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47. Feier im Museum

Die Vorlesung, zu der Gerhart eingeladen hatte, stand nahe bevor, und die Gäste, nachdem man die Reliquien der Familie Erlenbach betrachtet hatte, verließen die Einsiedelei mit Aeußerungen der Befriedigung.

Draußen bewunderte man noch einmal die Reize des am Weinberg gelegenen Häuschens, das nunmehr auch von einer sittlichen Weihe verklärt war. Die Augen schweiften über sprossende Reben, über Wipfel des Parkes und Bedachungen des Schachthofes hinab, zu den Gärtchen und der Kirche des Dorfes, bis hinaus über die fernen Saatfelder der Rheinebene.

Und nun ging man durch das buschige Weimutskiefernwäldchen die Anhöhe hinunter.

Ein kurzes Verweilen gab es noch, als Lamettrie-Möller die Arbeiter traf, die auf Veranlassung Frau Bellings die festliche Schmückung der Einsiedelei in eiliger Heimlichkeit besorgt hatten. Seinen Dank sprach ihnen der Alte aus und lud die Leute zu einem kleinen Frühstück ein, das im Wirtshaus des Dorfes stattfinden sollte.

Ihre Bitte, bei der Feier im Museum zuhören zu dürfen, die wohl aus Neugier erfolgte, wurde mit der Begründung abgelehnt, auf den engen Kreis der Nächsten beschränke sich diese Feier.

Ueber den Wiesenhang zwischen Gebüschen und Blütenbäumen ging es nunmehr ins Museum. Der Orgelsaal war mit Gewächsen geschmückt, und ein weiterer Abzug des Juliabildes prangte, von weißen Rosen umkränzt, vor dem Rafael'schen Madonnengemälde.

Auf den Bänken nahm die kleine Versammlung Platz; von den Angestellten waren nur Friedrich und Päch zugegen. Lamettrie war schweigsam und ganz nach innen gekehrt.

Nach einem ergreifenden Orgelspiel der Frau Belling betrat Gerhart das Pult und schlug Julias Tagebuch auf.

»Den hier festlich versammelten Freunden« – begann er schlicht – »möchte ich, wie angekündigt, eine Probe geben von dem Tagebuch, das Helmuts Großmutter, Marie Erlenbach, hinterlassen hat – oder Julia, wie Onkel Lamettrie sie zu nennen pflegt. Frau Rade, die treue Studentenmutter Helmuts, hat es ihm als Geschenk zu seiner Verlobung dargebracht.

Erst heute früh konnte das Brautpaar mit mir etlichen Einblick tun – mit dem Ergebnis, daß ein paar Stellen daraus mitgeteilt werden sollen, weil sie uns die Persönlichkeit Marie Erlenbachs verehrungsvoll nahebringen.

Was ich herausgreife, stellt in ihrem Leben einen Wendepunkt dar, der unser Sinnen auf höchste Lebensfragen lenkt und besondere Bedeutung hat für ein Paar, das sich zu verbinden gedenkt. Dieses Brautpaar wünscht zum Mittelpunkt der Feier seine würdige Ahne, zu der es mit kindlicher Verehrung aufblickt.

Ich wähle zunächst einige Tagebuchkapitel, auf welche die Verfasserin in den Gärungen ihres Innenlebens wiederholt Bezug nimmt. Es sind Gedanken im Sinne des Evangeliums der armen Seele:

»Ihr suchet die Größe einer Religion, wo sie nicht liegt, die Schwächen da, wo sie nicht sind. Ihr meinet, auf die Vorstellungen von Gott, ob man sich Einen Gott denke, ob viele, darauf komme es an. Ihr täuscht euch darin, es ist das Maß eurer Beurteilung, es ist aber nicht Gottes Maß.

Gott fragt: ist die Liebe zu den Mitgeschöpfen der Haupt- und Grundsatz der Religion, und weiset sie auf Gott als das große Meer der Liebe hin, und ob wir in dieser Liebe ewiglich stehen. Das ist das Wesentliche und Erste einer Religion; und wer von diesen Gedanken erfüllt war und unter die Menschen trat und sie verkündete, der ist ein wahrer und echter Prophet gewesen, und wenn auch noch so viele Irrtümer in seinen sonstigen Vorstellungen mit untergelaufen wären. Er hatte ein Herz, das das Fünklein der Liebe in mir zur Flamme genährt hatte, die Millionen seiner Brüder Licht und Wärme mitzuteilen vermochte, fortwirkend in seinen Jüngern und deren Jüngern von Geschlecht zu Geschlecht.

Was irrtümlich ist an seinen Lehren, das stammte nicht aus seinem Herzen und nicht von mir, sondern aus seinem Verstande, wie er von Natur vorwiegend beschaffen war, und vom Verstande seines Volkes und seiner Vorfahren, von denen er sich nicht loszuwinden vermochte, oder, wenn er es seiner Einsicht nach vermocht hätte, es nicht aufkommen ließ aus unrichtig gewendeter Liebe, um nicht alles, was seine Väter geglaubt und gehofft hatten, als falsch hinzustellen.

Wahrlich ich sage euch: wenn einer die Liebe zu den Menschen in Kraft der Liebe Gottes rein und klar erfaßt, in seinem Leben bewährt und die Menschen gelehrt hätte, und er hätte dabei manch wunderliche Vorstellung herübergenommen oder sich erdacht, er wäre dennoch groß im Himmelreich; und wenn er selbst gelehrt hätte, wie die Liebe zu den Menschen sich in viele Tugenden teilt, so gäbe es für jede Tugend einen besonderen Gott, an den man sich wenden müsse, um beständig die Kraft aus der Höhe von ihm zu empfangen – was wäre das groß Schade? Die Vorstellungen seines Denkens über Gott wären nicht richtig, aber der Gedanke seines Herzens, daß alle Tugenden müssen geübt werden, der wäre wahr, und solch eine Religion wäre viel größer und viel besser, als wenn eine andere lehrte, es ist Ein Gott, hätte aber wenig davon in sich, daß Gott Liebe ist und Liebe in der Menschen Seelen kräftig machen will.«

Gerhart schaltete hier eine Pause des Sinnens ein und fuhr dann fort: »Die weiteren Stellen, die zum Vorlesen gewählt sind, stammen aus der Zeit, als sie in Brüssel den deutschen Arzt zu Rate gezogen und jene Auskunft erhalten hatte, die Sie ja kennen.«

Hier brach Lamettrie in ein Schluchzen aus, das er allerdings mit Willenskraft unterdrückte – worauf er erklärte: »Mag es für mich auch tief beschämend sein, bemänteln möchte ich nichts!«

Und Gerhart fuhr fort: »Was sie zu leiden hatte, werden Sie erraten, wenn Sie bedenken, daß das Tagebuch vor fünfzig Jahren geschrieben ist und wie prüde die bürgerlichen Kreise solchen Schicksalen gegenüberstanden. Marie Erlenbach schreibt: »Wer gegen die gute Sitte verstößt, fordert eine Verachtung heraus, die ein wohlanständiges Mädchen scheu machen konnte, falls sie nicht so weit kommt, sich ausschließlich an die echten Werte der Mutterschaft zu halten, und das Gerede der Leute gering zu schätzen. Seinen Anfang nahm das Treiben gegen mich bei meinem Vormund, der in jedem Falle korrekt auftreten wollte. Er suchte mich von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß ich verschwinde und meine Niederkunft verhehle. In Köln solle diese diskret erfolgen und das Kind daselbst in Pflege gegeben werden. Dann dürfe ich wieder in Düren erscheinen, aber natürlich nichts merken lassen.

Solches Ansinnen wies ich mit Entrüstung ab. Die Aussicht, Mutter zu werden, erfüllte mich nicht mit Scham oder Furcht, sondern mit sanften Träumen. Dies vor den Leuten verstecken zu wollen, hielt ich für Feigheit, und daß ich mein Kind nicht behalten, vielmehr für kaltes Geld fremden Leuten überlassen und auf meine Mutterfürsorge verzichten solle, erschien mir als eine Lieblosigkeit und Untreue gegenüber dem kleinen Wesen, das mir anvertraut werden sollte.

So halte ich denn auch die Warnung meines Vormundes, mich ja keiner Freundin anzuvertrauen, energisch und trotzig in den Wind geschlagen. Hatte es sogar für Freundschafts pflicht gehalten, Lotten alles zu berichten. Sie erschrak aber und verfocht den Standpunkt des Vormunds. Seitdem hat sie sich nicht bei mir blicken lassen, mich sogar geflissentlich übersehen, als sie neulich die Mutter ihrer Klavierschülerin begleitete, und ich auf der andern Seite der Straße daherkam ...«

»Ein anderes Tagebuchblatt« – fuhr Gerhart fort – »Heut« hab ich meinen ersten Ausgang gemacht, seitdem mein Töchterchen erschienen ist. Da kam mir das Gelüsten, mal wieder alle Bücher zu durchschnüffeln, und bei einem Antiquar bat ich um die Erlaubnis, sein Lager anzusehen. Da fand ich eine Schrift, die sich betitelt: Evangelium der armen Seele. Darin blätternd, überflog ich etliche Seiten. Sie ergriffen mich, und ich kaufte das Büchlein. Es ist mir seitdem Trost und Erbauung geworden. Gedanken, die es mir weckte, seien meinem Tagebuch anvertraut.

Man fühlt sich ja zuweilen so einsam, als lebe man ganz allein auf der Welt. Angenommen, es wäre wirklich so, angenommen, ich wäre allein auf einer einsamen Insel – und ich hätte nur mein Kindchen, so wäre ich doch nicht verlassen; denn meine Liebe wäre ja bei mir, und es beseligt mich, wenn die Kleine ihre Aeuglein aufschlägt, nach mir verlangt, und dann, nach dem Stillen, in süßen Schlummer sinkt.

So beseligend ist die Macht der Liebe, wo sie auch nur einen Menschen mit ihrem Strahl begnaden kann. Hat er die Sehnsucht, alles in sich bereit zu machen, um Güte zu üben, sobald ein bedürftiges Wesen ihm naht, so besitzt er den größten Reichtum, den dieses Leben uns bieten kann.«

Ja, selig der Mensch, der sich frühe überwindet; er wird nicht bloß innig und ernst, sondern auch klar die Liebe Gottes und der Menschen verstehen. Und ob ein Mensch, der in Verirrungen lange dahinging, sich wird herausfinden, ob er die ewige Liebe ergreifen wird, um mit Kraft zu überwinden, das wird von Tag zu Tag zweifelhafter für ihn. Aber selbst in seiner Todesstunde ist niemand von der Bekehrung ausgeschlossen, nur freilich ist die bloße Todesangst eine schlechte Brücke zu Gott. Denn nicht das Erdenleben ist das Höchste, sondern die tätige Liebe, weil Gott, aus dem ihr sie schöpfet, ewig ist. Wer Gott liebt, damit er lebe, der liebt nicht Gott, sondern sein eigenes Leben, und das ist nicht die Liebe, durch die man zu Gott kommt. Die Liebe liebt Gott, weil er die volle Liebe für euch ist; sie fragt nicht, ob man durch diese Gottesliebe ewig leben werde, genug, daß sie durch Gott, was sie lebt, wahrhaft und mit Genügen am Leben lebt; aber sie erkennt, daß die, welche in der Liebe Gottes stehen, auch ewig in derselben sind. Sie glaubt an ihre Unsterblichkeit, nicht weil sie dieselbe wünscht, sondern weil sie sich freut, daß diese in der ewigen Liebe weset. Die natürliche Angst vor dem Tode ist somit ein schlechter Führer zu Gott. Auch tröstet sich der Fromme mit einer Unsterblichkeit, die ihm versagte Erdengenüsse im Himmel ersetzen soll; solche Gedanken liegen ihm fern; er ist ausgesöhnt schon auf Erden mit allen Schicksalen, denn sie alle nehmen ihm das Eine nicht, was ihm teuer ist, sie alle bieten ihm Gelegenheit, Liebe zu üben in Kraft der Liebe Gottes.«


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