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57. Im Leben und Sterben ein Kind der Güte

Während Friedel ahnungslos in der Schule saß, hatte die Witwe den Erschlagenen waschen und in der Balkenstube aufbahren lassen.

Da lag nun die Leiche ernst, aber friedlich. Die Kopfwunde hatte man durch einen Kranz von Tannenreisern und Buchenlaub verborgen. Der tote Förster trug seinen Parade-Anzug, mit einem Orden geschmückt, den Federhut hatte man ihm auf die Brust, die Büchse in den rechten Arm gelegt. So ruhte er fast wie schlafend – und war doch jäh dem blühenden Leben entrissen.

Forstleute, der Oberförster, auch viele benachbarte Männer und Frauen waren gekommen, ihn noch einmal zu sehen. Sie starrten in das bleiche Antlitz, weinten still oder flüsterten miteinander über die Frage, ob ein Unfall vorliege oder ein Verbrechen.

Einige meinten, die Sache könne einfach so passiert sein, daß der gekerbte Stamm, als der alte Maiwald mit Riesenkraft sich dagegen gestemmt, plötzlich abgebrochen und dem unachtsamen Förster auf den Kopf gefallen sei. Daß sich Martin aus dem Staube gemacht habe, komme wahrscheinlich daher, daß er eine neue Wilddieberei auf dem Kerbholz habe.

Andere äußerten, der Wachtmeister, ein findiger Kopf, werde den Hergang schon herausbringen; der sei nochmals an die Waldstelle gegangen und forsche nunmehr nach dem Holzschlägel, der vorher dort gelegen; wo er geblieben sei, wisse niemand anzugeben, hier sei etwas nicht richtig.

Als mittags die Schule aus war, begleitete der Lehrer, den die Witwe hatte bitten lassen, den kleinen Friedel zum Forsthause und teilte ihm schonend mit, daß sich beim Abholzen ein Unglück zugetragen habe.

Wie erstarrt stand der Knabe, ließ die Hand des Lehrers los, und verzog das Gesicht zu leisem Weinen. Der erschütterte Lehrer drückte das Kind stumm an sich.

Sie waren beim Forsthause angelangt: »Nu hast du ju dein Mutterla

»Ju, ju«, wimmerte Friedel.

Lamettrie eilte ihm entgegen und hob das Kind zärtlich auf seine Arme, während ihm die Augen voll Tränen standen.

Die Witwe, die bereits ein dunkles Kleid angezogen hatte, schien gefaßt, mit schmerzlichem Blick übernahm sie das Kind und trug es in die Balkenstube, wo der Tote lag.

»Vatterla!« klagte Friedel scheu – »kann a denn ne mehr ufwacha?«

»Nein, mein Kind, nie mehr! aber denken können wir immer an ihn, und nicht wahr? Du wirst brav, wie Vatterla war?«

Nun kam auch der Forstmeister Erlenbach. Er und Lamettrie, diese beiden gütigen Riesen, waren neben der weichen Mutter Trost für Friedels Herz.

»Wir nehmen Euch mit uns auf den Schachthof« – sagte Lamettrie – »Großvater hat sich entschlossen, auch dahin überzusiedeln, Und da werden wir alle eine Familie sein und den Jungen gemeinsam aufziehen! Ich besonders werde mich um ihn kümmern, ich habe sonst keinen, dem ich etwas sein könnte.« So zogen Trost und neue Aussichten in die Herzen der verwaisten Familie ein.

In Lamettries Mietwohnung befand sich dieser und der Forstmeister, beflissen, die Witwe und die Mutter Schellmanns aufzurichten.

Dann kam das Begräbnis: Der Sarg wurde von sechs Förstern zum Niederdorf getragen; es folgten die Witwe neben dem Geistlichen, Großmutter Schellmann und Lamettrie hatten den kleinen Friedel zwischen sich an ihrer Hand; Mister Friedrich trug mit steifer Würde einen mächtigen Lorbeerkranz. Neben ihm ging der Forstmeister. Trompeten und Hörner bliesen einen Trauermarsch. So zog man den Oberweg hinab bis zu einem aufsteigenden Hang, zum Friedhof, wo auf den Hügeln der Gedenksteine weiße Rosen und lila Astern blühten, von Trauerweiden überschattet. Und hier war das Grab für den Förster; ein Schwarm von Neugierigen hatte sich schon herum versammelt, machte aber dem Gefolge Platz.

Ragend auf dem Erdhügel stand ein noch junger Geistlicher. Er suchte die Witwe und die alte Mutter des jählings Dahingeschiedenen zu trösten, indem er auf Gottes ewigen Ratschluß verwies, dem wir alle uns beugen müssen. Dabei glaubte er ein Gerücht erwähnen und dem Fühlen des Volkes ein Zugeständnis machen zu dürfen: »Sollte hier« – so redete er – »etwas Schlimmeres als Unfall vorliegen, – sollten Mächte der Finsternis im Spiel gewesen sein, so wird die Vorsehung ihre Schliche an den Tag bringen und das Wort des allmächtigen Weltenherrn erfüllen: Die Rache ist mein! ich will vergelten

»O heilige Einfalt!« raunte auf dem Heimweg Lamettrie dem Forstmeister zu: »Sieht denn der Pfarrer nicht, welchen Rattenkönig von Widersprüchen er als Gottes Wort gelten läßt? Vorsehung und schleichende Mächte der Finsternis! der allmächtige Weltenherr, der zugleich Gott der Liebe und doch der Rachsucht sei!«

»Hm, Du hast recht« – meinte der Forstmeister – »aber Waldarbeiter und Landleute verstehen es nicht besser, zu denen muß man wohl so reden!«

»Also soll man sie bei ihrer Dumpfheit lassen?« brummte Lamettrie.

Als sie mit der Witwe, ihrer Schwiegermutter und Friedel in Lamettries Laube saßen, und vor ihnen ausgebreitet, von der Sonne verklärt, die gewaltige Bergwildnis lag, sprach Lamettrie: »Wie heilig ist die Sonne, die den Bösen wie den Guten scheint! Wenn sie auch nicht weiter bedeutete, als unerschütterlichen Gleichmut gegenüber allem, was den Geschöpfen geschieht, so wäre sie noch viel besser als ein Gott der Rachsucht. Aber im Evangelium der armen Seele wird der Gott verkündet, der nichts als Güte ist.«

Und er holte das Büchlein und las still darin. Er fand folgende Stelle: »Ein Mensch, der von Gott bloß weiß als von einem, der uns versorgt, der hat den wahren Gott noch nicht erlebt! Ist es nicht unter den Menschen jetzt eine gangbare Rede, daß von Religion eines Volkes erst gesprochen werden könne, wenn dessen Gottesglaube sich anschließe an seine sittlichen Vorstellungen? Zu dem, der da jammert, daß ihm ein Stück seines Gottesglaubens entzogen werde, sprich: es wird dir das entzogen, was durch Mißverstand in deinen Gottesglauben hineingekommen ist; und was dir entzogen zu werden scheint, das wird auf einer andern Seite ergänzt. Denn deine Liebe zu den Brüdern in Kraft der Liebe Gottes ist kein müßiges Ding, kein Betrachten und sich selbst und seine schöne Empfindung Genießen, sie ist eine Kraft Gottes, welche da treibt, Werke der Liebe zu wirken. Da gehe hin und lerne die Gesetze der Natur und wende sie an, damit der Ertrag deiner Arbeit groß und gewiß sei, und dasselbe sollen alle Menschen tun, von gleichem Geist der Liebe getrieben; und wenn an einem Orte Hagel und böse Wetter der Ernte Schaden tun, so soll der Ueberfluß des andern Ortes den Mangel ergänzen, und ihr sollt euch zusammentun, den Schaden der Einzelnen gemeinsam zu tragen.«

Der Alte sann eine Weile – dann las er schweigend weiter: »Dies leibliche Leben ist der Tummelplatz und Uebungsplatz für ein frommes Wirken – das sollt ihr hochhalten. Bisher glaubtet ihr, Wind und Wolken seien Boten Gottes; dieser Glaube wird abgetan, Wind und Wolken und alle Dinge folgen ihrer Natur und dem, was sich aus dem Zusammenhang mit allem Andern ergibt. An Gott dürft ihr euch für Wind und Wetter nicht mehr wenden und von ihm etwas der Art nicht fordern. Die Welt und ihre Dinge stehen nicht unmittelbar unter Gottes Einfluß, aber mittelbar bleiben sie demselben nach wie vor untertan. Du fragst, wie das zugehe, ich will es dir sagen: Das geschieht durch die Menschen. Die Menschen können die Welt sich mehr und mehr unterwerfen, indem sie ihr die Gesetze ihres Wirkens ablernen und mit diesen die Welt selbst, soviel sie vermögen, besiegen. Wenn du am Bett eines Kranken stehst, so betest du nicht mehr: Herr, erhalte ihn, sondern: Allquell der Liebe, ich wünsche, daß er noch leben bleibe, denn ich möchte ihm noch viele Beweise meiner Liebe geben; darum flehe ich zu dir, stärke meine Kraft, daß ich nicht verwirrt werde in meiner Angst, sondern Herz, Sinne und Verstand am rechten Fleck bleiben, damit ich alles tue, was den Kranken etwa noch zu erhalten imstande ist; vor allem aber, heilige Güte, bin ich des froh und gewiß, daß wir im Leben und Sterben dir angehören können.« Nun schloß Lamettrie das Buch und sprach innig: »Die ewige Liebe ist allmächtig, durch die Menschen, in die sie strahlt – aber sie ist kein Mittel zu einem Zwecke, kein Mittel, das man wie eine Mechanik anwendet, um etwas zu erreichen, was dem Körper not tut. Nein, Liebe wirkt unmittelbar, ihr eigenes Wesen strahlt sie aus – und das ist die vergottete Welt.«


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