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40. Die Lazaruskapelle

Nun war der Tag da, an dem Gerhart nebst seinem Gast kommen sollte. Weil Hulda und Frau Belling mit den Zurüstungen zu den geplanten Feierlichkeiten alle Hände voll zu tun hatten, hielt es der Onkel für passend, mit Helmut morgens den Ausflug zur Lazaruskapelle zu unternehmen, die man ja in der Ferne, auf dem linken Rheinufer hatte liegen sehen.

Der Onkel bemerkte hierzu: »Als ich mich in Wiesbaden mit Hulda und ihrer Mutter befreundet hatte und hinterher auf dem Schachthofe weilte, galt unsere erste Ausfahrt der Lazaruskapelle, und dort war's, wo sich Huldas Gemüt mir erschloß. Helmut! Du verdienst sie nur, wenn Du sie glücklich machst, sie ist ein wahrer Schatz, mein Junge.« Das war Musik für den Bräutigam, und er lächelte still.

Bald darauf lehnten die Zwei im Auto, sausten zur Industriestadt und über die großartige Rheinbrücke. Dann kamen kleinere Ortschaften, ländliche Häuser, Gärtchen, Dorfkirchlein. Eine Prozession wollte der Onkel nicht stören und wählte daher Feldwege, wo man sich an wallenden Saaten, an blühendem Raps und Mohn erfreute.

Auf sanft gehügelter Kleewiese lag die Kapelle, und das Auto hielt. »Chauffeur!« sagte der Onkel – »Sie können zur nächsten Ortschaft fahren, aber seien Sie in einer Stunde wieder hier!«

Gemächlich schritt nun der Alle mit seinem jungen Freunde den Pfad zur Kapelle hinan. Im Blauen schwelgte eine Lerche.

»Trillerfrohes Kosmosseelchen!« schwärmte beschaulich der Onkel – »lang hab ich deinen lieben Naturlaut nicht beachtet. Erst mein neues Schicksal, wie es sich jetzt enthüllt, hat mir wieder Sinn dafür erschlossen. Als der amerikanische Vetter seine Autopartie in die langweiligen Saatstrecken vor der Riesenstadt machte, trillerten keine Feldlerchen ... Apropos Vetter! Der also ist ein Erlenbach – Julias Familienname! Sollte da vielleicht Verwandtschaft bestehen? Ich meine nur so! Es kommt mir in den Sinn.«

»Der Name Erlenbach ist nicht allzuselten – aber verfallen wir nicht in aussichtslose Familienforschung!« meinte Helmut verdrießlich.

Der Onkel sann schweigend und hörte wieder auf die Lerche, die sich höher und höher schraubte.

»Suche die Kunstform dieses Gesanges zu erhaschen!« raunte Helmut. »Eine Folge von Trillern, rhythmisch verbunden durch gezogene Jauchzer. Die zweite Zeile wiederholt einigermaßen die erste, doch mit etlicher Abweichung. Diese gefällt nun unserer Sängerin, wird daher ausgestaltet zum selbständigen Motiv, und so entwickelt sich das Lerchenlied in Parallelismen mit Varianten, in denen die Lerche bisweilen schwelgt. Etwa so hört es sich an:

Früh, früh mit dem Licht, tiri!
Früh mit dem sprühenden Lichte zieh!
Wirres entwirre die sonnige Früh.
Trübem entschwirre, himmelan flieh!
Wirbelnd girre, tiri, tiri!«

Helmut sprach weiter: »Im Psalm finden wir den Parallelismus. Hörst Du ihn heraus? Denke beispielsweise an den Psalm: Der Herr ist mein Hirt, mir mangelt nichts. Er weidet mich auf grüner Au und führet mich zum frischen Wasser ... Die Lerche ist also gewissermaßen eine Harfe Davids. Im Singen der Lerche, der Grasmücke, der Nachtigall, ebenso in den Farben und Formen von Schmetterlingen und Käfern, allenthalben in der Natur wirkt sich eine künstlerische Gestaltung aus – der Kosmos.«

Zum entschwundenen Flatterseelchen spähte der Onkel: »Hoch steigt sie – verschwindet im Blauen – aber ihr Tirelieren hört man deutlich. So variiere auch mir, gnädiges Schicksal, Deine unerschöpfliche Güte!«

Erhoben vom Lerchengesang kamen sie zur Kapelle. Nur auf einer mäßigen Feldhöhe gelegen, gewährte diese weiten Ueberblick über das Flachland des Niederrheins, der blinkend durch Felder und Wiesen zog, vorbei an Dörfern und Betriebsbauten.

In die Kapelle tretend, stand der Alte beim Weihwasserbecken, schlug mit benetzten Fingern das Kreuz und betupfte Helmut, indem er sagte: »Huldchen, obwohl protestantisch erzogen, macht die Formeln des katholischen Volkes manchmal aus Duldsamkeit mit.«

»Weshalb auch nicht?« meinte Helmut. »In jedem Lande blickt man mit Andacht himmelan, und dieselbe Sonne ist es, die über allen Völkern scheint.«

Der Raum des Gotteshauses, nicht größer als eine Stube, hatte zwei Reihen von Bänken. Der Altar mit dem Gekreuzigten war flankiert von Maria und Josef, die im Heiligenschein prangten. Auf der einen Seitenwand war die Erweckung des Lazarus gemalt. Das Bild gegenüber veranschaulichte Christi Gespräch mit Nikodemus, der an Wiedergeburt zweifelt.

»Wie stellt sich zu diesen Bildern Deine mathematische All-Anschauung?« fragte der Onkel. Und Helmut erwiderte: »Du meinst, was ich die schöpferische Formel nenne: Unendlich mal Null? Diese Formel bringt hervor, und bedeutet auch, daß jedes Geschöpf den Beruf hat, dem Unendlichen zu gleichen. Allerdings innerhalb der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit kommt es nie und nirgends über Begrenzung hinaus. Doch wie die Lerche im Schrankenlosen sich verliert, so hat jedes Geschöpf Anteil am Ewigen, es flattert darin höher und höher.«

»Aber« – mäkelte der Onkel – » so erreicht man doch niemals Unendlichkeit.«

»Man weitet sein besseres Selbst. Das ist alles, was eine Persönlichkeit vermag. Man weitet sein Selbst, indem man fremdes Ich wie sein eigenes behandelt.«

»Oh«, jammerte der Alte mit Augenrollen – »das eben hab ich versäumt – und so bin ich gesunken – wie die Lerche vom Aufstieg zur Tiefe hinab.« Helmut suchte zu ermutigen: »Doch nur um erneuten Höhenflug zu leisten! So ist jene Wiedergeburt im Geiste gemeint, die Nikodemus bezweifelt. Eine höhere Lebensstufe muß erobert werden.«

»Auferstehung von den Toten aber«, klagte der Onkel – »nicht wahr, Helmut, das ist Köhlerglaube? mag ihn selbst ein Walt Whitman mitmachen.«

Helmut sagte: »Whitman meint, alles Sterben sei ein Geborenwerden.« »Im Sinne Heraklits würde das allerdings stimmen – die Gegensätze fallen in Eins zusammen. Läßt sich etwa leugnen, daß ein Kind, indem es geboren wird, seinem bisherigen Zustande, dem Leben in der Mutter, abstirbt? Und so fallen Null und Unendlich zusammen, beides läßt sich gewissermaßen einander gleichsetzen. Indem die Persönlichkeit von einer Welt des Endlichen scheidet, erwacht sie zu freierem Leben. Ohne Zahl sind Welten im Grenzenlosen enthalten, und die ewige Liebe, die uns in diesen Erdengarten gepflanzt hat, beseelt uns auch im Sterben

Der Alte setzte sich auf eine Bank, die Stirn in seine Hand geschmiegt. So sann er, während der Perpendikel im Kasten der Kapellenuhr takte und takte, als ob er sagen wollte: Nie steht das Leben still!

Nach dumpfem Sinnen raunte der Greis: »Wenn Julia nicht mehr unter den Lebenden zu finden ist, dann also weilt sie in einer anderen Welt. Aber ist sie denn noch, was sie einst war?«

Helmut antwortete: »In der Ewigkeit ist alles geborgen, was einst gewesen.«

»Aber ich? Wer bin denn ich? Nur ein zeitlich elender Mensch in dumpfiger Kapelle! Und was Deine Großmutter betrifft, deren Andenken wir ja morgen feiern, bitte sage mir, Helmut, seit wann ist sie tot?«

»Wenige Tage vor Ausbruch des Weltkrieges ging sie zur Ruhe.«

»Und außer Dir, Helmut, lebt von ihren Verwandten nur noch Dein amerikanischer Vetter?«

»Und dessen Vater, ein Forstmeister, sowie seine Tochter nebst dem Söhnchen.«

Unruhig erhob sich der Onkel von der Bank: »Man sitzt hier unbequem. Auch beengt mich der Weihrauchduft.«

»Gehen wir also!« Und sie traten ins Freie, wo sich die besonnte Aussicht dehnte. Auf dem Feldwege sahen sie ihr Auto näher kommen ... Aber nein, es war ja ein anderes Auto, und ein Herr saß hinter dem Chauffeur. Starr spähte der Onkel hin und stammelte: »Ist das nicht Gerhart

Richtig, Gerhart war's! Das Gefährt hielt, und der Insasse stieg aus.

Gerührt umarmte er den Onkel wie auch Helmut, dann sagte er heiter: »Ja, wir haben's eilig gehabt, ich und der Forstmeister. Sind daher schon mit dem Nachtzuge angekommen – wir hätten ja doch keine Ruhe gefunden – vor all der Freude! So sind wir gleich morgens zum Schachthof gefahren. Als man uns dort sagte, ihr wäret zur Lazaruskapelle, bin ich hierher gesaust – nachdem ich den Forstmeister bei uns abgesetzt habe.«

Erstarrt stand der Onkel: »Forstmeister? ... Und weshalb bringst Du den

»Weshalb? Ei, Du kennst ihn doch! Der Forstmeister ist doch ihr Bruder, Julias Bruder.«

Der Onkel wurde blaß, seine Lippen bebten. Auch Helmut schwieg verblüfft. Und Gerhart starrte die Beiden fragend an: »Ihr seid ja wie vom Blitze gelähmt, habt ihr denn nicht die Sache schon selber zusammengereimt?«

» Welche Sache?« stammelte Helmut.

»Nun, guter Freund, ich hatte vollkommen richtig kombiniert, jetzt ist's erwiesen: Ihr beide seid blutsverwandt


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