertreten solle, und daß dies gewiß ihren Wünschen entsprechen würde.«

Dieser Bericht erregte bei allen Anwesenden Aufsehen, besonders die merkwürdige Art der Enthüllung durch das Entgleiten der Schatulle.

Frau Rade fuhr fort: »Die Ueberraschung mit dem Tagebuch, in das ich mich gleich vertiefte, war Anlaß zu meiner verspäteten Abreise. Und während der ganzen Bahnfahrt mußte ich darüber nachdenken, um ein wenig Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Bei der Zollrevision im Ruhrgebiet bekam ich einen Heidenschrecken, als der französische Beamte auf einmal nach dem Inhalt meiner Schachtel fragte. Ich war sprachlos. Und als er seine Frage wiederholte, stammelte ich etwas von Geschäftsbüchern, worauf er schwieg. Und wie ich merkte, daß ich entlassen war, stieg ich zitternd wieder in den Zug.«

Wegen ihrer ausgestandenen Angst wurde die gute Frau bedauert, sie selbst kam sich wie eine patriotische Heldin vor, meinte aber kleinlaut:

»Nicht wahr, meine Ausrede hat der Franzose gar nicht verstanden, und ich kann doch davon keinerlei Unannehmlichkeiten haben. Nicht etwa, daß man mir nachsagt, ich hätte falsche Tatsachen angegeben ...«

»Beruhigen Sie sich, Frau Rade« – tröstete Frau Belling – »selbst eine faustdicke Unwahrheit müßte der liebe Gott Ihrem Herzen nachsehen.«

»Wie wertvoll mir gerade dies Geschenk ist, kann ich gar nicht sagen« – versicherte Helmut, der an Huldas Seite bereits etlichen Einblick in das Tagebuch genommen hatte. »Also, nicht wahr, Liebe und Verzeihen für den Mann drückt das Tagebuch aus?«

»Ja, sie entschuldigt alles und sucht ihn ganz zu begreifen.«

»So daß man ihm das Tagebuch geben könnte?«

»Ich glaube: ja!«

»Gleichwohl empfiehlt es sich, daß wir es vorher lesen und daraufhin prüfen« meinte Gerhart – »man kann ja nicht wissen, in welche Selbstquälerei er sich wieder verstrickt. Vorsicht ist jedenfalls angebracht.« Und so zogen sich die Freunde zurück in Huldas Begleitung.

»Sie könnten ja mir einstweilen etwas aus dem Leben von Helmuts Großmutter erzählen, etwas, das keine Indiskretion bedeutet«, sagte Frau Belling zu Frau Rade.

»Seltsam bleibt Herrn Möllers Verhalten jedenfalls«, meinte der Forstmeister, »wenn von ihm geredet werden darf. Meine Schwester war ein einfacher, ein gerader Charakter, da wird nicht viel zu berichten sein. Er aber, Möller-Lamettrie, ist das Rätsel ... Ich habe mal einen Hund gehabt, ein Terrier war's, der log mich an, überlistete mich, so daß man nicht klug wurde aus dem Vieh ...«

»Nun«, meinte Frau Belling – »warum sollte ein Tier nicht auch mal einen Forstmeister an Gerissenheit übertreffen? das ist keine Schande.«

»Schande nicht, aber ein Reinfall«, murrte der Forstmeister – »indessen freilich muß man Tiere nicht mit moralischem Maßstab messen, vielmehr mit Humor betrachten.«

»Menschen doch auch«, lächelte Frau Rade.

»Das läßt sich zwar nicht durchaus bestreiten«, erwiderte Erlenbach – »aber zuweilen verliert man doch den Humor. Wenn man zum Beispiel erlebt, wie die einzige Schwester einem Manne ihr Herz schenkt, der sie treulos verläßt und sich in keiner Weise um sie und ihr Kind kümmert.«

Beruhigend legte Frau Belling ihre Hand auf seinen Arm: »Aber Herr Forstmeister, wir wissen doch, daß in diesem Fall ein tragisches Mißverstehen waltet, indem er sich einbildete, die werdende Mutter habe sich das Leben genommen.«

»So? aber kann er den bündigen Beweis dafür erbringen, daß dieses nicht eine Ausrede ist, in die ihn sein schlechtes Gewissen hineingesteigert hat?« antwortete roten Kopfes der Forstmeister.

Zum allgemeinen Entsetzen stand plötzlich der in ihrer Mitte, von dem eben die Rede war, so daß alle wie erstarrt waren. Finster war sein Gesicht, und seine Augen, die zuerst lodernd umherblickten, bändigten sich zu einem fast demütigen Ausdruck: »Meine Einbildung, ja das muß ich sagen, hat mir arge Streiche gespielt, nicht aber in dem Punkte, auf den es hier ankommt. Daß ich nach dem Bescheide des Brüsseler Arztes entschlossen war, dem Priesterberuf zu entsagen und sie zu meiner Frau zu machen – das werde ich Ihnen beweisen. Wenn irreführende Nachrichten mich zu dem Wahne brachten, sie sei in den Frankenberger Weiher gegangen, das ist nicht meine Schuld. Für all das werde ich Ihnen, Herr Erlenbach, den bündigen Beweis liefern – wenn Sie mir in meine Einsiedelei folgen wollen – und zwar auf der Stelle.«

»Einsiedelei?« stutzte Frau Belling. »Ach nein! Geh lieber jetzt nicht! Da sind Leute beschäftigt ...«

»Leute? Was tun sie denn?« fragte mißmutig der Greis.

»Oh, entschuldige gütigst!« lautete die verlegene Antwort – »was möchtest Du denn in der Einsiedelei? Brauchst Du vielleicht Schriftstücke, die dort sind? Ich hole sie Dir! Wo befinden sie sich?«

»Im Wandschrank ist ein Bündel mit der Aufschrift: »Briefe von Pater Ambrosius!« Und ein Schlüsselchen holte er aus seiner Westentasche und gab es ihr.


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