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19. Hulda

Hulda ertrug es nicht, den Onkel seiner schwermütigen Einsamkeit zu überlassen. Sie nahm ein Buch, eine Verdeutschung von Walt Whitmans »Grashalmen«, und ging durch den Garten zur »Einsiedelei«.

So nannte der Sonderling ein ehemaliges Weinberghäuschen, das bei verwilderten Weinstöcken an einer sonnigen Halde gelegen war. Um dorthin zu gelangen, mußte man ein Wäldchen von jener Kiefernart durchqueren, die Lord Weymouth nach Europa verpflanzt hat. Mit ihren Büscheln langer silbergrüner Nadeln und ihren dichten, undurchsichtigen Kronen wirken sie schwermütig, der Onkel nannte sie deshalb »Wehmutskiefern«. Sie verdeckten die Aussicht auf das Dorf, von dem an einzelnen Stellen nichts zu sehen war, so daß die Gegend hier vereinsamt schien. Nur das Weinberghäuschen mit den wimmelnden Rebstöcken und dem Blick in ein abgeschiedenes Buschtälchen hatte etwas Freundliches.

Als Hulda aus dem Kiefernwäldchen trat, schlug der schwarze Pudel an, um gleich darauf das Fräulein zu umwedeln. Der Einsame, der in einem Korbsessel gesonnen hatte, erhob sich und ging Hulda entgegen. Sein Schritt war schleppend, ganz anders, als Lamettries sonst erstaunliche Beweglichkeit. Befremdlich war es auch, daß der Onkel sein helles Seidenjacket abgelegt hatte, und einen langen, schwarzen Gehrock altmodischen Schnittes trug. Der Gesichtsausdruck, den er seiner Hulda entgegenbrachte, war von steifem Ernst, und feierlich verneigte er sich.

»Guten Abend, Onkel, ich will doch sehen, wie es Dir geht, jetzt, nachdem Du Dich beruhigt hast.«

»Beruhigt? Ach nein! das bin ich leider nicht; es foltert mich die alte Angst über etwas, das ich einst angerichtet habe – und nie wieder gutmachen kann. Sehr lang ist's her, und doch komm' ich nicht davon los.«

»Das redest Du Dir ein, lieber Onkel, Du leidest an Trübsinn.«

Düster blickte der Greis, sein Gesicht verzog sich zu hilflosem Greinen: »Du bist ein gutes Kind. Ich verdiene gar nicht, daß Du Dich meiner annimmst, Du, die Reine! Ich aber bin ein Verworfener!«

Hulda hob erschrocken die Hand. Dann führte sie den Onkel wieder zum Korbsessel. Er aber blieb aufrecht stehen und lauschte, da gerade das Aveläuten von der Dorfkirche scholl. Ein Kreuz schlug der Schwarzrock, tat einen Aufblick zum Abendstern, der überm Kiefernwäldchen zu schimmern begann, und kniete nieder. Obwohl Hulda nicht katholisch war, konnte sie es nicht über sich bringen, neben dem andächtig Versunkenen stehen zu bleiben, und kniete an seiner Seite nieder.

Diese Teilnahme war dem Sonderling so wohltuend, daß er, Tränen im Auge, Huldas Hand an die Lippen führte.

»Ach, mein Kind!« stöhnt er – »wenn Du wüßtest, wer der ist, der Dir so gerne Vater wäre! Er ist ein Unwürdiger.«

»Nicht doch!« sagte sie – »ich bin und bleibe Deine Hulda.«

Er schlug die Augen traurig zu Boden, dabei bemerkte er, daß sie ein Buch mitgebracht halte, und das machte ihn mißtrauisch.

»Nur wenn Du dazu aufgelegt bist, Onkel, will ich Dir aus Walt Whitman vorlesen.«

»Deutsche Uebersetzung?« fragte er geringschätzig.

»Nun ja, mein Englisch reicht nicht aus, vollends nicht für den eigenartigen Dichter von Newyork oder Manhattan.«

»Von Paumanok komm' ich«, zitierte der Greis – »vom langgestreckten, fischgestaltigen Eiland – so rühmt sich dieser stolze Wilde, der er ist, trotz seines germanischen Blutes. Gemeint ist natürlich Long Island ...«

»Ei!« sagte Hulda überrascht – »Du kennst ihn – und ließest mich in dem Wahne, Dir seien seine Gedichte etwas Neues. Eigentlich ist es auch selbstverständlich, daß ein Amerikaner wie Onkel Lamettrie mit Walt Whitman vertraut ist.«

Abwehrend hob er die Hand und meinte finster: » Möller bin ich – und ich wollte meine Bekanntschaft mit Whitman nur nicht merken lassen, vor ihm schäme ich mich.«

»Schämen? Wieso denn?«

Er blickte wie ratlos suchend umher: »Weil – weil bei mir alles nicht zusammenstimmt. Der reine Whitman und diese ... diese meine abscheuliche Vergangenheit.«

Hulda griff begütigend nach seiner Hand: »Sprich Dich aus, Onkel! habe Vertrauen zu mir!«

»Vertrauen? Nicht einmal zu Gott kann ich Vertrauen haben; denn ich bin ein Verworfener« – antwortete er niedergeschlagnen Auges.

»Wenn Euer Herz Euch verdammt, so ist Gott größer als Euer Herz; und wie der Himmel die Erde überwölbt, so umfaßt Gott mit seiner Barmherzigkeit alle seine Geschöpfe.«

»Ach Julia!« stöhnte er – »wenn ich aber gegen das Heiligste gefrevelt habe? Keimende Mutterliebe tötete ich, mit meiner Feigheit trieb ich Julia ins nasse Grab!«

Und scheu bekreuzte er sich.

Kalt überrieselte es Hulda, und wie eine Rettung war's, daß jetzt der Diener Friedrich, umwedelt vom Mohrchen, aus dem Kieferndunkel heraustrat: »Haben Sie einen Wunsch?«

Hulda antwortete für ihn: »Ja, bringen Sie noch einen Sessel, Tischchen und Lampe!«

Damit war dem Alten Anstoß gegeben, Haltung zu zeigen. Als Friedrich die Leselampe gebracht hatte, zog er sich wieder in das Wäldchen zurück. Traulich wirkten die angestrahlten Rebstöcke mit ihrem zarten Grün. Durch die laue Luft huschte eine Fledermaus, Syringenduft hauchte aus der Tiefe des Gartens.

Jetzt sagte Möller mit gedämpfter Schwermut: »Ja, Walt Whitman – hat mich ins tiefste Herz getroffen mit seiner Verehrung, die er dem Mütterlichen entgegenbringt. Kennst Du seinen Psalm von der Heiligkeit des Menschenlebens? Kennst Du den Ausspruch von dem Toren und dem Verführten, die ihre Leiber entweihen, indem sie die von Gott geschenkte Frucht verderben?«

Entsetzen durchzuckte Hulda – dann aber sagte sie sich: »Es kann ja nicht sein – er bildet sich so etwas nur ein – der Unselige! Ich muß versuchen, ihm die unendliche Güte nahezubringen.«

Und sie blätterte in dem Buche, tat einen Aufblick zu den Sternen, die bald von ziehendem Gewölk verdunkelt, bald wieder sichtbar wurden. Einem Sange ähnlich war ihre Stimme:

»Ein Raunen hör' ich vom Tode,
Vom Tode, er sei der Friede!
Flüstern hör ich die Nacht,
Chöre, die sanfte Hauche sind –
Schritte hör ich heranschleichen;
Es weht ein rätselhafter Odem.
Ist's Wellengekräusel auf Flüssen, die niemand sah?
Oder plätschern Tränen?
Fluten menschlicher Tränen?
Ich träume – empor zum Himmel;
Da zieht Gewölk, ziehen Wolkenmassen –
Düster rollen sie hin und schwellen schweigsam;
Sie schwimmen ineinander sacht,
Und ab und zu wird ein Stern,
Der trübe ist, als ob er traure,
Sichtbar wird er und wieder unsichtbar.
Mir aber dämmert ein Ahnen auf:
An fernen Grenzen, die kein Auge erspäht,
Wird was geboren –
Und eine Seele schwimmt hinüber,
In himmlischen Tod hinüber.«

Verträumt war der Greis und starrte auf Hulda, als sei sie jener in Wolken untergegangene und neu erstandene Stern.

Weil seine Schweigsamkeit andauerte, blätterte sie in dem Buche und fand noch ein anderes Gedicht, das sie leise las:

»Nun ein Lied, ein letztes, diesem Strand!
Oh! und Land und Leben, fahret wohl!
Abschied nehmen, Seemann, gilt's; viel wartet dein
Oft schon fuhrest du auf See, behutsam kreuzend,
Und zum Hafen kehrtest du, zum sichern Ankerseil.
Doch nun gehorche deinem liebsten und geheimsten Wunsch!
Umarme deine Freunde, laß alles wohlgeordnet,
Zum Hafen kehrst du nimmer und nie zum Ankerseil!
Wohlan zum Abschied geht's, mein Seemann,
Fahr wohl! die Fahrt ist ohne Ende – ewig!«

Noch immer schwieg der Sonderling; zu Hulda herüberstarrend, schien er aufzuwachen, erhob sich und tat auf sie einen zärtlichen Blick, als ob er jener Seemann sei und Abschied nehmen wolle.

Plötzlich hatte er eine Signalpfeife, wie Kapitäne sie anwenden, und pfiff schrill.

Aus dem Kiefernwäldchen hastete der Diener hervor und trat vor seinen Herrn. Erst reichte dieser dem Fräulein die Hand mit einem innigen Druck, indem er sie wortlos anblickte – ja nun war er jener Seemann.


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