Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14. Das verwandelte Ich

Hulda und ihre Mutter waren schmerzlich bewegt.

Und es murrte der Greis: »Da habt ihr's! Nun ist doch erwiesen, daß Euer Himmel eisig erbarmungslos bleibt, und daß unsereins, wenn er sich in aparte Sehnsüchte vergrübelt, keinen hat, der ihn ganz versteht. Oder aber, wenn jemand wirklich mal einen Menschen findet, der ihn verstehen könnte, dann mag dieser sich nicht einlassen mit dem vergrillten Sonderling und – zieht sich von ihm egoistisch zurück.«

»Von uns kannst Du das nicht sagen«, erwiderte Hulda mit mildem Vorwurf.

Doch der Verbitterte zuckte die Achseln: »Was ist Sympathie? Was ist Freundschaft? Was ist selbst Liebe? Ach, nur ein Versuch mit unzureichenden Mitteln. Der Mitfühlende kommt ja doch nicht aus sich heraus – und vollends in Fremdes kann sich keiner recht hineinversetzen. Mit seinem Innersten bleibt man stets Eremit auf Erden, oder etwa nicht, Herr Burger? Sie glauben an Mitgefühl? Nun denn, so erweisen Sies! Bewähren Sies! Versuchen Sies an mir!«

Zu heftigem Wollen hatte sich der Greis entflammt, vom Sessel erhoben und den jungen Mann an der Schulter gefaßt: »Jetzt gilt es, jetzt dürfen Sie mir nicht entwischen wie ein Aal! Antworten Sie sofort auf meine Frage: Was wissen Sie über jenen Fall von Ich-Spaltung, den Sie auf der Eisenbahnfahrt erwähnten?«

Entsetzt starrten alle auf ihn, der die verhängnisvolle Frage getan.

»Ja, von dem katholischen Theologen, der nebenher als ein flotter Ausländer in Bädern lebte und einem jungen Mädchen den Kopf verdrehte, daß sie ... Des weiteren haben Sie sich nicht geäußert, Herr Burger. Aber nun sprechen Sie! Was war's mit dem jungen Mädchen? Was hat sie getan? Wie ist es ihr ergangen? Und jener Mann – kennen Sie ihn? heraus mit der Sprache! Wenn in Ihnen etwas von jener Barmherzigkeit waltet, die Sie und Hulda dem heiligen Franziskus zutrauen und dem Walt Whitman! Ich beschwöre Sie!«

Aschenfahl und bebend stand der Greis da, die lodernden Augen aufgerissen in flehender Verzweiflung.

Erschrocken starrten ihn die beiden Frauen an, und auch Gerhart schien zunächst fassungslos.

Helmut Burger fühlte, jetzt dränge ein verworrenes Schicksal zur Lösung. Er vernahm die Stimme seines Gewissens: »Es gilt! hier darf man nicht ausweichen!« Und er vermied es, seinen Freund auch nur mit einem einzigen Blick um Rat anzugehen. Nein! bestimmen lassen wollte er sich jetzt von keiner Seite.

Sein treuherziges Auge war auf den leidenschaftlichen Alten klar und gütig gerichtet: »Herr Lamettrie! Ich bin kein Feigling! Und den Egoismus such ich in mir zu bekämpfen. Gleichwohl vermag ich Ihnen nicht sofort Rede zu stehen ... Beträfe Ihre Frage mich allein, so würde ich gleich alles sagen, was Sie wissen möchten. Aber erinnern Sie sich, daß ich die Geschichte von einem Mitglied meiner Familie gehört habe, und zwar, wie ich nunmehr hinzufügen muß, mit der Verpflichtung, damit zurückhaltend zu sein.«

Die glutige Kohle in Lamettries Auge war auf einmal verlöschende Asche – ächzend sank er auf seinen Sessel.

Von so schmerzlicher Enttäuschung gerührt, suchte Helmut ihn halbwegs zu beschwichtigen: »Nun denn, da Ihnen so viel daran liegt, möcht ich schon ein übriges tun – im Rahmen der Diskretion, die mir Familienpflicht ist. Aber Genaues weiß ich leider selber nicht zu sagen. Vielleicht könnte man nach jenem Manne forschen ...«

Finster lugte Lamettrie: »Forschen? nach jenem Manne? Wen meinen Sie?«

»Nun – wen anders als jenen angehenden Priester, der ... Es ließe sich wohl herausbringen, wie er heißt und so weiter ... Von seinen Personalien und seinem Leben ist mir bloß das Dürftige bekannt, das ich gesagt habe.«

»Und der Name des Mädchens?« raunte Lamettrie lauernd.

Helmut schien mit sich zu kämpfen. Nach einigem Zögern kam der Bescheid: »Den darf ich nicht nennen.«

Lamettrie atmete schwer, er hielt diese Antwort für eine Härte. »So sagen Sie mir wenigstens das Eine! Jenes junge Mädchen, das der Mann – oh! zugrundegerichtet hat – ich beschwöre Sie, Herr Burger! wie ist es ausgegangen mit der Verführten? Ist sie – tot?« In wilder Angst forschte das bohrende Auge, obwohl darin schon etwas Mattes glomm, als sei kaum Tröstliches zu erwarten.

»Was wollen Sie wissen? Ob sie tot ist? Selbstverständlich ist sie das.«

Lamettrie prallte zurück und wimmerte: »Selbstverständlich?«

Dann aber – als ob er sich auflehne gegen ein Verhängnis, das schrecklich vor ihm stehe, streckte er abwehrend die Hände vor und schrie: »Nicht doch! Selbstverständlich ist das nicht! Ein Unglück ist es, ein unseliger Defekt der Allmaschinerie! O diese elende Stümperin!«

Er war außer sich. Hulda stand bei ihm, seine Hand ängstlich umklammernd: »Sei ruhig, lieber Onkel! Ergib Dich! Ertrage! Ist jenes Mädchen denn – verwandt mit Dir?«

Lamettrie machte den Eindruck eines Verworrenen, der die Frage nicht fassen kann und sich erst zurechtfinden muß: »Ob sie – verwandt ist? Nein, verwandt nicht!«

Nun war auch Frau Belling teilnehmend an seiner Seite: »Und jener Mann? der Theologe? dem das arme Mädchen zum Opfer gefallen ist – kennst Du ihn?«

»Ob ich ihn kenne?« Leichenfahl war sein Gesicht, die Lippen bebten ...

»Steht er Dir nahe? Ist es vielleicht ein Freund von Dir?«

»Ein Freund?« zischte der Greis, und seine Züge verzerrten sich, als ob ihn Ekel anwandle: »Ich – ich verabscheue ihn! Ich, ich speie nach ihm! obwohl ich nicht loskomme von diesem – Schuft, Feigling, diesem Mörder

Ein Schluchzen hatte ihn gepackt, er schüttelte sich wie im Fieber – war ganz vernichtet. Und nun sah es aus, als wolle ihm das Bewußtsein abhanden kommen. Irr starrte er die Umstehenden an, als erkenne er sie nicht – finster, als möchte er sich von ihnen lossagen. Dann erschöpft zurückgesunken, brütete er vor sich hin, mit seinen Gedanken beschäftigt, die ihm Seufzer erpreßten und unverständliche Worte.

Eine bange Weile währte dieser Anfall – Hulda strich mit ihrem Taschentuch über die perlende Stirn des Greises und flüsterte beschwichtigend.

Da auf einmal – er blickt sie an, und sein Gesicht hellt sich auf. Zu erwachen scheint er. An ihren Arm geschmiegt, lächelt er sie an und – mit einer verwandelten Stimme, glockenklar und seelenvoll spricht er, wie auf der Bühne ein jugendlicher Liebhaber:

»Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt!
Doch still! Was strahlt von oben durch das Fenster?
Wie Morgenröte! Julia ist's, die Sonne!
Geh auf denn, holde Sonne! Töte Lunen,
Die neidisch ist und schon vor Gram erbleicht ...«

»Komm zu Dir!« bat Hulda, ihn streichelnd. Er aber deklamierte weiter wie ein Entrückter:

»Sie spricht! O sprich noch einmal, holder Engel! Denn über meinem Haupt erscheinest du Der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote Des Himmels, dem erstaunten Menschenauge ...«

Eingeschüchtert von solch überspanntem Wesen seufzte Hulda: »Ach Onkel!« Er aber schwärmte weiter:

»Nicht also! Nenne Liebster mich! So bin Ich neugetauft von dir! und will hinfort Nicht Romeo mehr sein. Mit einem Namen Weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin ...«

Düster waren die Worte gesprochen. Gleich darauf hatte der alte Mann etwas flehend Unterwürfiges: »O meine Julia, verlaß mich nicht! Barmherzig Kind! Was sagtest du vorhin? Du wolltest mit mir in den Garten gehn? Wo im Gezweig der Buche unser Vöglein singt? Ach ja, jetzt möcht ich das. Komm, gutes Kind! Und deinen Arm, den lieben, laß ihn mir! Hier wollen wir nicht länger weilen – sind fremd an diesem Ort ... O Gott, wer bin ich denn? Wer bin ich – wer?«

Aengstlich irrte sein Blick von einem Gesicht zum andern und schien keins recht zu erkennen. Hilflos staunte der Greis, ganz entmutigt.

Aechzend erhob er sich vom Sessel, stand ohne Haltung, ja schwankend und rollte die scheuen Augen umher. Besonders Doktor Burger schien ihn verlegen zu machen. Sich linkisch vor ihm verbeugend, stammelte er: »Mein Name ist ... o Gott! wer bin ich? und was will ich hier?«


 << zurück weiter >>