Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21. Aus guter Familie

Mit Hulda und ihrer Mutter saß der Gast des Schachthofes beim Tee und hatte über die Ergebnisse seiner Fahrt berichtet.

»Aber nun verraten Sie uns endlich« – bat Hulda – »auf welche Weise Gerhart mit Ihnen bekannt wurde. Der Name Erlenbach ist ihm, wie Gerhart sagt, durch einen Zufall auf der Universität Berlin von neuem begegnet, und zwar in Verbindung mit einem gewissen Helmut Burger, von dem er bis dahin keine Ahnung hatte.«

»Statt Zufall wollen wir sagen, es war ein gemeinsames Geistesinteresse, das uns in Berlin zusammenführte: Im Seminar für Sozial-Ethik entbrannte ein Streit um das alte Sittenideal der sogenannten guten Gesellschaft. Ich war gerade dabei, die Lebensanschauungen der Höheren Tochter zu kritisieren, und darin gibt es so manches, was im Strome des Lebens einen wertlosen Plunder bedeutet.«

»Sie drücken sich scharf aus«, meinte Frau Belling – »ich war Zögling eines Töchter-Pensionats in Eisenach – Hulda kommt auch von da – und wir ...«

»Ach Mutter«, fiel ihr Hulda ins Wort, »bedenke doch, welch ein düsteres Schicksal über dem Schachthof schwebt! Der Onkel quält sich mit Schuldgedanken, an denen gewiß viel Phantasterei ist, aber auch etwas, das sich wirklich begeben hat, wie zu befürchten ist, und solchen Wirklichkeiten stehen wir Höheren Töchter ziemlich unwissend gegenüber und ungerüstet.«

»Unser Wissen, unsere Rüstung sind unsere Männer!« meinte die Mutter etwas gereizt.

»Unsere?« erwiderte Hulda leise.

»Ich rede natürlich nicht von Dir oder von mir, sondern im allgemeinen. Jedenfalls hast Du Dich nicht gerade zu beklagen, hast Du nicht ritterliche Beschützer: Gerhart und Onkel Lamettrie?«

» Bleiben wir doch dabei, nur im allgemeinen zu sprechen, nicht von unseren persönlichen Verhältnissen!« entgegnete Hulda.

»Das heißt« – lenkte Helmut ein – »zunächst soll ich doch von unserer persönlichen Anknüpfung, unserer Bekanntschaft erzählen.«

»Ja so,« lächelte Hulda – »also vom Seminar, wo Sie die Höhere Tochter wie der Sperber die Taube in den Klauen hatten.«

»Gewiß! und wer mir zerzausen half, war Ihr Ritter Gerhart«, sagte Helmut mit freimütiger Sachlichkeit.

In fröhliches Lachen brach Hulda aus, und ohne Uebelnehmerei machte ihre Mutter mit.

Helmut erzählte weiter: »Aber zunächst gab es nur ein Berühren unserer Ansichten. Erst nach Schluß des ziemlich besuchten Kollegs sprach Gerhart mich an. Er fragte nach dem Roman, auf den ich mich berufen hatte, und ich erbot mich, ihm das Buch zu leihen ...«

»Wie heißt es?«

» Aus guter Familie lautet der Titel, von Gabriele Reuter.«

»Ich kenne den Roman« – bemerkte Hulda.

»Und was halten Sie davon?«

»Oh! sehr viel!« erwiderte sie. »Ja, dies Buch übt eine vernichtende Kritik an der Erziehung der Höheren Tochter, und an dem, was sich die gute Gesellschaft nennt.«

»Was hat die Verfasserin denn daran auszusetzen?« fragte Frau Belling.

»Das muß man eben lesen«, antwortete Helmut, »deswegen hat die Dichterin einen Roman geschrieben – anschaulich soll man das erleben, nicht in dürren Begriffen.«

»Natürlich! ich wollte mich nur kurz unterrichten. Der Genuß des Romans steht mir noch bevor.«

»Grundgedanke der Reuter ist etwas, wodurch meine Darlegung im Seminar packend veranschaulicht wird. Eine Satire – aber objektiv wahr – auf die Erziehungsweise, wie sie vor dem Krieg in sogenannten guten Familien üblich war. Wie manches hochbegabte Mädchen ist infolge einer solchen Erziehung zu einer Ruine geworden! Vielleicht zu einer vertrockneten alten Jungfer, die schließlich soweit kam, ihren Eltern und Schulen sogar noch dankbar zu sein für den wohlanständigen Käfig, in den man sie Jahrzehnte lang gesperrt hatte, um sie vor dem wirklichen Leben mit seinem Kämpfen und Ringen zu bewahren. Durch ihre Musterfamilie wurde jede freie Entfaltung unterdrückt, in Unkenntnis all dessen, was abseits der wohlanständigen Gesellschaftsordnung liegt, kann die Höhere Tochter als Persönlichkeit zu Grunde gehen bei aller standesgemäßen äußerlichen Versorgung.«

»Sie urteilen sehr hart«, erwiderte Frau Belling – »an der Auffassung der Reuter mag manches wahr sein – immerhin bleibt es für mich bei Uhlands treuherzigen Worten: Zu steh'n in frommer Eltern Pflege, welch schöner Segen für ein Kind! Ihm sind gebahnt die rechten Wege, die Andern schwer zu finden sind.«

»Eben solch Gebahntsein der Lebenswege«, – sagte Hulda »und dazu rechne ich auch herkömmliche Meinungen – so was ist für manche Tochter geradezu ein Unglück ... Ich denke beispielsweise an etwas, das sich der Onkel Lamettrie zum Vorwurf macht. Als Schwermütiger freilich sieht er seine Vergehen übertrieben an; aber seine Trauer ist vielleicht durch Geschehnisse begründet, die abseits der wohlanständigen Ordnung liegen.«

»Was für mich gerade beweist, daß die Kenntnis solcher Abseitigkeiten auf ein junges Mädchen unheilvoll wirken kann« – erwiderte Frau Belling.

»Es läßt sich hin und her plänkeln«, meinte Hulda mit etlicher Ungeduld, »aber vorderhand möchten wir hören, was Herr Burger über sein Sozialethisches Seminar zu sagen hat. Also für den Roman »Aus guter Familie« zeigte Gerhart Interesse? Und was weiter?«

»Ich erbot mich also, ihm das Buch zu leihen. Es war ein Exemplar mit einer handschriftlichen Widmung.«

»Und so fand er den Namen Erlenbach?« warf Hulda ungeduldig ein.

»Gewiß«, erwiderte Helmut, »und noch mehr, die Widmung lautet: »Meinem Enkel Helmut zum Geburtstage«. Dann kam ein Gedicht, das auf den Namen Helmut anspielt und ihn ableitet von Hel, der Göttin der Unterwelt; und die Unterschrift dieser Widmung heißt: Großmutter Erlenbach.«

Hulda starrte auf den jungen Mann, als sei er etwa vom Planeten Mars herabgefallen: »Ihre Großmutter lebt nicht mehr? Wann ist sie gestorben?«

»Kurz vor Ausbruch des Weltkriegs, sechsundsechzig Jahre alt. Die Hungersnöte und Sorgen um mich als Kriegsteilnehmer blieben ihr erspart.«

Hulda flüsterte ihrer Mutter erregt zu: »Du weißt doch, es ist derselbe Name, den Gerhart auf jener Photographie las.«

Helmut verstand die Worte und wagte zu berichtigen: » Zufällig derselbe. Gerhart hatte die ungeheuerliche Vermutung, die beiden Damen Erlenbach seien identisch, also sei Herr Lamettrie einer, der meiner Großmutter nahestand, so daß sie ihm das Bild 1872 geschenkt habe. Diese Kombination ist natürlich ein Irrtum.«

Frau Belling betrachtete ihn scharf, als sie die Aeußerung tat: »Mit Hulda soll ja jene Photographie auffallende Ähnlichkeit haben.«

Er geriet in Verwirrung: » Gerhart sagt so, niemand sonst hat die Photographie gesehen.«

»Und Sie, Herr Helmut, finden Sie, daß Ihre Großmutter Aehnlichkeit hat mit Hulda?«

Verlegen blickte sein Blick über Hulda hin, die freundlich lächelnd ihm standhielt. Dann sann er, und sagte schließlich: »Nicht ganz ableugnen kann ich's – aber vielleicht kommt mir's nur deshalb so vor, weil ich gestern auf der Fahrt, bei der ich Gerharts Befund in Erwägung zog, nun ... weil ich da lebhaft an Fräulein Hulda dachte.« Sie errötete über und über, und Helmut, der seinen Blick bald auf ihr linkes, bald auf ihr rechtes Auge gerichtet hielt, geriet in völlige Verwirrung.

»Haben Sie denn kein Bild von Ihrer Großmutter?« fragte Frau Belling.

»Nur eins aus ihrem letzten Jahr. Das hat einen ... fast möcht ich sagen, freudigstolzen Ausdruck – als ob sie wie eine Siegerin auf überstandene Kämpfe zurückschaue.«

Nach geraumer Weile begann Frau Belling: »Wenn solche Schicksale wie das Ihrer Großmutter für Höhere Töchter etwas Heikles haben können, liegt es nicht an der Art, wie sie es auf sich genommen hat, sondern am Verhalten des Vaters.«

Hulda suchte aus all den Wirrnissen heraus einen klaren Schluß zu finden: »Ist es nicht wunderbar? Onkel Lamettrie quält sich mit einem Schuldbewußtsein, und jedenfalls haben irgendwelche Verfehlungen zu dieser Selbstquälerei geführt. Uns treibt Mitgefühl, ihm zu helfen – ein Resultat war zunächst, daß wir einander gefunden haben – Gerhart wurde durch seine Sozialethik mit Herrn Burger befreundet, dieser dann mit Onkel Lamettrie und uns. Wer weiß, was Gutes vielleicht für uns alle daraus hervorgehen kann?«

»So ist's«, sagte Frau Belling, »ich muß an ein Wort denken, das mein verstorbener Mann gerne gebrauchte: Der sogenannte Zufall ist der Geschäftsführer Gottes.«


 << zurück weiter >>