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27. Die Bibliothek

Nach Tisch ging der Onkel in den Oberstock des Schachthofes, wo seine Privatwohnung war, und ruhte ein paar Stunden. Dann holte er, wie verabredet war, seinen jungen Dutzbruder zur weiteren Besichtigung des Hexenkapellchens ab: »Ich bin durch die Schlaflosigkeit der Nacht doch etwas angegriffen und möchte Dich bitten, daß wir uns heute auf die Bibliothek beschränken.«

»Ganz wie es Dir paßt, Onkel!«

»In Dir, Helmut, hoffe ich einen Freund gefunden zu haben, auch für die arme Hulda.«

»Darauf kannst Du Dich verlassen«, entgegnete Helmut etwas verwirrt.

»Täuscht mich meine Ahnung nicht, daß Du ihr mehr als freundschaftliches Interesse entgegenbringst? Verzeihe meine Offenheit! Aber Du weißt, wie sehr ihr Schicksal mir am Herzen liegt, und daß ich sie wie eine Tochter liebe. Drum sei Du offen und sage mir, wie es mit Euch steht!«

»Deine Ahnung hat Dich nicht getäuscht, lieber Onkel.«

Das Auge des Alten leuchtete: »Nun, dann wirb um sie!«

Nach einer Pause der Ueberraschung erwiderte Helmut schüchtern: »Ist bereits geschehen!«

Der Alte stand wie angewurzelt, maß den Freier vom Kopf bis zu den Füßen und meinte dann kühl: »Also daher die rasche Bruderschaft! Das verstanden die Damen ja geschickt einzurichten, Dir das Du anzubieten ohne besonders aufzufallen. Aber warum hat man mir nichts gesagt?«

Zögernd kam die Antwort: »Dein Befinden, lieber Onkel! In der Krise, die Du durchzumachen hattest, wagten wir nicht, Dein Gemüt mit neuen Aufregungen zu belasten.«

»Ihr Kleinmütigen! Ein Trost wäre mir das gewesen. Bist Du mir doch nicht wie ein Fremder.«

Gerührt legte Helmut seinen Arm um die Schulter des alten Mannes, und dieser schaute ihm freudig ins Auge: »So hat sie den Mann gefunden, den ich ihr im Stillen gewünscht habe.«

»Wirklich? Gewünscht?«

»Ja! Schon bei unserer Fahrt auf der Eisenbahn habt Ihr Euch so gut verstanden. Und dann bei Deinen Ausführungen über den Kosmos, wie leuchteten da ihre Augen! Das war mir gleich verdächtig, und ich beschloß, bei Dir mal zu sondieren. Heute vormittag, als Bellchen mir sagte, unser Glücksvogel niste in der Blutbuche ...«

»Doch nicht etwa bei Huldas Traumbank?«

»Ja, gerade da! Ist Dir das unangenehm?«

»Im Gegenteil! Aber da wurde das arme Tierchen wohl schon im Brüten gestört? So was möchte man doch vermeiden.«

»Deshalb eben sind heute die Wege zur Traumbank abgesperrt, auch für ein gewisses Paar. Die Angestellten meines Museums brauchen den Garten überhaupt nicht zu betreten, sie haben von Westen her Zugang ... Nun hätte ich aber Lust, gleich umzukehren und Huldchen einen Kuß zu geben. Doch das kann ja auch noch später geschehen – vor allem haben nun wir beide miteinander zu reden.«

Sie lenkten ihre Schritte zur Empfangshalle des Hexenkapellchens und zu den Stätten, die ihnen am Morgen Andacht beschert hatten. Aus der Halle mit dem Madonnenbild gingen sie auf die Türe zu, wo ihnen Friedrich diensteifrig entgegenkam. Hier also war die Lesehalle, und hier wimmelte es von Bänden. Ein Kaffeetisch war gedeckt und mit Gebäck und Rauchzeug versehen.

Auf Clubsesseln um den Tisch nahm Helmut mit seinem weißhaarigen Freunde Platz, und Friedrich brachte auf dem elektrischen Kocher das Wasser zum Sieden.

Bei einer Tasse Kaffee rauchten die Herren ihre Zigaretten, und Helmut betrachtete die Lesehalle. Durch hohe Fenster und ein Glasdach floß der Tag herein, und deutlich sah man den Wandschmuck, vornehme Oelporträts großer Denker. Reihen von Bücherschränken aus dunkler Eiche, an denen zierliche Schilder hingen, wie »Technik im Altertum«, »Renaissance«, »Neuzeit«, »Mechanik«, »Wellenbewegungen«, füllten den Raum.

»Philosophie findest Du auf der Galerie, da sind die Schränke für Griechen, Römer, Aegypter, Perser, Inder, Germanen, Italiener, Franzosen, Engländer, Deutsche und so weiter ... Ich wollte Dir schon den Vorschlag machen, Dein Schuhgeschäft zu verkaufen und mein Bibliothekar zu werden. Das alles wird sich nun aber viel einfacher gestalten, da Du ja sozusagen mein Schwiegersohn wirst.«

Während sie wieder dem duftenden Kaffee ihre Aufmerksamkeit schenkten, und Helmut mit Sorgfalt eine Havanna anzündete, wies der Alte auf die Porträts: »Da schauen sie vornehm hernieder – ein Newton und Laplace, ein Kant und Robert Mayer – sehr gescheit und doch ... was habe ich als das Patengeschenk des Schicksals bezeichnet? das dem Menschenkind in die Wiege gelegt wird – nun?«

Helmut klopfte die Asche von seinem Glimmstengel und lächelte: »Man kann es nicht leugnen, befangen in ihrer Dogmatik sind sie alle. Das ist eine Art Beschränktheit. Aber Einseitigkeit gehört mal nun zum großen Theoretiker.«

»Jetzt, wo ich zur Bilderstürmerei übergegangen bin«, sagte der ehemalige Lamettrie mit hämischem Lächeln, »kommen die da mir vor, wie Narren ihrer Gescheitheit. Lamettrie zum Beispiel, in den mein Größenwahn sich vergaffte, errichtet sein Gebäude auf Sätze, die einander widersprechen. Einerseits nämlich betrachtet er die fünf Sinne als seine untrüglichen Philosophen, andrerseits bemerkt er, im Grunde sei ich nur meiner eigenen Sinnesempfindungen gewiß. Das heißt doch: Ich bin mir der einzig Verläßliche.«

»Du meinst, so entpuppe sich Lamettrie als ein Solipsist, der auf das eigene Ich pocht?«

»Unmittelbare Gewißheit hat jedes Ich lediglich von seinem Empfinden, und insofern stimmt der Satz Schopenhauers: Die Welt ist meine Vorstellung.«

»Hiermit, Onkel, berührst Du die Stelle, wo all diese Helden der Physik tötlich verwundbar sind. Der große Newton – an was glaubt er eigentlich? An Stoffklumpen im Raum, die einzig der Schwere gehorchen. Die Gravitation ist seine Narrheit. Und so was nennt sich Einfachheit. Vereinfachen möchte man das Weltall, daß es uns faßlicher werde, aber verwickelter macht man's.«

»Die Verwirrung dieser Physiker« – meinte Helmut – »besteht darin, daß ein Leben, das allerhöchste Werte enthält, auf etwas Niederes zurückgeführt wird, auf brutale Materie. Diese Weltanschauung kennzeichnet aber vielmehr spätere Naturforscher, als Newton selbst, der mit zunehmendem Alter immer mehr einer idealistischen Weltauffassung zuneigte. Dagegen rangiert der Materialismus letzten Endes die vornehmen Lebenswerte hinter das Geschäft, Zivilisation geht auf Beherrschung und Ausnutzung der Materie aus; das Religiös-Sittliche gibt dem Leben nur eine puritanisch frömmelnde Dekoration. Aus ebendem Grunde, weil nämlich in der physischen Welt, und besonders in der mechanischen, Gleichheit gilt, hat die anglo-amerikanische Richtung einer Demokratie Vorschub geleistet, die gleichgesetzte Personen zusammenzählt und ihre Menge schätzt – so verkümmert das höhere Leben, das im Einzelnen als Persönlichkeit auftritt.«

Nach einer Pause nervösen Rauchens fuhr er fort: »Organisch soll das Volk sich gliedern – wie die Glieder des lebendigen Körpers. Nicht als mechanische Teile, nicht als Parteien sollten die Menschengruppen zusammenarbeiten, und nur die überlegene Persönlichkeit, nicht eine x-beliebige Person, ist zur Führung berufen. Aber unsere demokratische Oeffentlichkeit nivelliert sich – das heutige Volk ist ein Haufen von zerstückten Teilen – kein Ganzes.«

Mit etlicher Bitterkeit hatte der junge Mann gesprochen – auf den Onkel machte solch ein Urteil über die früher von ihm verhimmelte physikalische Weltanschauung offenbar Eindruck. Nachdem er eine Weile düster vor sich hingebrütet hatte, sagte er entschlossen. »Ich möchte Dich mit meinem Bibliothekar bekannt machen. Päch heißt er und Pech hatte er, drum nenne ich ihn scherzhaft Peter Schlemihl. Schlemihl ist ein jiddisches Wort und bedeutet einen ungeschickten Pechvogel. Als Sanitäter hat er ein Bein in Polen verloren. Die notdürftig ausgebildete Abteilung war auf freiem Felde aus dem Eisenbahnzug soeben ausgeladen, als sie Schrapnellfeuer bekam, und unserm Päch riß es das Bein weg. Das war sein Feldzug ... Friedrich, sagen Sie Herrn Päch, ich lasse bitten.« Sofort verschwand der Diener durch die Nebentür ...

»Ach, da kommt er ja! ... Ich möchte Sie, Herr Bibliothekar, meinem Freunde Burger vorstellen.«

Eine hagere Gestalt, die mit einem quietschenden Beinersatz angestelzt kam, verbeugte sich linkisch.

»Lieber Herr Päch! Sie werden Gelegenheit haben, sich mit Herrn Burger auszusprechen. Ich selber möchte mich zurückziehen. Zeigen Sie Herrn Burger die Bibliothek.«


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