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5. Wahlverwandte

Als sie wieder am Direktionsgebäude waren, wo das Auto bereitstand, kam der Portier mit einem Brief: »Herr Direktor Linde hat mir aufgetragen, Herrn Doktor Helmut Burger diesen Brief einzuhändigen, er sei soeben mit der Post gekommen.«

Nordamerikanische Marken waren auf der Hülle, und erfreut sagte Helmut: »Ein dicker Brief! Von meinem Vetter, der nach Newyork ausgewandert ist.«

»Im Auto kannst Du ja lesen. Bitte, steig ein!«

Helmut tat es und öffnete den Brief. Während das Auto hupend losfuhr, überflog er die Zeilen und schmunzelte: »Ein Beitrag zu unserem Gespräch über Mensch im Eisen. Mein Vetter, der neugebackene Yankee, schildert hier eine Landpartie, die er mitgemacht hatte. Famos, haha!«

»Beim Onkel magst Du vorlesen, somit hätten wir einen Plauderstoff.«

Den Brief einsteckend, wandte Helmut seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu, durch die das Auto raste. Das Gebiet der Fabriken hatte hier aufgehört, es gab Handelsgärtnereien mit Salatbeeten, gab Einfamilienhäuschen mit Laube, gab sogar ein Kleefeld, wo Ziegen weideten.

»Helmut?« fragte Gerhart mit einem Seitenblick, der etwas Spähendes hatte, »was ist das für ein Vetter? der da in Newyork. Ist er mit Deiner Mutter blutsverwandt?«

Helmut stutzte: »Blutsverwandt? Ein Erlenbach ist es! Also blutsverwandt! Er ist der zweite Sohn des Forstmeisters. Was veranlaßt Dich zu der Frage?«

»Veranlaßt? Hm! wie soll ich sagen? Ein ungewöhnliches Interesse für Deine Herkunft.«

»Was möchtest Du denn wissen?«

»Näheres über Deine Mutter und besonders über den Vater Deiner Mutter! Kennt man ihn überhaupt?«

»Ueber den hat meine Mutter geschwiegen

»Und nichts ist Euch zu Ohren gekommen?«

»Meine Verwandten wünschen nicht, daß über diese Dinge geredet wird – und bekannt ist Dir ja schon, daß meine Mutter uneheliches Kind war.«

»Auch daß Deine Großmutter ihre Mutterschaft mit Tapferkeit ertragen und ihre Tochter treu bei sich erzogen hat, bis diese in Deinem Vater den Gatten fand.«

»Würdest Du mir den Gefallen tun, schon in den nächsten Tagen nach Berlin zu reisen, um Deine Familien-Urkunden herzuschaffen?«

»Weshalb hast Du sie nicht schon in Berlin verlangt? Was ist denn plötzlich los? Hat Dich meines Vetters Brief aus New« York etwa eine Dollar-Erbschaft entdecken lassen?«

Das Auto fuhr nun mit verminderter Geschwindigkeit, weil die Straße ein ansteigendes Gelände schräg durchschnitt. Gebüsch und Wald krönte die Hügelkette.

»Ich schlage vor, Helmut, daß wir Halt machen. Wir kommen sonst zu früh zum Onkel. Chauffeur! Halten Sie ein Viertelstündchen! Wir steigen aus.«

So geschah es, und die Freunde gingen einen Feldrain entlang zu einer Gruppe alter Ulmen, wo eine Bank war, auf der sie Platz nahmen. Man sah die weite Ebene, durch die fern der Rhein floß. Saatfelder und Viehweiden, Dörfer und Industriewerke.

»Jetzt mal ohne geheimnisvolles Getue, Gerhart! Kann der Brief meines Vetters aus Newyork wirklich eine Bedeutung für mein Schicksal haben?«

»Jedenfalls gab er den Anlaß, daß ich soeben von Dir erfahren habe, daß außer Dir und dem Forstmeister noch ein Blutsverwandter Deiner Großmutter Erlenbach lebt.«

Helmut lächelte befremdet: »Das sieht beinahe aus, als sei für uns aus Verschollenheit ein Erbonkel aufgetaucht. Indessen – was mich betrifft, so Hab' ich überhaupt keinen Onkel.«

»Nun, der Erbonkel braucht nicht gerade Dein Onkel zu sein. Meine Kusine Hulda hat ja auch einen sogenannten Onkel, der kein richtiger Onkel ist.«

Helmut blickte überrascht: »Herr Lamettrie ist kein leiblicher Onkel von Euch?«

»Hulda ist bloß seine Wahlnichte. Im Grunde freilich ist das Wort »Bloß« hier nicht am Platze. Wahlverwandte nämlich stehen einander näher als Oualverwandte.«

»Hm!« schmunzelte Helmut – »aber wie denn ist hier das Wählen zustande gekommen?«

»Du sollst genau Bescheid erhalten. Kurz vor Ausbruch des Krieges weilte meine Tante Belling – sie ist die Schwester meiner Mutter – mit Hulda in Wiesbaden, und da hat sich ein Kurgast, eben der alte Herr Lamettrie, in das Mädel sozusagen väterlich vergafft. Er behauptete, Hulda habe im ganzen Wesen eine Aehnlichkeit mit einem Mädchen aus seiner Jugendzeit. Weil er seine Jugendliebe nie und nimmer vergessen könne, habe er gewagt, sich den Damen Belling vorzustellen und bitte aus bewegtem Herzen, ihm ein schlichtes Geplauder zu gewähren. Natürlich waren Huldchen und Tante zunächst betroffen. Ein Irrsinniger, glaubten sie, wolle sich an sie hängen. Allmählich aber erkannten sie, der alte Herr sei eine feine Persönlichkeit, nur daß ihn eine fixe Idee beherrsche. War ihnen der Aufenthalt in Wiesbaden bis dahin einförmig gewesen, so ließen sie sich nun durch ihn in angenehmster Weise zerstreuen. Man besuchte Konzerte und Theater, machte Autofahrten den Rhein entlang, verplauderte laue Abende in lauschigen Gärten und war bezaubert von Lamettries romantischen Lebenserinnerungen. Kein Wunder, daß die Damen, als ihre Reisezeit zu Ende ging, nichts dagegen hatten, Lamettries Besuch zu empfangen. Das Landgütchen, wo sie hausten, – Du wirst es gleich kennen lernen – war ihnen seit dem Tode meines Onkels Belling etwas einsam. Tante Belling war nahe daran gewesen, es mit einem Besitz in Bonn zu tauschen, aber Hulda, von diesem Plan bestürzt, gestand weinend, sie sei heimlich verlobt, mit einem Ingenieur meines Vaters – und möchte nicht fort. Natürlich wurde ihr Wunsch erfüllt und ...«

Betroffen stammelte Helmut: »Das hast Du mir bisher – verschwiegen.«

Prüfend sah Gerhart dem Freund ins Auge: »Verschwiegen?«

»Daß sie – verlobt ist.«

»Sie war es. Höre nur! Der Krieg brach aus. Huldas Verlobter ergriff den Degen und – fiel in Flandern.« Helmut schwieg. Sein Mitgefühl war treuherzig.

Gerhart fuhr fort: »Er war ein prächtiger Mensch, ihrer wert.«

Nach erneutem Schweigen wurde Helmut unruhig und meinte mit verhaltener Stimme: »Also dieser – Wahl-Onkel hat es fertig gebracht, sich einzunisten bei ... Wie denn aber?«

»Eingenistet hat er sich nicht. Lamettrie kann leidenschaftlich auf ein Ziel losgehen, seinen Takt verliert er nie. Obwohl er den Maschinenmenschen herauskehren möchte und sich manchmal als Menschen feind gebärdet, hegt er in seiner verschütteten Tiefe ein zartes Gemüt und rührt uns durch seine kindliche Hilfsbedürftigkeit. Besonders wenn er die Maske des l'homme machine verliert und mal die ursprüngliche Persönlichkeit zeigt. Er nennt sich dann Möller, und, wie ich vermute, ist das sein wahrer Name. Freilich, seine Verstecktheit bringt einen auf den Gedanken, er fürchte die Entdeckung einer Schuld – ich möchte fast sagen: eines Verbrechens.«

Bestürzt blickte Helmut auf: »Eines Verbrechens? Nicht doch!«

»Dergleichen ist dem Onkel allerdings nicht zuzutrauen, einer gemeinen Handlungsweise ist er unfähig. Doch wer in jungen Jahren ... patscht durch den Schlamm dieses Lebens, ohne sich Spritzer von Schuld zuzuziehen? ... Ja, und Hulda – Du kannst Dir denken, daß sie niedergeschmettert war von der flandrischen Hiobspost. Nun aber weiter. Lamettrie erschien nach Beendigung des Krieges wieder und als er fragte, wie Hulda den Schicksalsschlag trage, antwortete mein Vater: »Sie will als Schwester den Verwundeten dienen. Als im Verlauf des Gesprächs meine Mutter äußerte, Hulda beklage, daß ihr gefallener Held in fremder Erde liege, erbot sich Lamettrie, den Leichnam herzuschaffen. Hulda hatte noch den Trost, die Bestattung ihres Verlobten auf dem Friedhof des nahen Dorfes zu erleben, dann trat sie ihren Lazarettdienst in Belgien an. Der Amerikaner, der voraussah, daß seine Nation in den Krieg eintreten werde, siedelte einstweilen nach Norwegen über, in die Einsamkeit der Lofoten. Bei einer Berliner Bank hatte er für Hulda einen beträchtlichen Vorrat von Devisen angelegt, dann kaufte er Ländereien, die an Bellings Besitz angrenzen. Also gut! Du weißt nun Bescheid. Fahren wir nun zum Onkel Sonderling! Aber – vergiß nicht, was ich Dir eingeschärft habe, daß Du schweigst über jenen Theologen. – Auch das ist noch zu beachten: wenn Du aus dem Briefe Deines Vetters vorliest, sprich den Namen Erlenbach – nicht aus, sage lieber, der Vetter heiße anders ... Verstanden? – Hölderlin hat recht, wenn er unser Menschenlos mit Wasser vergleicht, das blindlings von Klippe zu Klippe stürzt. Und doch – aus solchem Tosen hör ich manchmal ein Liedle von Mörike heraus, daß der Mensch mit Humor manches wenden könne, sei's auch nur, indem er selber seinen Kopf wendet:

Es schlägt die Nachtigall
Am Wasserfall;
Und ein Vogel ebenfalls,
Der schreibt sich Wendehals.«

Versunken hörte Helmut zu, den Arm über die Lehne der Bank gelegt. Jenseits der qualmigen Industriestädte wand sich der grüne Strom durch sprießende Ackerflächen. Die Dünste darüber bildeten jenen grau und weißen Gipfel, den man Gewitterkopf nennt. Schwül war die Luft, und bedrückt fühlte sich Helmut von einem Verhängnis, das ihm nahezurücken schien. Von hinten aus dem Wald gellte das Gelächter eines Spechtes.


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