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53. Abschied vom Ruhrgebiet

Die standesamtliche Trauung Helmuts und Huldas hatte stattgefunden und war im engsten Kreis mit einer gemütvollen Ansprache Gerharts gefeiert worden.

»Nun bin ich einsam – alle gehen sie fort!« meinte Frau Belling mit stillen Tränen – »auch Onkel Lamettrie will mit dem Forstmeister ins Riesengebirge fahren.«

»Könntest Du denn Dein Paar nicht auf der Ozeanreise begleiten?« fragte Lamettrie – » Verzeih, daß ich erst jetzt daran denke! Das mußt Du einem alten Manne, auf den so viel hereingestürzt kam, schon nachsehen, wenn er's an Umsicht fehlen ließ!«

»Ich mitreisen nach Amerika?« meinte die zaghafte Frau Belling. – »Dank für Deine große Güte! aber daran dachte ich wirklich nicht ... Aber wenn Du Huldchen begleiten möchtest. Geht das wirklich nicht, Onkel Lamettrie?«

»Das wäre wohl schön«, entgegnete Lamettrie – »aber ich muß doch endlich mal aufhören, mich an Hulda wie ihr Schatten zu hängen ... Ja, ja, Kind! es ist schon besser, ich reise nicht mit Euch nach Amerika, sondern fahre mit dem Schwager ins Riesengebirge.«

»Dann haben wir bis Berlin gemeinsame Reise« – sagte Helmut – »ich möchte auch noch die Angelegenheit mit Frau Rade in Ordnung bringen – würde mich freuen, wenn sie zu dem Geschäft auch noch einen braven Mann erhielte.«

»Na, und so könnten wir wohl noch im Juli Kehraus auf dem Schachthof machen« – sagte Lamettrie. »Abwarten möcht ich allerdings noch, wie es mit der Brut meines Glücksvogels geht. Nächstes Frühjahr haben wir – sollt mal sehen – mehrere Glücksvögel!«

»Falls die Katze sie nicht holt!« fügte scherzend der Alte hinzu.

»Ach!« seufzte Frau Belling – »warum hat die Natur auch Raubtiere geschaffen?«

»Warum?« erwiderte Lamettrie – »darauf antwortet der Mensch: Ich selber bin Raubtier. Aber gut! versuchen wir hinfort an Güte zu leisten, was Menschen vermögen.«

Mit diesem Vorsatz trafen sie die Abrede, in Kürze gemeinsam nach Berlin zu fahren, damit Helmut die Uebertragung seines Schuhladens in die Wege leite.

Dort nun, an einem warmen Sommertage, machten sie noch eine ruhige Fahrt durch den Tiergarten nach den Zelten. Lamettrie und der Forstmeister saßen mit dem Ehepaar Burger in einer Droschke, in einer zweiten fuhren die andern hinterher. Lamettrie lächelte: »Pferde-Fuhrwerke sind für den Maschinen-Menschen ein Kuriosum! Abschied von meiner Jugend!«

»Dieser Lüdecke« – meinte Helmut – »ist ein gescheiter Kopf! – einen alten Lassallaner nannte er sich – ist maßvoll und vaterländisch. Wir hatten ein Gespräch über Sozialismus. Diesen auf dem Weg einer Partei zu verwirklichen – so meinte er – sei für uns Deutsche eine Träumerei. Gewöhnlich werde den Eltern das Wohl ihrer Familie mehr am Herzen liegen, als die Partei; vorwiegend die unerfahrene Jugend sei von Partei-Leidenschaft besessen. Anders lerne denken, wer Familie habe. Freie Berufswahl – Befreiung von allem Kastengeist – darin liege der Kern eines gesunden Sozialismus.«

»Recht so!« stimmte Lamettrie bei – »das ist eine allgemeine Richtlinie der Menschheit, nicht eine erträumte Volkswirtschaft.«

»Freie Wahl des Berufes, hm!« knurrte der Forstmeister – »das wäre ganz gut, wenn nur die Familienzucht nicht manchmal so wüst wäre. Will der Förster einen neuen Forst hochziehen, so muß er die Saat der Bäume in Furchen pflegen, dann die Bäumchen sorgsam einpflanzen, sich jedenfalls nach den forstwirtschaftlichen Vorschriften richten. Zügellose Familien aber lassen ihre Brut aufwachsen, ohne eine andere Zurechtweisung anzuwenden als zuweilen den jähzornig geführten Prügel. Die Kinder sind den schlimmsten Einflüssen der oft rohen Eltern preisgegeben, haben wohl gar von ihnen ein gefährliches Erbteil im Blute erhalten. Schlechte Gesellschaft bestärkt die üblen Sitten der Jugend, Schnaps und Bier verderben das Volk. Ein Brief meiner Tochter aus Schreiberhau schildert mir ihre Erziehungssorgen um Friedel, der jetzt in die Schule geht. Der Junge sei gesund und gutartig, könne sich aber von der Nachbarschaft nicht ganz fernhalten, und diese bestehe in einer verkommenen Familie. Gegen Friedels Altersgenossen, den Karle sei nichts einzuwenden, wenn er zuweilen mit seiner Schulmappe ins Forsthaus komme, um mit Friedel die Schularbeiten zu machen. Die zwei älteren Brüder aber, zwanzig- und neunzehnjährige Burschen, seien Glasarbeiter in der Josephinenhütte, nebenher – wie der Vater – Pascher. Der eine sitze wegen Wilddieberei schon im Gefängnis, ihr Mann habe ihn abgefaßt. Von solchen Menschen, wie sie meine Tochter schildert, ist nicht viel Gutes zu hoffen – das werdet Ihr zugeben.«

Burger nickte ernst; seine Frau meinte: »Der kleine Karle tut mir leid, den müßte man rausreißen aus seiner Umgebung.«

»Raußreißen? So daß er seine Familie vergessen muß?« fragte Lamettrie. – »Ueberschätze die Einflüsse der Erziehung nicht! Es gibt Wildnisse, die man nicht säubern kann.«

Die Droschken langten bei den Zelten an. Die Gesellschaft nahm an zusammengerückten Tischen Platz und bestellte Kaffee.

Der Forstmeister zündete sein Pfeifchen an und paffte in das eingetretene Schweigen: »Ja, da singen unsere Soldaten: In der Heimat gibt's ein Wiedersehen! Über wo sind sie geblieben, die so vertrauensvoll ins Leben schauten? Und wo haben wir noch eine Heimat? Wann und wo werden wir uns wiedersehen?«

»Unter der lieben Sonne« – antwortete der alte Lamettrie mit wehmütigem Trost. »Morgen bereits zerstreuen wir uns nach verschiedenen Richtungen – die einen reisen nach Hamburg und über den Ozean, die andern beginnen in Berlin eine neue Geschäfts- und Lebensperiode, und die dritte Gruppe trifft sich mit Friedrich und Mohrchen auf dem Görlitzer Bahnhof, um ins schlesische Gebirge zu fahren. Wir alle aber bleiben unter einer Sonne, gleichviel ob lebend oder tot. Und wenn es dahin kommt, daß wir diese Sonne nicht mehr sehen, so ersteht aus den Gräbern neues Leben und geht uns die Allsonne auf.«

»Man sagt« – so fuhr der Greis nach etlichem Sinnen fort – »von der Tropenpflanze Viktoria Regina, daß sie viele Jahre brauche, um eine einzige Blüte hervorzutreiben – so lange muß sie sich dazu sammeln. Vielleicht bin ich so was Ähnliches – eine Blüte meines Lebens habe ich nie erreicht – sie bricht wohl erst aus meinem Sterben hervor.«

Andern Tags saß Lamettrie mit dem Forstmeister und Friedrich in dem Schnellzug nach Görlitz, der Pudel lag zu ihren Füßen.

»Hier, hinter Görlitz scheint das Riesengebirge zu beginnen« – meinte Lamettrie.

»Ja wohl! Das Gebirge beginnt!« versetzte der Forstmeister – »aber das ist noch nicht das Riesengebirge, sondern die Landeskrone, ein schöner Name für diesen Berg, der wie eine Krone auf einem Königshaupt aussieht. Und doch hat er seine Berühmtheit erst durch eine Sage erhalten, die sich auf den Hirtenknaben Jakob Böhme bezieht, der ein tiefsinniger Denker wurde. Die Sage berichtet, ihm sei in diesem Berg eine Höhle erschienen, die habe von Gold und Edelsteinen geschimmert. Das war eine prophetische Schau in sein Innenleben. Denn natürlich ist kein äußeres Gold gemeint, sondern der Lichtschatz, den ein edles Gemüt in seinem Innern trägt.« –

Nach einer Weile öffnete sich den Reisenden der Ausblick auf den Riesenkamm, der als große Bogenlinie veilchenblau dalag.

In Hirschberg begaben sie sich auf eine Bahn, die mittels einer Zahnung etwa fünfhundert Meter bergan stieg. Dann kam Schreiberhau mit drei Bahnhöfen. Bei einer Felsenwand, in den Granit eines Berges eingesprengt, war die Station Oberschreiberhau, und hier stiegen sie aus.

Zum Empfange bereit standen Erlenbachs Schwiegersohn, dessen Frau und das Söhnchen: »Gutten Tag, Großvatterla!« sagte Friedel und reichte dem Forstmeister die Patschhand. Der Riese hob den zierlichen Krauskopf hoch und küßte ihn, gab seiner Tochter gleichfalls einen Kuß und schüttelte seinem Schwiegersohn die Rechte. Dann stellte er vor: »Dies also wäre mein Schwiegersohn, der Hegemeister Schellmann und meine Tochter nebst Söhnchen. Und hier präsentiere ich Euch meinen Schwager, Herrn Möller-Lamettrie und dessen Reisebegleiter Herrn Friedrich. Der Pudel heißt Mohrchen.«

Man befand sich in einem schroffen, mit Landhäusern und Gärten besetzten Tale, das zu dem tief unten gelegenen Orte, andererseits in höheres Waldgebirge führte.

Lamettrie, der sich zu dem Kinde hingezogen fühlte, sagte zu Frau Schellmann: »Liebe Nichte, darf Friedel nun auch etwas mit dem neuen Großonkel gehen? Komm, Friedel, gib mir Deine Hand! Wo ist denn nun Vaters Forsthaus?«

»Droben am Schwarzen Berge!« Der Knabe deutete vorwärts.

»Und Du gehst schon in die Schule? Wo ist sie denn, Deine Schule?«

Der Knabe blickte rückwärts: »Nu! bei der Kirche!«

Lamettrie blieb stehen und wandte sich um. Er betrachtete den mächtigen Kamm des Gebirges, zu halber Höhe war blaugrüner Tannenforst, nach oben kamen steile Wiesenhänge mit grauragendem Gestein.

Sie gingen durch ein Laubwäldchen, dann auf Pfaden zwischen Grundstücken einen Wiesenhang hinan. Und Schellmann sagte: »Ich denke, Ihr wohnt in dem Logierhaus neben meiner Försterei.«


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