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3. Gespaltenes Ich

Lamettrie sann zerstreut und unruhig. Er fühlte den Trieb, die abgebrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen: »Was Sie erwähnen, Herr Burger, veranlaßt mich zu einer Frage. Vorhin wiesen Sie auf pathologische Fälle hin, die Psychiatrie kenne seltsame Spaltungen des Ich-Bewußtseins. Was für Fälle schweben Ihnen dabei vor? Können Sie Beispiele anführen?«

»Gewiß, Herr Lamettrie!« erwiderte Burger freundlich – »die Wissenschaft vom Seelenleben hat darüber beträchtliches Material. Was der Mensch sein Ich nennt, ist kein geschlossenes Ding, auch keine isolierbare Seele, sondern gewissermaßen eine Funktion des Alls, und zwar eine solche, die sich aus immer wiederkehrenden Beziehungen des eigenen Lebens bildet. Insbesondere hängt unser Ich zusammen mit dem täglichen Erleben unseres Körpers und unserer engeren Welt, sowie mit der Konstanz unserer Erinnerungen und Interessen. Ich bin Ich, insofern ich dasselbe erlebe. Das geben Sie zu? Gut! Wenn nun aber Störungen erfolgen, in den Erinnerungen wie in den Interessen eines Menschen, kann es vorkommen, daß er sich nicht mehr genau am Vergangenen orientiert, und ihm der Zweifel auftaucht: Bin ich dieser? oder bin ich ein Anderer? Auf solche Weise bilden sich in seinem Bewußtsein zwei Knotenpunkte, oft recht extreme. Nicht gerade auf eine grobe Störung des Geistes läßt solcher Ich-Dualismus schließen. In jeder Persönlichkeit walten eben jene zwei Pole: das enge, niedere, vom Körperlichen beherrschte Ich, der Mensch als bornierter Egoist, andrerseits aber das bessere Selbst, der vergeistigte, mitfühlende, dem All hingegebene Mensch.«

Geweiteten Auges hatte Hulda diesen Darlegungen gelauscht. Dann meinte sie schüchtern: »Darf ich eine Zwischenbemerkung machen? Meint nicht der Apostel dasselbe, wenn er von einem Gesetz in unseren Gliedern spricht, das dem Gesetz in unserem Geiste widerstreite? Und was Sie, Herr Doktor, das bessere Selbst nennen, ist es nicht jene menschliche Gemütsart, die ins Unendliche gesteigert, unseren sogenannten Gotteskeim ausmacht und den himmlischen Menschen?«

In strahlender Herzlichkeit nickte Helmut: »Gewiß, es führt zu dem, was Paulus den inneren Christus nennt. Zu dem, was der Bergprediger meint, wenn er spricht: Ich und der Vater sind Eins. Zu dem, was jeder wahre Mystiker als seliges Einswerden seines Ich mit dem Unendlichen empfindet; und was der Schlichteste aus dem Volke erleben kann, in seiner Hingabe an das Wohl anderer Geschöpfe, in seiner Güte und Begeisterung ... Wo solch allhaftes Erleben erwacht, da erstrahlt, was ich für den einen Pol seiner Persönlichkeit, für sein All-Ich halte. Die alten Römer nannten dies höhere Selbst des Menschen seinen Genius; Sokrates meint dasselbe, wenn er behauptet, in allen wesentlichen Entscheidungen leite ihn sein persönlicher Dämon, und das sei in jedem Menschen sein göttlicher Ursprung und seine ewige Bestimmung ...«

»Göttlicher Ursprung? Ewige Bestimmung?« sagte Lamettrie spöttisch, »hm! Bitte, ein Beispiel dafür!« Burger versetzte schlagfertig: »Franz von Assisi! Er war ein junger Lebemann; aber eine Sehnsucht seines bis dahin unbefriedigten Lebens bestimmte ihn, sich auf einmal von Grund aus zu bekehren zu dem, was Christus vom reichen Jüngling verlangt: Verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen! Ein erschütterndes, ein weltbewegendes Bild, wie Franziskus in der Auseinandersetzung mit seinem geld- und adelsstolzen Vater sich radikal von ihm und seinem alten Leben lossagt, indem er alle irdische Habe von sich weist – nackt, wie er aus Schöpfers Hand hervorgegangen, möchte er nunmehr einzig nach dem Willen dieses himmlischen Vaters leben – in Liebe zu allen bedürftigen Mitgeschöpfen.«

Hulda war entzückt: »Ach ja, Franz von Assisi! der ist ein Heiliger! Und nicht wahr, Onkel? mit dem sind wir von Herzen einverstanden, obwohl unser Vollbringen noch allzu schwächlich ist ... Ach, Herr Burger, die Liebe zu den Armen und zu aller Kreatur, sogar zu Raubtieren, wie Wolf und Falke, sein zärtliches Naturgefühl macht diesen Heiligen zu einem Evangelisten, der himmelhoch emporragt über manche Kirchenchristen ... Aber ich freue mich, hier noch ein Wort zu Gunsten meines Onkels Lamettrie anknüpfen zu können. So mechanisch, wie er sich hier gibt, ist er durchaus nicht immer, sondern er hat sich, wenn auch verstohlen, sein Kindergemüt bewahrt ... na, Sie werden ja hoffentlich selber sehen ...«

Lamettrie lächelte mit Behagen: »Der Maschinen-Mensch ist also kein Ungeheuer, und wenn Sie ihn demnächst besuchen, lieber Burger, werden Sie allerdings nicht bloß einen Meister im Berechnen finden, sondern zugleich einen Kindskopf, der mit ein paar guten Viechern herumdalbert. Gut also, die Zweiseelenschaft ist, wie bei allen Menschen, so auch bei mir zu finden ... Aber wir haben bisher vorwiegend den einen Pol ins Auge gefaßt, das sogenannte bessere Selbst. Wie aber steht es mit jenem anderen Pol, der nach Ihrer Theorie, Herr Burger, infolge einer Spaltung des Ich-Bewußtseins als gesonderte Persönlichkeit auftreten kann? Auch für diese Erscheinung, die Sie als etwas Krankhaftes betrachten, hätt' ich gern historische Belege.«

»Momentan kann ich nur ein paar Fälle anführen. Ein gebildeter Mann gesetzten Alters, zwar kein Familienvater, sondern einsamer Junggeselle, immerhin ein geachteter Staatsbeamter, Kanzleisekretär in Berlin, hatte die geheime Sucht, neben seinem normalen Leben, das ihm wohl zu langweilig war, noch ein zweites zu führen: Verkleidet besuchte er Nachtspelunken und drehte mit Kumpanen manch deftes Ding als Einbrecher, als Geldschrank-Knacker.«

»Auch mir ist der Fall bekannt« – sagte Gerhart – »dabei kommt noch in Betracht, daß der Mann seine Einbrüche nicht etwa aus Habgier verübte, sondern geradezu aus Liebhaberei. Seine Spießgesellen haben das ausgesagt, und seltsamerweise haben sie zuvor keine Ahnung gehabt, daß er ein Doppel-Leben führe.«

»Die Motive dazu« – fuhr Doktor Burger fort – »liegen nicht immer in sportlicher Richtung, sondern zuweilen in aparten Lebensverhältnissen oder abenteuerlichen Schicksalen. Ein katholischer Student der Theologie, der also auf Ehelosigkeit gefaßt war, hatte die Sucht, in Badeorten ein zweites Leben zu führen, unter der Maske eines flotten Ausländers – verdrehte er einem jungen Mädchen den Kopf und ...«

In plötzlicher Unruhe erhob sich Gerhart: »Wir sind gleich am Ziel! Wo bleibt Friedrich? wir müssen ja aussteigen!«

Hulda stutzte: »Wieso denn? so eilig ist es doch nicht! erst in einer Viertelstunde sind wir da.«

»Wenn auch!« entgegnete Gerhart nervös und machte nicht Miene, wieder Platz zu nehmen.

»Was ist denn?« fragte Hulda befremdet – » setz Dich doch! Friedrich wird schon kommen, wenn's so weit ist.«

Lamettrie starrte düster vor sich hin, seine Gesichtsfarbe war besonders fahl. Jetzt wandle er den Kopf zum Fenster, und diesen Moment benutzte Gerhart, um seinem Freunde zuzuraunen: »Nichts weiter von dem Fall!«

Als sei ihm das Getuschel aufgefallen, drehte sich Lamettrie wieder herum: »Wir haben ja noch genug Zeit, Kinder, trinket den Sekt aus! und Sie, Herr Burger, besuchen Sie mich recht bald, damit wir das Gespräch fortsetzen können. Für heute erlauben Sie mir noch die Frage: »Was Sie da erzählt haben – das von dem angehenden Geistlichen« ... Lamettrie zögerte und blickte durchbohrend, fuhr aber mit bitterem Lächeln fort: »haben Sie das aus einem Buche

Den Freund mit einem Blicke streifend, sah Burger, wie dieser hastig mit dem Kopfe schüttelte. Dazu passend lautete die Antwort: »In einem Buche steht das nicht.«

»Also wohl in einer Zeitung

»Auch das nicht! Es ist eine Familiengeschichte – nur Wenigen bekannt.«

»Ach so!« sagte der Greis und hatte wieder seinen forschenden Blick.

Gerhart, der auf einmal beruhigt schien, lächelte sacht, als er die Gläser füllte: »Na, prosit, Helmut!«

Während der Zug zu bremsen begann, erschien der Diener Friedrich an der Kupeetüre und meldete: »Wir sind da, Herr Baron.«

»Gut!« nickte Lamettrie – »Bezahlen Sie den Kellner und seien Sie hier, wenn wir einfahren!«

»Also, lieber Herr Burger, stoßen wir noch einmal an! Prosit tibi, Piccolomini! und auch Euer Wohl trink ich, Hulda und Gerhart! Du, Neffe, hast Dir ja einen rechten Pfiffikus zum Freund erlesen. Ich ahne schon, der kriegt mich schließlich doch noch rum. – Euch zwei hat er schon.« Seinen Rest trank der Greis und warf das Sektglas zum halbgeöffneten Fenster hinaus, so daß es klirrte.

»Wieder den jungen Leuten zugewandt, die sich zum Aussteigen bereit machten, fügte er vergnügt hinzu: »Das war ein famoser Abschluß meiner Reise. Und jetzt keine Umstände! Scheiden wir! Auf Wiedersehen!« Und er schüttelte den jungen Männern die Hand. Diese bedankten sich bei ihm und bei Fräulein Hulda, ergriffen ihre Handkoffer und verließen das Kupee. »Auf Wiedersehen!« winkte man sich zu – dann gingen die Freunde durch die Sperre.

»Was war denn eigentlich?« wandte sich Helmut an Gerhart – »wieso war meine Geschichte von dem Geistlichen geeignet, Deinen Onkel aufzuregen?«

»Darüber später mal!« antwortete Gerhart. »Laß Dich nie darauf ein, dieses Thema zu behandeln! Wenn der Onkel darnach fragen sollte, mußt Du Dich irgendwie herausreden. Ist die rechte Zeit dazu gekommen, werde ich Dich schon aufklären ... Dies hier ist unser Auto – steigen wir ein!«


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