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24. Aufhellung

Auf Herrn Lamettries Erscheinen warteten die Liebenden am Kiefernwalde, unweit der Einsiedelei. Sie standen an einer Stelle, wo man durch eine Schneise des Dickichts auf das Dorf und sein Kirchlein blickt.

»Ja wohl, Hulda«, sagte Helmut, »für die Möller-Stimmung waren die von Dir gewählten Gedichte wohl geeignet; es galt ja, ihm nahezubringen, wie das Rätselhafte, was unser Nichtwissen Tod nennt, die Quelle des Lebens ist. Meine Großmutter hatte dafür die altgermanische Bezeichnung Hel gewählt. In Hel verehrte man die Göttin der Unterwelt – sie umfaßt zugleich das Wurzelbereich alles Lebendigen – auch Frau Holles Sagenteich; Hel ist ja dasselbe wie Frau Holle.«

»Ach! Und deshalb hat man Dir wohl den Namen Helmut gegeben?«

»Allerdings! Um meine Großmutter besonders zu erfreuen. Im gleichen Sinn hat sie erwidert, eben durch jene Widmungsverse, von denen wir schon gesprochen haben. Aber wir sind ja bei Walt Whitman!«

»Ja, bei seiner lebensvollen Anschauung des Todes. Diese wollte ich dem Onkel nahebringen.«

»Ganz einverstanden bin ich mit Dir, soweit die schwermütige Möller-Persönlichkeit in Betracht kommt. Weil es aber an der Zeit ist, den Lamettriegeist wieder anzuregen, laß uns für etwa künftige Fälle lieber ein energisches Dur wählen, kein gefühlvolles Moll. Das Rasseln der Maschine begeistert einen Walt Whitman ebenso wie der Blick in geheimnisvoll große Natur. Du hast gewiß schon erlebt, daß man im Rattern der Eisenbahnen allerlei Weisen und Takte vernehmen kann. Nun also! Das ist nur ein schwaches Seitenstück zu dem, was unser Dichter aus derlei Getrieben heraushört. Ein Ohr hat er sowohl für die heimlichen Lieder des Windes, der den Straßenstaub wirbelt – für die Melodien der Wogen, die einen stampfenden Küstendampfer schaukeln und rhythmisch überspritzen; aber auch das Tosen des Newyorker Verkehrs ist ihm so erhaben wie naturhafte Stimmen ...«

Während Helmut so redete, war der Onkel aus der Einsiedelei gekommen, wieder ganz wie Lamettrie gekleidet. Entschlossen ging er auf das Paar zu, und dieses suchte seine verlegene Unsicherheit hinter einem Lächeln zu verbergen. Doch selber befangen und von der Umwandlung seines Gemüts verwirrt, bot Lamettrie dem jungen Wanne mit Gestammel die Hand: »Wir kennen uns, Herr Burger. – Dank für Ihr Kommen! Und Dir, Hulda, daß Du mir Euren Gast herbrachtest!«

»Herr Lamettrie, Sie hatten die Freundlichkeit, mich mal zum Besuch Ihres Museums einzuladen. Da ich nun von Bellings ...«

»Herr Burger«, fiel ihm Hulda ins Wort, »interessiert sich lebhaft für Deine Erfindungen, und ...«

Wieder sein Signal-Pfeifchen zog Lamettrie heraus; beim Umkleiden hatte er es an sich genommen. Auf den schrillen Pfiff eilte Friedrich herbei und nahm leise Weisungen seines Herrn entgegen.

»All right, mylord.«

»Meine Technik zu besichtigen, wird allerdings einige Tage kosten« – wandte sich Lamettrie mit Wichtigtuerei wieder zu Helmut – »vorausgesetzt, daß Sie von meinen Einfällen nicht gar zu sehr angestrengt werden.«

»Dann wird es Helmut schon sagen. Und jetzt wollen wir noch ein wenig durch den Frühlingsgarten wandeln und für heute nur mit einem Blick Dein Museum streifen. Dürfen wir Dich, Onkel, bei unserem Mittagstisch haben?«

»Danke! Ich lasse den Bescheid noch offen«, erwiderte Herr Lamettrie mit ernstem Blick.

Etwas Aufheiterndes wollte Hulda vorbringen: »Denke Dir, Onkel, heute ist wieder der Glücksvogel gekommen.«

Wie von Maiensonne verklärte sich sein starres Antlitz: »Ach, unser Benedikt! Hat er von den Datteln gepickt?«

»Das hat er. Freilich sein Onkelchen vermißte er offenbar. Vor unserem Gast hatte er so wenig Scheu, daß er uns sein lieblichstes Lied gesungen hat.«

Lamettrie lächelte vor sich hin und nickte, als ob er einen guten Gedanken bekräftigte. Wie ein Erwachender sah er sich in der prangenden Blütenlandschaft um. Die ersten Schwalben schossen mit schrillen Jauchzern durch die Luft.

Man war in der Nähe eines Gebäudes, das unten einen offenen Säulengang hatte, oben einen vierkantigen Turm, mit Uhr versehen und mit einem gläsernen Beobachtungsraum nach Art einer Sternwarte.

»Sie wundern sich über den anscheinend kleinen Raum, den mein Museum umfaßt. Das hier ist aber bloß der Eingang – die Hauptsache befindet sich in den unterirdischen Gängen und Gemächern. Den Schacht, der hier war, habe ich zu meinen Zwecken hergerichtet.«

Friedrich, der wohl meinte, eine Besichtigung sei zu erwarten, näherte sich, als ob er Auskünfte zu geben habe. Während Lamettrie seiner Hulda den Arm bot, und mit ihr etwas Vertrauliches zu reden schien, wandte sich Helmut an den Diener: »Na, Mister Friedrich, nun gibt es ja wieder für Sie zu schaffen.«

Der Diener erwiderte: »Nichts ist mir willkommener, Herr Doktor. Ich bin ja glücklich, daß Herr Lamettrie wieder hergestellt ist, wie es scheint. Was aber das Schaffen betrifft, das Sie, Herr Doktor vermuten, so ist das, was wir in Deutschland zu tun haben, nur ein Kinderspiel im Vergleich zu den Jahren in Amerika.«

»Kann mir denken, daß es damals heiß herging.«

»Ja, als Herr Lamettrie seine ersten technischen Vorstellungen gab, ging unser busineß miserabel, und es kam so weit, daß wir in Milwaukee ausgepfiffen wurden. Aber mein Herr behielt den Kopf oben und sagte: Friedrich, aus der Wüste ist der Menschheit schon manches Heil gekommen – zur Wüste nehmen wir jetzt unsere Zuflucht. Als Jäger hausen wir in Wäldern und Prärien. Na, man bekam ja auf den Stationen, von denen wir ausgingen, Maismehl und Konserven, und lebten so leidlich. Da gaben nun Einsamkeit und Not Herrn Lamettrie die Gedanken ein, die sich in Newyork so glänzend bewährten. Das war seine Erfindung des mechanischen Schachspielers und der geniale Trick, mit dem er das Publikum überwältigte ...«

»Trick?« unterbrach Helmut – »kann denn ein Trick, eine Täuschung, genial sein?«

»Ich erlaube mir, zu entgegnen: gewiß ist das möglich. Sehen Sie erst mal den Schachspieler, dann urteilen Sie! Mit der verblüffenden Vorstellung haben wir im Niggerviertel von Newyork hundert volle Häuser erlebt, jeder Platz zu einem halben Dollar – und jedesmal brüllte das Publikum ein Lebehoch auf seinen Lord Lämitrei, wie es den französischen Namen aussprach ... Ja, das war genial – war unsere große Zeit ... Na, Sie werden ja selbst sehen. Aber da kommt Frau Belling.«

Lamettrie und Hulda gingen ihr lebhaft entgegen, und Helmut schloß sich ihnen an. Mit Vergnügen vernahm er, daß Frau Belling nun nach dem Morgenschlummer ganz rüstig sei.

Weil Hulda mit ihrer Mutter Wirtschaftliches besprechen wollte, hielten sich die beiden Herren etwas abseits, und Lamettrie gesellte sich wieder zu Burger. Friedrich ging ehrerbietig hintendrein.

»Wenn es gefällig ist« – sagte Lamettrie, der sich nun wieder in seinem Element fühlte, »so tun wir einen Blick in das berüchtigte Hexenkapellchen.« Und seinen Arm ergreifend, führte der flotte Greis den Gast durch terrassenförmige Beete die Anhöhe hinan.

Oben angelangt, sah der junge Mann ein mächtiges Portal gotischen Stils, das gewissermaßen eine Musik von Linien war; dem Innern des Hügels schienen sie entsprossen. Zur Kapelle, die wie in den Boden gesunken aussah, führten einige Stufen hinunter.

Durch das Portal trat man in einen gotisch gewölbten Raum: dämmerhaft eingestreutes Rosenlicht fiel von oben her auf die Marmorgestalt eines kraftvollen Jünglings, der aus Felsgestein hervorklomm, seinen rechten Arm erhoben, als begrüße er jauchzend den Tag. »Aus Tiefen die Wahrheit«, lautete eine Inschrift.

Inmitten dieser Vorhalle, die eine verschlossene Tür und gegenüber einen offenen Spitzbogen hatte, war ein Marmorbecken mit Gewächsen und zierlich springendem Wasser, grün beleuchtet.

»Zur Kapelle hier!« raunte Mister Friedrich, auf den offenen Bogen deutend.

Der eintretende Helmut staunte über den großen Raum in bläulicher Beleuchtung. An beiden Seiten von dämmrigen Kreuzgängen eingefaßt, hatte er die Stimmung einer Kapelle. Ein Altar befand sich nicht darin; an seiner Stelle, die ganze Wand füllend, ein Gemälde der Sixtinischen Madonna, flankiert von zwei wuchtigen Leuchtern.

Auf Friedrichs Wink nahmen Helmut und Lamettrie auf einer der beiden Eichenbänke Platz, die den Blick sowohl nach rechts zum Bilde, als auch nach links zur Orgel gewähren.

Mit ihren silberfarbenen Pfeifen erhob sie sich vom vorgewölbten Chore. Auf ihm standen Hulda und ihre Mutter mit Notenblättern. Nun verschwanden sie – gleich darauf erscholl die Orgel.

Andächtig versank Helmut in den Anblick der heiligen Mutter Gottes, die im blauen Himmelsmantel das Kind trägt, dessen gewaltiges Auge mit Erbarmen auf die Welt herniederschaut, vom Erlöserwerke sieghaft träumend.

Jetzt mischten sich in die Orgel, die Frau Belling spielte, die perlenden Klänge der Harfenspielerin Hulda, und diese sang mit sanfter Altstimme Mörikes Gebet:

»Herr, schicke was du willt,
Ein Liebes oder Leides;
Ich bin vergnügt, daß beides
Aus deinen Händen quillt.
Wollest mit Freuden
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.«


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