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54. Am Kochelfall

Die Erlebnisse im Riesengebirge bilden ein zusammenhängendes Schicksal und den Abschluß der Geschichte vom Maschinenmenschen, indem ihm die Einsicht aufging, daß sein Leben in der Richtung des Ewigen aufsteigen kann. Die einzelnen Ich-Gestalten bilden einen seelischen Gesamt-Organismus und haben eine Ueberseele, aus der die Einzelschicksale folgerichtig hervorquellen, wie an der Welten-Esche Blätter und Zweige, Blüten und Früchte. Daß solches Geschehen nicht nach dem Muster einer Maschine verläuft, sondern nach eigenen, höheren Gesetzen, ward unserem Möller-Lamettrie zur klaren Ueberzeugung.

Einmal las er in einem Buche, daß der große Maler Segantini durch sein letztes Gemälde sein eigenes Begräbnis gemalt habe, natürlich ohne sich dessen bewußt zu sein. Bei voller Gesundheit nahm er in einem Schweizerhause Wohnung und machte sich daran, folgendes Bild zu malen: Aus eben diesem Hause, das von Gletscherbergen umgeben ist, wird ein Sarg herausgetragen, während eine Frau in städtischer Kleidung ins Taschentuch weint, und Herren in schwarzen Gehröcken, mit gezogenem Zylinder teilnehmend herumstehen. Daß Frau Segantini nebst den leidtragenden Freunden gemeint ist, wird durch letztere bezeugt. Als der Meister dieses Bild vollendet hatte, wurde er unerwartet durch den Tod abberufen und im Sarg hinausgetragen, genau so, wie er es gemalt hatte.

»Hör mal!« sagte Lamettrie zu seinem Schwager – »wenn dem so ist, so muß dem Meister das Bild hellseherisch eingegeben sein. Was in seiner Phantasie aufloderte, kam aus jener Ueberseele, die sich der Einzelseele mitteilte.«

Da der Forstmeister nur schweigend den Kopf schüttelte, war zunächst von der Sache nicht weiter die Rede. Aufblickend zur sonnigen Baude, die am Hang des Reifträgers lag, äußerte Lamettrie versonnen: »Ein wundervoller Sonntagmorgen!«

»Nicht wahr?« meinte der Forstmeister aufleuchtenden Auges – »und mein Schwiegersohn läßt deshalb bei Dir anfragen, ob Dir ein Gang zum Kochelfall genehm sei. Ich habe nur gezögert, weil Du gerade versonnen bist und ich nicht stören möchte.«

»Oh! der Spaziergang ist durchaus keine Störung, vielmehr ist mir hier jeder Tag, jede Stunde ein Schauen, das seine Seligkeiten hat.« Hiermit machte er sich zum Ausgehen fertig.

Als nun Schellmann nebst dem kleinen Friedel kam, setzte Lamettrie sein angeschlagenes Thema in gedankenvoller Heiterkeit fort: »Oh! ich sage Euch, mein Herbst ist jetzt mein bestes Leben. Ich fühle mich reifen an der Sonne Ewigkeit.«

Schellmann lächelte: »Der Zeitlichkeit bist Du eben entronnen, uns Andre hält sie wie ein Raubvogel in den Klauen.«

»Wer wie Du seinen Knaben an der Hand einen Sonntagsgang in den Wald macht, soll nicht klagen. Aber Unsereins hat kein Kind, kein' Katz.«

Schellmann stopfte verweilend seinen Pfeifenkopf: »Nanu! Hast doch Deinen Enkel und Deine Pflegetochter, und diesem Paar wird vielleicht auch ein Kindchen beschert. – Auch Dein Mohrchen ist noch da – und, wie ich höre, hast Du einen Glücksvogel.« Wie der Pudel seinen Namen hörte, wandte er den Kopf nach seinem Herrn und hüpfte an ihm empor. Lamettrie aber sagte innig: »Oh freilich, ich will auch nicht klagen

Den Oberweg am Schwarzen Berg waren sie talab gegangen und über die tiefeingesprengte Eisenbahn auf einer Brücke geschritten. Das Gasthaus zur Sonne bot einen lieblichen Blick auf die Kuppelwölbung des Breiten Berges, vor dem in einer tiefen Waldschlucht der Zackenfluß dahinschäumte. Ein Holzsteg führte auf einem schattigen Waldweg an die einmündende Kochel, die sich in den trockenen Herbsttagen zu einem raunenden Bächlein besänftigt hatte. Großartig aber war der moosige Felsenkessel zwischen den düsteren Granitwänden, wo riesige Tannen ragten. »Das ist deutsche Romantik« – schmunzelte Lamettrie – »Poesie eines Eichendorff mit ihren lauschigen Heimlichkeiten.«

Durch Walddunkel emporsteigend, sahen sie in den stilleren Kochelbuchten die Forellen wie schwarze Stäbe stehen.

»Und da hätten wir schon die Kochel baude!« sagte Schellmann, als sie das kleine Gasthaus erreichten, unterhalb des Falles, der zwischen schroffen Waldhängen über ein Wehr etliche Mannslängen hoch in den Felsenkessel stürzt. Während sie dahinschauten, wurde das Wehr gerade geöffnet, und die gestauten Wassermassen brandeten nieder.

Der alte Forstmeister strahlte vor Behagen: »Ich lade Euch ein, in der Baude etwas Warmes zu nehmen, vielleicht Erbssuppe und Schinken, oder heiße Milch.«

Und man trat in eine geheizte Stube, wo einige Männer saßen, die man in der Dämmerung nicht genau mustern konnte; wie Arbeiter im Sonntagsrock sahen sie aus. Bis dahin lebhaft, waren sie beim Eintreten der Forstleute verstummt.

Dann machte sich ein junger Mann, der wohl angesäuselt war, bei den Musikscheiben zu schaffen, wählte aus, und es begann eine Melodie aus dem Freischütz zu klimpern. Er begleitete die Weise mit Bewegungen, die theatralisch sein sollten, aber lächerlich wirkten, dann begann er zu gröhlen: »Durch die Wä –äl –der, durch die Auen zog ich la –a –aichten Sinns dahin.«

»Holt's Maul, tummer Flägel!« brummte eine Baßstimme, und Schellmann sah nach dem Sprecher hinüber – »Anton, bring doch Deinen besoffenen Bruder heeme zu Muttern, da soll a seinen Rausch ausschlofa. Allong, fix!«

Ein anderer Bursche erhob sich und führte den Lallenden aus der Baude hinaus. Dieser setzte draußen seinen wüsten Gesang fort:

»Alles, was ich konnte schauen – war des sichern Rohrs Gewi-hi-hin.«

Jetzt erhob sich der Mann am Tisch und sprach zu den eingetretenen Herren hinüber: »Nischt für ungutt, Herr Hegemeister! Der Martin hott ze ville Stonsdorfer hinter de Binde gekippt – aus Freide, daß a aus der Strofanstalt entlassa iis.«

»So, so, Herr Maiwald!« antwortete Schellmann, stand auf und bot dem Nachbar die Hand, die dieser schüttelte – »So, Sie sind es? Wenn man hier hereinkommt, sieht man zuerst alles dunkel ... Also Ihr Sohn ist wieder frei? Freut mich, und ich wünsche alles Gute ... Hm na! Ihr Martin wird sich doch hinfort hoffentlich hüten. Das Wildern ist ne Leidenschaft, da wird man leicht rückfällig. Wenn er abermals gefaßt wird, kennt der Richter keine Milde ... Na, wollen das Beste hoffen! Da kommt ja unser Warmes, und mein Schinken mit Rührei. An die Gewehre!«

Der alte Maiwald und die zwei jungen Kerle in der dämmrigen Nische winkten der Kellnerin, kramten ihre schmutzigen Geldscheine zusammen und griffen nach ihren Mützen: »Guten Tack, Herr Hegemeister!« Und sie gingen.

Nur der alle Maiwald, ein Hühne mit tatkräftigem, doch verschmitztem Auge, hatte noch etwas auf dem Herzen: »Wenn Se, Herr Hegemeister – un Se mechten so gutt sein un legten a Wörtel für den Martin in der Josephinenhütte ein, daß a wieder als Glasbläser arbeiten kann.«

»Glasbläser? Hm! Auf die Industrie hab ich keinen Einfluß, Uebrigens ist die Bläserei für ihn nichts Passendes.«

»Oh! De Glasschleifer stehn sich dreimal so gutt, wie de Waldarbeiter!«

»Und wenn sie das Zehnfache verdienten – ich möchte meine Lunge nicht verbrauchen lassen.«

»Martin is gesund uf a Lunge«, warf Maiwald ein.

» Jetzt ist er ein kerngesunder Bursche. Aber wenn er zwanzig Jahr beim Schleifen gehockt und den Glasstaub geschluckt hat, was wird dann mit ihm sein?«

»Ich meene ju bluß« – erwiderte Maiwald, »in der Glashütte, wenn er da gutte Arbeit hat, wird a sich ne asu im Wald herumtreiba.«

»Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Was ein Kerl is, der hat kein Sitzefleisch fürs Fabrikwesen. Ab und zu, ja – immer für 'n Weilchen – da paßt ihm der gute Lohn; doch für die Dauer? Das ist nichts, Vater Maiwald! Aber als Waldarbeiter könnt' ich ihn verwenden – vorausgesetzt, daß er sich gut hält – und mir ja nicht wieder auf die Wilderei verfällt. Davon müssen Sie ihn abhalten!«

»Ach, Herr Hegemeister! Das macht de verflischte Geldentwertung! Immerfort drucken se Papiergeld – Zehntausendscheine – Hunderttausend! Eene Million! Wenn das so weiter giht, do sind alle Waldarbeiter lauter Milliardäre. Donnerwattr! Verflischt un zugenäht!« Und vor Bitterkeit spuckte der sorgenvolle Familienvater aus.

Schellmann schwieg düster. Maiwald fuhr fort: »Nähmen Se mersch ne ibel! Unsereins mechte äben ock mal Hirschfleisch im Tuppe han, un ne Flasche Stonsdorfer, statt immer blussig Müllers Körnelkaffee – ju, ju, Herr Hegemeister! Un adje!«

Als der Mann gegangen war, schwiegen die Drei lange, so daß man nur das gedämpfte Rauschen des Kochelfalls hörte und das behagliche Seufzen des Pudels, der sich untern Tisch gestreckt halte.

Dann brummte Schellmann vor sich hin: »So sind diese Leute! Da soll nu unsereins auf Ordnung halten. Sie übertreten diese Ordnung teils aus Temperament – im Suff oder um sich groß zu tun – aus ihrer kleinen Eitelkeit oder aus Neid; zumeist aber aus Verdrossenheit über ihre traurige Lage, daß sie auf keinen grünen Zweig kommen.«

Der Forstmeister löffelte seine Erbsensuppe: »Eigentlich kann ich ihnen nicht so völlig unrecht geben, und immer fiel's mir schwer, ihr Ankläger zu sein.«

Lamettrie meinte: »Zur Natur gehört auch die Wildheit – sie muß also eine heimliche Ordnung enthalten – so wie im Zufall ein Gesetz waltet.«


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