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36. Auf der Sternwarte

Beim gemeinsamen Abendessen war Möller-Lamettrie sehr ernst und nach innen gekehrt. Frau Belling bemühte sich, ihn aufzuheitern, obwohl sie sich unruhige Gedanken machte über Gerharts langes Ausbleiben. »Ich hatte heute bestimmt auf eine Nachricht gewartet, aber ...«

»Und wenn er nichts als die Aachener Aufklärung erreicht hätte – diese ist mir Trost und hat mir eine schwere Last von der Seele genommen«, erwiderte Lamettrie.

»Ja, Onkelchen! Ich bin so glücklich!« sagte Hulda und lächelte ihm ins gedankenschwere Gesicht wie die Sonne in abziehenden Regen scheint.

»Offengestanden« – erklärte Frau Belling – »wollte ich dieser Tage Euch Kindern und Dir, lieber Onkel, ein Freudenfest anrichten; aber Gerhart muß doch dabei sein. Wird er Augen machen über unser Paar!«

»Ganz unerwartet ist ihm die Verlobung nicht gekommen« – gestand Helmut – »schon am Morgen nach unserer Begegnung im D-Zug hatte er mir was angemerkt. Hulda errötete und drückte ihrem Erwählten verstohlen die Hand.

»Aber«, meinte Frau Belling mit einiger Verlegenheit – »wir haben unseren Bräutigam noch gar nicht gefragt, welcher Tag denn ihm am liebsten wäre für das Verlobungsfest.«

Im selben Moment brachte das Stubenmädchen der Hausfrau ein Telegramm, das diese hastig öffnete, worauf sie sagte: »Von Gerhart! Morgen nachmittag kommt er. Die Depesche lautet: Bringe frohe Ueberraschung und einen lieben Gast. Ankunft Schachthof voraussichtlich morgen 6 Uhr nachmittags. Gerhart.«

»Nanu!« meinte Hulda erstaunt – »Gast? Wer könnte das sein?«

Auch Frau Belling besann sich: » Lieber Gast, heißt es. Vielleicht sein Freund Franz?«

»Den kann er nicht meinen«, sagte Hulda, »er würde dann einfach Franz telegraphieren, nicht so geheimnisvoll: einen lieben Gast.«

»Das paßt gut«, meinte Helmut – »Mutter Belling hat mich gefragt, welcher Tag mir für unser Familienfest besonders lieb wäre. Nun Gerhart depeschiert, daß er morgen kommt, und der Geburtstag meiner geliebten Großmutter ist übermorgen.«

»Dann feiern wir übermorgen«, meinte Hulda strahlend.

»Ja!« bestätigte Frau Belling – »dann haben wir auch Zeit zur Vorbereitung. Gleich heute abend beginnen wir mit dem Beraten. Helmut und Onkel haben ja mit einander zu tun, so daß sie ohne uns sein können.«

»Heute haben wir fast noch Vollmond«, sagte der Onkel zu Helmut, »da zeig ich Dir meine Sternwarte. Ich sehne mich nach der ruhevollen Unendlichkeit des Sternenhimmels. Unsere Tafelei ist ja nun zu Ende. Komm, mein Junge!«

Helmut küßte den Damen die Hand und folgte dem Onkel in den Garten, der schon ziemlich dunkel war. Die weißen Syringenblüten erhaschten den letzten bleichen Schimmer des erloschenen Tages und leuchteten geisterhaft.

Lamettrie-Möller war in Sinnen versunken, und Helmut den zarten Eindrücken der Dämmerung hingegeben; schon schimmerten etliche Sterne, feierlich ragten die hohen Wipfel der Ulmen, lautlos huschte die Fledermaus. So kamen sie schweigsam zum Hexenkapellchen.

Im Turm knipste der Onkel das elektrische Licht an, Treppen stiegen sie empor und traten in den erleuchteten Hauptraum der Sternwarte.

Unter Glasbedachung ragten schräg zum Himmel ein großes Fernrohr mit blitzenden Messingteilchen, dazu ein kleineres. Dann war da ein grünbetuchter Tisch mit Zeichnungen und Büchern.

Auf erhöhter Platte stand das Tonmodell eines Denkmals, ein Fünfeck mit fünf Säulen und runder Ueberkupplung, auf der ein Adler kauerte. Bei jeder Säule war ein Hauptvertreter der Gestirnkunde: Kopernikus, Tycho de Brahe, Regiomontanus und andere. »Nach einer Zeichnung von Kepler ist das gemacht, die er seiner neuen Sternkunde voransetzt. Aber sich selber hat er in seiner Bescheidenheit vergessen. Ich will das Modell in Marmor ausführen und unten vor die Sternwarte setzen lassen.«

»Dann würd ich aber« – sagte Helmut – » inmitten der Fünf den Kepler stellen, und zwar erhöht. Unter diesen Planeten ist er die Zentralsonne, er, der Erneuerer des Kosmosgedankens.«

»Hast recht, Helmut! wieder ein ausgezeichneter Einfall!« sagte der Alte entzückt. »Wundervoll, wie Kepler seine nach ihm benannten Gesetze aus der antiken Kosmosidee ableitet.«

»Bist Du bekehrt?« stimmte Helmut ein, »schon Pythagoras glaubte an geheime Zusammenhänge der Gestirne, Kepler aber bestätigte messend und rechnerisch, daß die Welt ein Kunstwerk sei; daß nämlich unsere Planeten in harmonischen Bahnen um die Sonne wandeln. Man kannte damals nur fünf Planeten, weil Uranus und Neptun noch nicht entdeckt waren. Diese Gestirn- Harmonien dachte er sich geradezu musikalisch.«

»Und solchen Glauben hat er getreu festgehalten – zu Zeiten war's, da es in der Menschenwelt nicht weniger als harmonisch herging – da die Völker Europas um die Herrschaft der Fürsten und Religionsbekenntnisse mit Hellebarden und donnernden Feldschlangen stritten. Und unser Deutschland zur Wüste machten, so wie Europa jetzt im Begriffe ist, sein Herz Deutschland zu veröden.«

Der Onkel lief nervös zum kleinen Fernrohr und richtete es auf den Mond, der am Horizont aus Dünsten glutig aufgetaucht war: »Laß uns flüchten aus der Menschenwüste! zur Heimat des Friedens!«

»Merkwürdig!« sann Helmut – »daß man in den Städten vor all den elektrischen Beleuchtungen und vor lauter Vergnügungssucht nahezu keinen ruhigen Ausblick zum Gefunkel der Sterne findet. Würden die Leute ihre Unruhe und Leidenschaft zu den Sternen tragen, und sich ihrem tröstlichen Farbenspiel, ihrer Seelenmusik hingeben, es stände besser um ihr Gemüt.«

Durchs große Fernrohr wollte Helmut schauen, aber der Onkel sagte: » Laß bitte! Meine Arbeit könnte gestört werden. Uebrigens ist dies Rohr auf Sternennebel gerichtet, die dem Neuling wirr vorkommen. Lieber wollen wir den schlichten Mondaufgang betrachten, und weg mit der künstlichen Beleuchtung, die doch nur stört!« So ließ der Onkel die elektrischen Flammen erlöschen; auf einmal war der Raum von wohltuendem Silberlicht durchflutet.

»Ah!« bewunderte Helmut – »das ist doch der lieblichste Anblick, den wir vom Monde haben können – Luna! Diana! Des Sonnengottes Schwester!

Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel blinkt wie Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht.

Dies Erlebnis ist schöner als das Fernrohrbild der Mondgebirge, die gewissermaßen das Gerippe verblühten Lebens sind.«

Gleichwohl trat der junge Mann näher und blickte durchs kleine Rohr auf die Mondgebirge, auf ihre kreisförmig öden Abgründe.

»Die Sonne scheint in ausgebrannte Krater«, raunte der Greis dumpf, und Helmut besorgte schon, es könnte ihn seine Lebensschwermut wieder anwandeln. »Ja, ein ausgebrannter Krater ist mein Leben, das Gerippe nichtiger Jugendblüte ... Verzeih, guter Junge! Drunten im Lesesaal das elektrische Licht verrät mir, daß Päch noch schmökert. Geh zu dem Einsamen, der Dir ja nicht allzu geistlos vorkommt. Deinen Onkel überlaß für heute abend dem Gezirp seiner Grillen. Auch Müdigkeit überkommt mich. Habe mir im mechanischen Museum viel Seelenqual zugemutet, Uebrigens weckt das Telegramm Gerharts allerlei Gedanken, denen ich in Einsamkeit lauschen möchte.«

»Gewiß, guter Onkel!« sagte Helmut ohne Uebelnehmerei. »Ich gehe hinunter, ziehe aber natürlich, obwohl Herr Päch mich interessiert, die Gesellschaft Huldas vor.«

»Ganz nach Deinem Herzen, lieber Junge!« sagte der Onkel weich.

So ging denn Helmut.

Der Greis machte die Treppen hell und horchte auf die Schritte des Gehenden. »Duldsamer Mensch!«

Dann streckte er sich auf ein Polsterlager, tat eine Reisedecke über sich und schaute in den Mond. Durch sein Gemüt klang es:

Breitest über mein Gefild
lindernd deinen Blick,
wie des Freundes Auge mild
über mein Geschick.

Dann gähnte er, atmete ruhig, und bald war er eingeschlafen.

Ist das nicht Düren? Nein, Verona ist es, und da wohnt Julia mit ihrem dreizehnjährigen Bruder. Ein lieber Junge, etwas zu früh hochgeschossen, ein Sinnierer, doch zutraulich. Julia bringt das Abendessen ...

Ei! freut sich der Junge; und Julia lächelt freundlich, als wolle sie sagen: er hat eben nur mich. Und Förster will er werden ... Ja, Buchfinken hat er gern und Drosseln ...

Dann verwirrte sich der Traum.

Flatternde Bilder, Musik und Mondschein.


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