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42. Die Blutbuche als Denkmal

Onkels Ungeduld hatte die Besucher der Lazaruskapelle zu stürmischer Heimkehr veranlaßt.

Umsonst! Frau Belling, die vom hastigen Zurüsten offenbar ermüdet war, hatte sich in ihr Gemach zurückgezogen, um ein Weilchen zu ruhen; und es meldete das Stubenmädchen: Herr Forstmeister Erlenbach sei zum Bahnhof gefahren, wo mit dem Schnellzug noch ein Gast erwartet werde, eine dem Forstmeister bekannte Persönlichkeit, deren Empfang er sich nicht habe nehmen lassen wollen. – Das war geheimnisvoll, aber Näheres war aus dem Mädchen nicht heraus zu bringen.

»Es muß doch jemand sein, der meinem Großonkel Erlenbach nahesteht. Wer könnte das sein? Vielleicht sein Freund Heinrich? Ja, das wäre möglich – da könnt ich schnell zum Bahnhof ...«

»Frau Belling« – fuhr das Stubenmädchen dazwischen – »bittet Herrn Doktor, das lieber zu unterlassen; es würde nur Verwirrung anrichten.«

»Bitte, respektiere den Wunsch der Hausfrau!« meinte Hulda, und so blieb Helmut, obwohl zögernd.

Völlig entschieden war er erst, als Hulda zu ihm trat: »Selbstverständlich bleibst Du. Ich habe Dir etwas zu sagen. Komm in den Wintergarten, Schatz.«

Feierlichkeit sprach aus ihren Augen, und als sie neben ihm Platz genommen hatte, begann sie:

»Ein Geständnis fordert das andere heraus. Du hast mir gebeichtet, wie Du in Gefahr warst, Dich an einen andern Menschen zu hängen. Nun laß Dir erzählen, was ich erlebt habe. Als ich die Nachricht erhielt, mein Bräutigam sei gefallen, suchte ich als Schwester vom Roten Kreuz einigermaßen darüber hinwegzukommen, in einen Strudel von Dienstleistungen stürzte ich mich. Aber mir fehlte die Besinnung auf mein eigenes Selbst. Die fand ich erst, als ich in Homburg vor der Höhe Gelegenheit hatte, einen verwundeten Hauptmann zu pflegen und ihn häufig im Rollstuhl ausfuhr, durch den schönen Kurpark.«

Hulda hielt inne im Bericht und gab sich der Erinnerung hin, wobei ihr Gesicht sich verklärte.

»Oh ja, ein Kind des Lichts – so dürfte man ihn nennen ... Fluten reinen Aethers – Weisheit, Poesie, Liebe, – umspülten ihn, als er eines Juliabends seinen Rollstuhl unter Bäumen des Kurparks halten ließ, nahe dem Hölderlindenkmal. –

»Kennen Sie das?« fragte er – »den Seelenzustand, daß Außenwelt und Innerlichkeit in Eins zusammenfließen? Die hochgewipfelte Ulme, die man betrachtet, ist man selber! und die lauschende Seele geht im Lispeln des Laubes auf, im zarten Abschiedsflöten der Grasmücke!«

So sprach der Gelähmte, dem ein Schuß das Rückgrat derart verletzt hatte, daß sein Wiedergenesen sehr in Frage gestellt war.«

Nach einer Pause brachte Hulda einen Zettel vor und sprach: »Einige seiner Worte habe ich hinterher aufgeschrieben –ich lese zum Beispiel:

Entrückung ins Unendliche ist es, was einen Hölderlin, einen Goethe zu seinen Schauungen erweckt ... Im Aether, der mit seinem stillen Leuchten die Wipfel der Bäume verklärt, und, wenn man den Blick dafür hat, die ganze Welt, bebt ein Dürsten der Dinge nach Seele – nach einer Innerlichkeit, die das Enge und Wüste gänzlich löst, zu einem sanften Strahlen und Klingen. Es schmachten ja alle Wesen danach, erlöst zu werden aus ihrer Rückständigkeit. Und in sich selbst hat dieses Schmachten seine Erfüllung ... Aus der Sehnsucht des besseren Selbst wird Verewigung geboren, und das ist heilende Weisheit. O Lebensmusik, Auflösung aller Leiden, aller Dissonanzen! Mache Musik aus deinem Leben! Der Augenblick ist Ewigkeit! –

Auf meine schüchterne Frage, ob das nicht Goethes Weltanschauung sei, gab mein Freund zur Antwort: »Im allgemeinen – ja! Es ist überhaupt die Anschauung, zu der jeder denkende Geist vordringt. Wer sein Innenleben so stimmt, daß es zur Harmonie wird, der ruht in Gott. Alle Unrast hört für ihn auf, jegliches Begehren. So wird sogenannte Liebe zu Güte, die nicht besitzen will, und die sprechen kann: Wenn ich dich liebe, was geht es dich an.«

Noch einige Zeilen las Hulda zum Andenken an ihren Werner.

»Das Laub wird gelb und rot, die spätsommerliche Grille geigt ihre ewig zitternde Weise schon sacht – in lauter Klang möchte sie sich auflösen – ihre Flügel, mit denen sie unermüdlich ihr Lied geigt, sind fast schon abgewetzt – doch ihr körperliches Dasein vergißt sie, in der Hingabe an ihre Musik, und zirpen will sie, so lange noch eine Regung in ihr ist. Das eine Bein, mit dem sie unermüdlich fiedelt, ist verdorrt und fällt ab – was kümmert sie das? Mit dem andern fiedelt sie weiter, bis kühle Witterung sie eines Morgens gelähmt und eingeschläfert hat. Das Seelchen ist im All aufgegangen ...«

Tiefernst sann Helmut und schwieg, während Hulda feuchten Auges die Lippen zusammenkniff. Endlich meinte Helmut gedankenvoll: »Ja, das Fremde muß überwunden werden, was wir als eigen erkennen, ist das Freie und das Verbindende

Hulda sann vor sich hin und seufzte: »Ja, das Fremde trennt, daher so viel Haß und Feindschaft, Krieg und Kampf in der Welt.«

»Und Dein Kranker?« – fragte Helmut – »war er immer gütig? war er nie unzufrieden und mürrisch?«

»Lenken ließ er sich wie ein Kind, nie hab ich ein ungütiges Wort von ihm gehört. Er war überhaupt hinweg über alles Irdische. Er war ein ungewöhnlicher Mensch – und so hab' ich reiche und köstliche Tage mit ihm verlebt, ganz ungetrübt und heiter.

Hin und wieder regte sich in mir ein leises Hoffen, er könne genesen – Er aber wollte nichts davon wissen: Daß ich bald sterbe, ist mir zweifellos. Ich fühl's, wie der Tod mir naht, und ich bin völlig ausgesöhnt mit meinem Schicksal. Es kann mir nichts Schlimmes geschehen. Sterben ist nur Uebergang, und im All bin ich geborgen.«

Helmut antwortete andächtig: »Damit hat er ja das höchste Ziel erreicht, das uns Menschen möglich ist. Von mir muß ich bekennen, ich bin noch weit davon entfernt; doch Sehnsucht danach hab' ich – und das ist der erste Schritt zur Läuterung.

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden.
Da löst sich aller Ueberdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben, ist Genuß!«

»Ja, er gab sich auf!« sagte Hulda mit ernstem Augenaufschlag, »er bestätigte das Wort: wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren – wer aber sein Leben ans Höchste hingibt, bewahrt es in der Ewigkeit.«

Dann berichtete Hulda noch weiter: »Werner wurde immer verklärter und überirdischer. Schließlich war er ganz still und verkehrte mit mir nur noch durch stilles Lächeln. Andächtig blickte sein Auge zu den hohen Wipfeln der Eichen, die der Abendschein vergoldete ... Blutbuchen, die im Homburger Park verstreut sind, wurden mir ein teures Andenken an Werner.«

»Und wann ist er gestorben?«

»Einen klaren Herbst erlebte er noch. Dann gerieten wichtige Körperfunktionen ins Stocken, und eines Morgens lag er groß und feierlich da, zufrieden und vollendet.«

»Hättest Du Dich je entschließen können, ihn zu heiraten?« fragte Helmut leise.

»Solchen Gedanken konnte ich ja nicht Raum geben, da die Hoffnung auf Genesung immer mehr schwand.«

42 a. Die heilige Dunkelkammer

»Die Beschäftigung, die ihm die Welt noch zuweilen abgewann, war das Photographieren, und hierzu hatte er sich einen engen Nebenraum seiner Krankenstube durch Behänge zur Dunkelkammer hergerichtet, wo er seine Negativaufnahmen entwickelte – was ihm natürlich recht beschwerlich fiel. Auf diese Weise war dem Amateur manches Bildchen hervorragend gelungen, eine Baumgruppe, das Portal des alten Schlosses zu Homburg, der Parkteich mit Schilf und Seerosen. In Natur und ehrwürdigen Altertümern spiegelt sich das deutsche Gemüt! meinte der sonst schweigsame Hauptmann. Einmal hatte er das Denkmal Hölderlins im Kurpark photographiert und ließ seinen Rollstuhl abermals hinfahren, nachdem das Negativ entwickelt war. Vergleichend prüfte er, ob von dieser Aufnahme auch ein gutes Bild zu erwarten sei. Er schien zufrieden, ich aber sah nur, wie das marmorweise Relief des weichen Gesichtes zum schwarzen Fleck geworden war, wie überhaupt alles Licht zu Schatten. Als er mein Befremden sah, meinte er: Der Kenner würde dieses Negativ für leidlich erklären, und morgen, wenn das Positiv entwickelt ist, werden Sie wahrscheinlich finden, das Bild sei ziemlich geraten, das Gesicht deutlich wiedergegeben, die feineren Unterschiede innerhalb dieses schwarzen Fleckens treten alsdann positiv hervor. Doppelte Negation wird eben positiv. In der Welt muß man, um den Sinn für ihr Lichtes – vielleicht – zu finden, zunächst mal durch eine kritische Dunkelkammer gegangen sein, durch heilige Enttäuschung. Ist Ihnen die Mahnung jenes altarabischen Mystikers bekannt?

Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht in Freud darüber – es ist nichts!
Und wenn dir einer Welt Besitz zerronnen,
Sei nicht in Leid darüber – es ist nichts!
Vorüber gehen die Schmerzen und die Wonnen ...
Geh' an der Welt vorüber – es ist nichts!

Buddhas Nirwana, Schopenhauers Willensverneinung, all solche Befreiung des Gemüts von der Gier der Süchte ist das Paradies der heiligen Dunkelkammer. Was dieser Hölderlin durchmachte, als in seinem blumensanften Jünglingsherzen die Liebe leuchtete, tiefe Schwärmerliebe zur glücklos verehelichten Mutter seiner Zöglinge, ist in dieser Welt der Unvollkommenheiten ein grausig schwarzer Schicksalsklecks, und das weitere Leben dieses großveranlagten Träumers blieb fast ein rein pflanzliches, eine lange, wirre Nacht, in der nur ganz selten ein Sternchen blinzelte. Dann aber, nachdem endlich der Erlöser, Freund Hain, gekommen war, durfte die heilige Dunkelkammer walten, und so geschah es, daß in Jahrzehnten das finstere Negativ Hölderlin ein wundervolles Positiv nach sich zog: Das Lichtbild eines deutschen Dichters von reinstem Herzensadel und ewig verklärter Schönheit.


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