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17. Was nun?

Frau Belling führte ihre Gäste in eine Stube, und alles war in starrer Schweigsamkeit. Kaum aber eingetreten, platzte Gerhart los: »Na nu! Habt Ihr jemals diesen sonderbaren Zug an ihm bemerkt?«

»Nun ja«, meinte Hulda, »eine aufregende Szene war's, aber er hat sich ja schon wieder beruhigt.«

Doch Gerhart fuhr erregt fort: »Er phantasiert ja wie ein Schauspieler – diese Szene aus Romeo und Julia! Hulda scheint ihn lebhaft an eine Julia-Darstellerin zu erinnern, der sie offenbar sehr ähnlich sieht. Wahrscheinlich hat diese sein Schicksal erschüttert.«

Hulda nickte. Das Taschentuch an ihre Lippen gedrückt, war sie in starres Grübeln versunken, auch Helmut Burger schwieg.

Gerhart, der mit energischen Schritten das Zimmer durchmessen hatte, straffte sich zu einem Entschluß empor: »So kann es nicht länger gehen. Das Lamettrie-Rätsel muß aufgehellt werden. Ich habe so meine stillen Kombinationen. Tante Belling, hast Du einen Fahrplan? Ich möchte noch heute verreisen, wohin, hängt von den Kombinationen ab. Jedenfalls ruhe ich nicht, bis Onkels Persönlichkeit festgestellt ist und er selbst sich dann in seinem Leben zurechtfindet. Freund Helmut wird mir dabei helfen. Auch er muß heute abend noch verreisen, nach Berlin, um aus seiner Wohnung gewisse Dokumente zu holen, die mir unerläßlich sind. Ich selber fahre in westlicher Richtung. Das Nähere enthülle ich später.«

Frau Belling war schon nach dem Fahrplan gegangen, und nun brachte sie ihn. Gerhart blätterte in dem Buche und hatte bald herausgefunden, was er suchte.

Noch finster blickend, entschloß er sich: »Eine Stunde können wir noch hier beisammen sein, dann fahren wir im Auto zu meinen Eltern und schnell zum Bahnhof. Ich schlage vor, daß wir jetzt noch einen Spaziergang machen; Luft muß ich haben. Huldchen kann, wenn's ihr beliebt, uns zum Kriegerdenkmal führen. Du aber, liebe Tante, wirst wohl hier zu bleiben wünschen, wo Dich möglicherweise der Onkel nötig hat. Gestatte also, daß wir uns empfehlen, mit bestem Dank für Deine Gastlichkeit.«

Frau Belling, die mit dem Vorschlag einverstanden war, verabschiedete sich von ihren Gästen und bat sie, bald wiederzukehren, für die Reise wünschte sie besten Erfolg. Im Flur bekleidete man sich mit Mänteln und Hüten und trat dann auf die Freitreppe.

Der Regen, der von ganz kurzer Dauer gewesen war, hatte die Luft gereinigt und den Staub der Landstraße gelöscht. Eine Lerche stieg jubelnd himmelan, und die Blütenbüsche glänzten vergoldet von der Nachmittagssonne. Helmut suchte der Lerche mit den Augen zu folgen, auch Hulda beobachtete ihren Aufstieg. So schritten die Drei die Landstraße dahin und streiften mit zerstreutem Blick die vereinzelt stehenden Dorfhäuschen, die sprießenden Gärtchen.

»Nach einem Kriegerdenkmal also gehen wir, wenn ich recht verstanden habe«, bemerkte Helmut, und Gerhart antwortete: »Huldas Verlobter, der in Flandern gefallen ist, hat dort seine Grabstätte.«

Der Friedhof war von einer bekalkten Mauer umgeben, über welche Efeu seine Ranken spreitete. Neben der Starrheit der noch winterlichen Zypressen zeigten Trauereschen ihr frisches Grün. Hinter Syringen, welche die Kieswege säumten und schon ihre violetten Blütentrauben hatten, waren Grabsteine und Kreuze mit goldenen Inschriften. Inmitten einer gärtnerischen Anlage ragte ein marmornes Standbild des Heilands, wie er segnende Arme breitet.

»Das ist ja eine sehr gute Nachbildung jenes segnenden Christus von Thorwaldsen«, bemerkte Helmut.

Gerhart gab näheren Bescheid: »Dies ist unser Kriegerdenkmal. Onkel Lamettrie hat es der Dorfgemeinde gestiftet, teils um die Gefallenen zu ehren, teils auch um der Gemeinde dafür zu danken, daß Huldas Verlobter, den man aus fremder Erde ausgegraben hat, vor dem Denkmal seine Ruhestätte finden durfte, hier ist das Grab.« Und seinen Hut in der Hand, stand er von einem schlichten Efeu-Hügel mit flachem Stein, auf dem der Name des Gefallenen stand, sein Geburts- und Todestag. Auch Helmut ehrte stumm mit seinem Gruß den Kameraden. Huldas tiefe Bewegung und Andacht teilte sich den Freunden mit. Nun trocknete sie ihre Augen und wandte sich zum Gehen. Ihren seelenvollen Blick fing Helmut auf und fühlte, wie er sie liebte. Keine Regung von Eifersucht, aufrichtige Verehrung brachte er dem Toten dar, den sie ja hatte heiraten wollen, und gewiß noch immer liebte.

Sie waren nun wieder auf der Landstraße und schritten schweigend dahin, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Helmut war traurig, nicht bloß die Gräber hatten ihn dazu gestimmt, sondern Huldas Geschick bewegte ihn mit inniger Teilnahme. Was sie vorher im Garten über ihre Vereinsamung gesagt hatte, brachte eine verwandte Saite seines Herzens zum Mitschwingen. Auch er gehörte ja zu den Einsamen, seit seine Eltern schon vor dem Krieg gestorben waren und die treue Großmutter ihr schlichtes Kämpferdasein vor vier Jahren beendet hatte.

Gerhart schien ganz im Banne seiner Grübelei zu sein, seiner Sorge um den Onkel gab er Ausdruck: »Also wie öffnen wir ihm die Augen? Dazu ist vor allem nötig, daß wir ihn orientieren, nämlich klares Licht über seinen Lebensgang verbreiten, durch Schriftstücke und dergleichen. So nur kann er erlöst werden von jenem Schuldbewußtsein, das ihn quält, so daß er sich flüchten zu müssen glaubte in die krankhafte Einbildung, er sei der Philosoph Lamettrie.«

»Gut, Gerhart, zugegeben, daß Deine Seelenzergliederung den wunden Punkt trifft; es ist indessen noch fraglich, ob wir den Onkel mit Sicherheit befreien können vom Schuldbewußtsein, das ihn verstört – oder ob wir nicht besser tun, ihn seinem Lamettrie-Bewußtsein zu überlassen. Gewiß, es ist eine Krücke, sogar eine bedenkliche, immerhin hat sie ihn durch Jahrzehnte aufrechterhalten und hält vielleicht noch ein Weilchen.«

Gerhart blieb stehen und hielt seinen mutvoll leuchtenden Blick in des Freundes Auge gesenkt, als begrüße er drin ein kommendes Schicksal: »Mein Helmut, versage Du mir nicht! Fahre nach Berlin, und hole erstens alle Urkunden, die Du über Deine und Deiner Eltern Vergangenheit hast, ferner Dein Photographie-Album mit allen Familienbildern, und schließlich jenes Buch, dem wir verdanken, daß wir als Freunde einander gefunden haben. Diese drei Wünsche sollst Du jetzt Deinem Gedächtnis einprägen und dann mit Gott reisen, Du Glückspilz, Du!«

»Warum sagst Du Glückspilz zu mir armem Schlucker?«

»Geld freilich macht Dich nicht glücklich, wie Du ja hinreichend gezeigt hast, und doch ahnt mir, daß Dir ein Glück bevorstehen kann.«

»Meinst Du?« erwiderte Burger mit einem schmerzlichen Blick.

Was ihm traurig durch den Sinn ging, war das Bewußtsein, Hulda nichts zu bieten, was sie zu einer Heirat ermutigen könnte. Vor allem erschien es ihm sehr zweifelhaft, ob sie sich überhaupt entschließen könne, einem Mann die Hand zu reichen, nachdem ihr erster freudiger Versuch dazu durch den blutigen Weltkrieg vereitelt war. Jener Mann, der unter der Erde lag, schien noch immer ihre ganze Liebe zu besitzen.

Und war es nicht vielleicht bloß Freundschaft, eine gewisse Harmonie der Seelen, was Huldas Stimmung vorhin im Garten veranlaßt hatte? Ach ja, Freundschaft! Das Bedürfnis, sein Inneres einem teilnehmenden Freunde zu eröffnen, hatte er zum ersten Male erlebt, seit er Gerhart kannte und ihn als Freund gewonnen halte.

Aus solcher Versonnenheit fuhr er plötzlich auf und fragte, zu Gerhart gewandt: »Findest Du nicht auch, daß die Art, wie wir Freunde wurden, etwas Wunderbares hat? Zwei Lebensfäden treffen zusammen. Jeder für sich betrachtet, stellt eine folgerichtige und nicht sonderliche abenteuerliche Entwicklung dar. Aber daß diese beiden Fäden zusammentrafen und sich sofort fest verknüpften, das sieht doch ganz nach Absicht aus – als habe das Schicksal alles gerade so fügen wollen.«

»Erzählt doch mal, wie das geschah, das ist doch sehr merkwürdig«, fiel Hulda ein.

Gerhart erwiderte nach einigem Besinnen: »Das Abenteuerliche unseres Zusammentreffens ist, daß dabei ein Name, den wir auch im Brief des Vetters auftauchen sahen, die Hauptrolle spielt, und zwar der Name Erlenbach. Nun aber zurück zum Schachthof!« fuhr er ungeduldig fort – »wo uns hoffentlich unser Auto erwartet; dann zu meinen Eltern, wo wir Bescheid sagen.«

So gingen sie weiter die Landstraße dahin. Gerharts Gedanken waren ganz erfüllt von seiner Aufgabe, Licht in das Lamettrie-Rätsel zu bringen. Helmut freilich erwartete von seiner Berliner Reise keine Ueberraschung; er war überzeugt, daß die Kombination seines Freundes vor der Wirklichkeit nicht standhalten werde.


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