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43. Forstmeister Erlenbach

Nach dieser feierlichen Stunde mußte Hulda wieder ihr Aufmerken auf das bevorstehende Fest lenken.

Unverrichteter Sache kamen Gerhart und Erlenbach zurück. Frau Rade war noch nicht angekommen, statt ihrer ein Telegramm: »Ankunft nachmittags gegen fünf Uhr. Rade.«

»Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe!« hörte man eine dröhnende Baßstimme sagen. Und vor Hulda und Helmut stand ein Riese mit ergrauendem Vollbart, blauen Augen und blitzblanker Walduniform. Lächelnd schlang er die Arme um Helmut, seinen Großneffen: »Junge, der Krieg behielt Dich also nicht! Aber ich bin vom Schicksal arg mitgenommen! daß mich meine Frau so frühe verlassen hat, kann ich nie verwinden. Sie war doch noch in den besten Jahren«; und die Augen wurden ihm feucht, leise fügte er hinzu: »Da gedachte man's recht zu machen, in dem schönen Tübingen; aber die treue Alte fehlt einem an allen Ecken und Enden. Und dann ach, der Junge ist gefallen! Wüßte man wenigstens, wo er begraben ist! Ach Gott! Und Lustnau, Schwärzloch, die schöne Universitäts-Bibliothek! Was nützt das alles, wenn man vereinsamt ist, ohne irgend eine Seele?«

»Glaub's schon, guter Großonkel, glaub es! Doch was hilft das Jammern! Ergib Dich drein!«

»Was es hilft! Wohl hilft es! Erleichtern tut's das Herz. Ich sage Dir: Wenn ich nur von ihnen reden kann, von meinen lieben Toten, dann ist mir schon leichter. Doch in Tübingen hab' ich keinen, dem ich mein Herz ausschütten könnte.«

»Na, Großonkelchen, dann versprech ich Dir, reichlich von Wilhelm zu reden. Und auch von Deinem Amerikaner! Sollst sehen, nächstens kommt er wieder nach Deutschland! Newyork ist doch nichts für einen gemütvollen Schwaben. Nur wer Dollars zusammenscharren will, paßt dorthin. Na, wir sprechen noch darüber, wenn der Onkel zugegen ist ...«

»Der Onkel? Welcher Onkel?«

»Ja weißt Du denn gar nicht –?«

»Ich? Was denn? Was für ein Onkel?«

» Wahlonkel – so nennen sie ihn. Warum sollen sich Wahlverwandte nicht auch Onkel oder dergleichen nennen dürfen?«

»Immerzu!« brummte der Großonkel.

In diesem Moment erschien Onkel Lamettrie, und die beiden langen Kerle standen einander wortlos gegenüber.

Lamettries Lippen zuckten, als bewege ihn Rührung. Der Gesichtsausdruck des Forstmeisters hatte eine Regung von Mißtrauen: »Es ist – sehr lange her – seit wir zwei uns gesehen haben.«

Lamettrie hatte ein unterdrücktes Aufschluchzen; dann bot er dem Forstmeister seine Hand, die dieser kühl nahm, indem er dem Manne fest ins Auge sah.

»Also wir sollen sozusagen – Verwandte werden?« grunzte der Forstmeister.

»All right!« lautete die bescheidene Antwort.

»Und sind schon einmal recht nah beisammen gestanden«, knurrte der Grünrock.

»Könnte uns nicht das Andenken an Julia ...« stammelte Lamettrie – »könnte das uns nicht neu zusammenfügen?«

Der Förster hatte einen erstaunt vorwurfsvollen Blick und knurrte: »An Julia? steckt Ihnen diese Rolle immer noch im Kopf?«

Lamettrie antwortete: »Das ist doch meine letzte und einzige Erinnerung an sie.«

»So versuchen wir also!« sagte Erlenbach – »uns in gemeinsamen Erinnerungen zu verständigen!« Und er reichte ihm die Hand.

Helmut beobachtete, wie die beiden sich bemühten, und fühlte einen Stein von seinem Herzen weichen. Der gefährliche Moment schien vorüber zu sein.

»Nun, guter Großonkel«, so versuchte er einen harmlosen Ton anzuschlagen – »was macht der Wald? Wirst ihm doch nicht untreu?«

»Nein! morgens um acht geht's jetzt nach Bebenhausen, wo sie den guten König von Württemberg kalt gestellt haben ... Dann sehe ich den hohen Herrn manchmal und bespreche mit ihm einiges über Wald, Wildstand und die immer mehr einreißende Wilddieberei. Zuweilen begebe ich mich nach Kirchentellinsfurt zu meinem alten Freund, dem gelähmten Förster Fink.« Es traf sich gut, daß jetzt Frau Belling erschien. Sie brachte die Unterhaltung über das Stocken hinweg, und den Forstmeister fesselte ihre Erscheinung. Sofort bildeten sich zwei Gruppen, die sich getrennt hielten.

Auf einmal erhob sich Lamettrie mit entschlossener Miene:

»Nein, Mister Erlenbach, ich kann diesen Zustand nicht ertragen. Wir müssen uns weiter aussprechen. Sie können mich unmöglich verstehen, ehe Sie nicht Einblick in mein Leben haben. Man muß begreifen, wie unsereins zu dem geworden ist, worüber man ihm grollt.« Und er fuhr fort: »Jedenfalls soll man wissen, daß meine Erziehung an vielem Schuld hat, Aber jetzt, Helmut, Du bist Zeuge, bemühe ich mich ernstlich um ein Wiedergutmachen.«

»Das ist wahr« – entgegnete Helmut –, »begreiflich ist aber auch, daß der Großonkel nicht plötzlich alles vergessen kann, was sich in einem halben Jahrhundert an Mißtrauen und Groll angesammelt hat.«

Fühlte Forstmeister Erlenbach sich schon durch Helmuts Worte einigermaßen beschwichtigt, so wirkte Frau Bellings Dazwischenkommen noch mehr beruhigend. Aus seinem düsteren Gesicht schien auf einmal Sonne hervorzubrechen, und freundlich leuchteten die blauen Augen: »Unter solchen Umständen muß man freilich zu verstehen suchen. Und ich selber habe mir ja auch ein gewisses Verständnis abgerungen. Gern bekenne ich: Herr Lamettrie hat etliche Entschuldigung. Lassen wir's also gut sein!« Und er ergriff des Onkels Hand: »Bin ich als deutscher Bär aufgetreten, so suchen Sie auch mich zu verstehen!«

Nun schüttelten sich die beiden Alten kräftig die Hand, und die anfängliche Verlegenheit schien beiderseits gewichen.

Frau Belling, die beiden Alten beobachtend, nickte ermunternd dem Forstmeister zu. »Nicht wahr, Erlenbach, in Ihrem Walde finden Sie sich leichter zurecht, als in einer verwickelten Familiengeschichte.«

Der Angeredete begab sich lächelnd an Frau Bellings Seite: »Unsereins kommt eben von seinen Waldmanieren nicht ganz los, und in einer solchen Industriegegend, namentlich auch noch mit einem Amerikaner, muß man erst ein bischen heimisch werden.«

Onkel Lamettrie, der genau auf das Gespräch geachtet hatte, mischte sich zaghaft drein: »Auch mir ist der Wald keine ganz fremde Welt, und lange Zeit lebte ich sogar ganz in der Wildnis bei Büffeln und Wildpferden. Aber Forstkultur, die haben Sie uns voraus. Erst seit wenigen Jahren wird sie auch in den Vereinigten Staaten betrieben. Gern möcht' ich die deutschen Wälder kennen lernen.«

»Das wäre schön«, sagte Frau Belling – »da möcht' ich auch dabei sein. Der deutsche Wald verbindet deutsche Herzen.«

»Ja wohl, das soll er tun!« sagte Lamettrie bescheiden. »Könnten wir nicht einmal alle zusammen deutsches Waldrevier durchstreifen? Das junge Paar kann vielleicht seine Hochzeitsreise damit verbinden.«

Da fügte Helmut freudig hinzu:

»Es steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Vom rechten Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward's unaussprechlich klar.«

»Nicht wahr, Onkel Lamettrie, Du gehörst noch zu uns Deutschen?«

»Natürlich!« entgegnete der Gefragte – »mein Herz ist deutsch geblieben, und es wäre mir eine Freude, deutsche Gebirgswälder zu besuchen. Das Riesengebirge zum Beispiel kenne ich noch gar nicht.«

»Gut!« sagte der Forstmeister – »da könnten wir vielleicht zusammen gehen. Denn ich muß bald dorthin reisen. Mein Schwiegersohn ist im Riesengebirge Förster, nur ein einfacher Unterförster, aber ein sehr wackerer Mann. Die Familie ist mir ans Herz gewachsen, besonders mein achtjähriger Enkel. Nun hab ich Sehnsucht, sie alle einmal wiederzusehen.«

»In Ihrer Gesellschaft diese Gegend zu besuchen, das wäre mir eine große Freude,« sagte Lamettrie und setzte hinzu: »Nicht wahr, Freund Erlenbach, Sie erlauben doch, daß von jetzt ab auch zwischen uns das traute Du waltet?«

»Gewiß! ich bin gern einverstanden! Du bist ja eigentlich mein Schwager!«

»Ach ja, Schwager!« sagte Lamettrie – »Julia soll es sein, die in Zukunft zwischen uns waltet, und in Treue uns zusammenschließt!« Und gerührt schüttelten die beiden Männer sich die Hände.


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