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20. Großmutter

Verdrossen war Helmut nach Berlin abgefahren. Im Speisewagen suchte er sich zu zerstreuen, vor sich eine Flasche Rüdesheimer.

Er ärgerte sich über Gerhart: Es war ja sehr fesselnd im Industriegebiete – und Hulda hatte sein Herz entzündet, so daß es ihm schwer wurde, jetzt gleich wieder fortzumüssen, nachdem er ihr eben nahe gekommen war. Und da hatte Gerhart diese Schrulle ... Der Brief des amerikanischen Vetters – was hatte der angerichtet!

Der Aerger quälte ihn wie damals vor Verdun, als seine Compagnie die ausgezeichnete Stellung im kühnsten Sturme genommen hatte, als aber auf einmal der Befehl zum Rückzuge in die alten lausigen Gräben kam. Nach dem öden Berlin sollte er zurück, fort von ihr, seiner langersehnten Heimat!

Wie lautete doch Großmutters letztes Wort, damals, als er den knappen Urlaub bei ihr in Münden zugebracht hatte und dann wieder an die Westfront mußte? »Mein Enkel Helmut, keine Mutter mehr findst Du, und den Vater hast Du an einer mörderischen Krankheit im Osten verloren – mein Junge! mit einer Greisin mußt Du vorlieb nehmen – wenn endlich das Völkerringen sein Ende findet. Wer weiß, ob dann Großmutter nicht auch schon unterm Rasen liegt und Du keine Heimat für Dein Herz mehr hast – arme Waise! Dann suche nach einer Seele! Und wenn Du sie findest, wenn Dir eine Stimme sagt: sie ist es! Dann greife zu und halte sie fest

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, keine andere Seele konnte sie meinen, als Hulda. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, und dem Studenten kam die Versuchung, einen Schluck Wein zu schlürfen – aber er hob nur das Glas, als ob er ihr zutrinken wollte.

Dann wurde er ernst, lächelte dann wieder, weil ihm einfiel, daß Gerhart jener Schauspielerin eine Aehnlichkeit mit Hulda zugeschrieben und andererseits von ihr etwas Abenteuerliches vermutet hatte. So ähnlich also sollten sie einander gewesen sein, Hulda – und Großmutter – als diese noch in ihrer Jugendblüte stand!

Dabei hatte er die bestimmte Meinung, daß der Freund, der doch sonst so scharf und nüchtern blickte, diesmal wie ein Verblendeter am Ziel vorbeigeschossen hatte: Großmutter und Schauspielerin? Wie soll ich mir das zusammenreimen! Sie, die von je eine auffallende Abneigung hatte vor allem, was Theater heißt, obwohl sie freilich für Kunst und alles Schöne still aufgeschlossen war.

Ein Gespräch fiel ihm ein, das zwischen seinen Eltern über einen Brief Großmutters stattgefunden hatte. Diese tadelte ihre Tochter, weil der noch junge Helmut mehrfach ins Theater gedurft hatte. Obwohl es sich um Stücke handelte, wie »die Braut von Messina«. Helmut, machte sie geltend, müsse das Leben als ernste Aufgabe ansehen lernen, nicht als aufregendes Spiel. Mitleid empfand sie mit den Bühnenmenschen, insofern diese sich ewig verwandeln müssen. Ist einer heute der Räuber Moor, so muß er morgen Held Siegfried sein, dann wieder irgend ein Liebhaber. Sie wolle ja nichts gegen eine Dichtung sagen, aber sie bedauere einen Stand, der in eingebildeten Welten lebe, und ewig die Rollen zu wechseln habe. Das müsse ja charakterlos machen. Helmuts Vater allerdings hatte über solche Ansichten die Achseln gezuckt.

Dabei war Großmutter Erlenbach keineswegs eine Sittenrichterin, sondern von weitherziger Menschlichkeit, so daß sie in den Kreisen der Korrekten oft angestoßen hatte.

Jetzt spürte Helmut, daß seine Gedanken sich verwirrten. Er trank den Wein aus und gähnte. Dann begab er sich in den Schlafwagen und lag bald in festem Schlummer ...

Als er in Berlin ausgestiegen war und ihn das Gewühl der Menschen, die zur Arbeit strömten, der Radler, Omnibusse und Autos umbrandete, fühlte er sich sofort in den gewohnten Gleisen seines halb studentisch und halb geschäftsmännisch eingestellten Lebens; und als er am Stettiner Bahnhof vom Omnibus absprang und seines Firmenschildes ansichtig wurde, da schmunzelte er zufrieden. Freilich, welch ein erstauntes Gesicht würde die gute Haushälterin Frau Rade machen, wenn er jetzt unerwartet vor ihr stände.

Und wirklich! Verblüfft stand sie in der geöffneten Flurtür, ihre trotz der sechzig Jahre kerzengerade Gestalt war schon in dieser Morgenfrühe zum Empfang der Kunden fertig.

»Guten Morgen, Frau Rade! Aber heute heißt es mit dem Dichter: »Kaum gegrüßt – gemieden! denn in einigen Stunden bin ich von neuem auf der Fahrt – ins Ruhrgebiet.«

Nachdem sie in seinem Zimmer Platz genommen hatten, berichtete er, um was es sich handle. Er vermied aber, von Bellings und Herrn Lamettrie zu plaudern, weil das ins Uferlose geführt hätte.

Als er mit einem Frühstück von Setzei und Schinken die Lebensgeister erfrischt hatte, ging das Murren der Alten über die Franzosen los, die nach ihrer Meinung nun auch eine schikanöse Neugier nach den Personalien der Familie Burger zeigten.

Helmut forschte tastend: »Hören Sie mal, Frau Rade, Sie waren ja die Vertraute meiner Großmutter – wenigstens wissen Sie manches aus ihren Jugendjahren; nun erzählen Sie mal aus der Zeit um 1872 herum, als wir dem Franzmann über waren.«

Frau Rade schlug die Hände zusammen: »Mein Gott! Was so weit zurückliegt, wollen die Franzosen auch noch durchschnüffeln! Sie soll doch nicht etwa eine Spionin gewesen sein?«

»Das nicht! aber Schauspielerin

Frau Rade starrte sprachlos: »Sind denn die Kerls verrückt? Großmutter Erlenbach Schauspielerin? Na, da hört doch die Weltgeschichte auf!«

»Das meine ich auch. Aber nun helfen Sie mir, leihen Sie mir Photographien und Geschriebenes – alles, was aus jener Zeit noch in Ihren Händen ist.«

»In meinen Händen ist nur, was ich Ihnen schon gezeigt habe.«

»Dann teilen Sie mir wenigstens alles mit, was Großmutter Ihnen aus ihren jungen Jahren erzählt hat, etwa wie sie zwanzig war. Sie wissen – jene Liebschaft mit dem – na! Sie erraten, was ich meine – Mutter ist ihr uneheliches Kind – und wer war der Vater?«

Frau Rade schwieg verlegen, und dabei blieb es. Von Mitgefühl schien sie bewegt, als sie sah, daß Helmut blaß geworden war. Seine Hand ergreifend, meinte sie treuherzig: »Helmut, das tut mir leid, helfen kann ich Ihnen nicht. Wer der Vater war, und weshalb er ihre Großmutter verlassen hat, ist zwischen uns nie zur Sprache gekommen. Nicht einmal Ihre Mutter hat darüber Klarheit bekommen. Nur ihr Bruder, der Forstmeister, könnte vielleicht etliche Aufklärung geben. Allerdings war er damals erst dreizehnjährig, und in diesem Alter konnte er über dergleichen Dinge nichts genaues erfahren, auch wohl solche Schicksale nicht verstehen. Er war immer stolz auf seine Schwester, die nicht nur ihr eigenes Kind, sondern auch ihn, den jüngeren Bruder, zu tüchtigen Menschen erzogen hat.«

Ein Bild aus Großmutters jungen Jahren besaß Frau Rade nicht, und so nahm Helmut an Briefen, Urkunden und Bildern nur mit, was in seinem eigenen Besitz war.

Schon am Vormittage konnte er zurückreisen. Daß der Zug Verzögerung hatte, besonders im besetzten Gebiet, war für Helmut eine Geduldsfolter.

Bei der Ueberfahrt über die Weser gelang es ihm, sich lebhaft einer Dampferpartie auf diesem schönen Strome zu erinnern. Als aufgeschossener Gymnasiast hatte er sie von Münden aus mit Großmutter und ihrem Bruder erlebt. Dieser ihr Zögling, um den sie sich wie um ihr Kind gesorgt und geplagt hatte, war damals schon ein stattlicher Förster. Man war in Kloster Corvei ausgestiegen. Wie der Onkel Förster auseinandersetzte, hatten hier Benediktiner-Mönche aus Corbi im karolingischen Frankenreich einen Ableger ihres Ordens gepflanzt.

In der alten Klosterkirche bestaunte man zwei riesige Engel, die mit ihren Fittichen den Altar schirmten. Der Förster berichtete dazu:

»Diese gewaltigen Werke altdeutscher Klosterkunst sind aus ein paar heiligen Eichen geschnitten. Jede der beiden Engelsgestalten samt den Flügeln aus einem der heiligen Bäume in einem Stück gearbeitet. Nun – die Glaubensmeinungen, sie ändern sich – das Bedürfnis, ein Heiliges zu verehren, bleibt. Einst nannte man's Baldur und heute betet man zu Christus, in dem dieser alte Heidengott verklärt aufging. So kann es auch geschehen, daß Menschen, die als Wildlinge, abseits von Regel und Norm, rein naturhaft im Walde keimten, wohl gar zu rechtschaffenen Engeln gedeihen.« Er sagte das mit Humor und eigentümlich bedeutsam. Fest und voll blickte er dabei seiner Schwester ins Auge, und sie, die sich ihre stolze Jugendlichkeit bewahrt hatte, blickte mit leuchtenden Augen auf den riesenhaften Bruder – wie ein Erzengel auf den andern.


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