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45. Pater Ambrosius

Während Frau Belling zur Einsiedelei ging, erschienen die beiden Freunde mit Hulda. Mit Julias Tagebuch hatten sie sich ja zurückgezogen, und waren jetzt plötzlich wiedergekommen, weil sie einen Wortwechsel gehört hatten. Sie flüsterten miteinander, während der Forstmeister und Frau Rade in Lamettries Gegenwart nicht von ihrem verdrossenen Schweigen loskamen.

Jetzt erschien Frau Belling und brachte das Bündel, dem Lamettrie sogleich einige zerlesene Schriftstücke entnahm.

»Dies hier«, begann er schlicht – »sind Briefe, die ich um die kritische Zeit von einem Freunde erhielt, dem Pater Ambrosius im Karthäuser Kloster bei Düsseldorf. Bitte, Helmut, lies vor, Du bist ja der Nächste zu der Frau, von der die Korrespondenz spricht.«

Helmut besann sich: »Ist das derselbe Pater, der vor seinem Tode Dir jene Mönchsgeißel vermachte, die dort am Treppenpfosten hängt?«

»Derselbe!«

Und nun las Helmut: »Düsseldorf, den 20. Oktober 1872. Lieber Freund Ignatius! Mit Bestürzung las ich von der Not, in die Dein Gewissen verstrickt ist. O wie wahr spricht der Heilige Paulus: Heiraten ist gut, Nichtheiraten ist besser! Unsereins stand vor der Wahl, die Welt zu überwinden als ein Priester, der seinen Beruf dadurch erweist, daß er sich einem Höheren hingibt, als dem Weibe. Du hast allerdings noch kein Priestergelübde abgelegt, und diese Tatsache berechtigt mich – im Unterschied zu Deinem Beichtvater – Dir nicht abzuraten, eine Ehe einzugehen mit Julia, wie Du sie nennst. Nein! Sondern wenn ihre Vermutung zutrifft, daß sie von Gott mit Mutterschaft gesegnet ist, dann soll das Sakrament der Ehe hier in Kraft treten ...

Unter allen Umständen aber mußt Du sie zu unserem heiligen Glauben und zu unserer Kirche bekehren. Wenn Du ihr dies mitteilst, und die Unabänderlichkeit Deiner Entscheidung betonst, wird sie zuerst widerstreben. Aber lasse nicht ab, um diese Seele zu ringen. Dein Gebet wird den Sieg davontragen über ihre protestantische Eigenwilligkeit. Der Himmel wird Dir beistehen! Dein getreuer Freund Ambrosius.«

Den Forstmeister streifte ein Blitz von Lamettries lohenden Augen, und Helmut ging zum nächsten Brief über: »Düsseldorf, den 18. November 1872. Bedauernswerter Freund! Zu der Heimsuchung, die Dich betroffen hat, spreche ich Dir mein tiefgefühltes Beileid aus. So ist diese Seele denn doch ihrer Haltlosigkeit verfallen, die Mächte der Finsternis haben gesiegt. Der gnädige Gott, der alles versteht, möge ihr Frieden geben und den Trost, den sie verdient, obwohl sie verzweifelt ist! Ihre Handlungsweise soll nicht entschuldigt werden, aber Gefühl für ihre Frauenehre hat sie getrieben. Nun bleibe Du, Ignatius, fest bei Deinem heiligen Berufe, und tröste Dich im Glauben an jenen, der selig macht. Was Deine Selbstanklagen betrifft, so sind das Aeußerungen einer wilden Leidenschaft, die sich nicht ziemt für einen Sohn unserer Kirche, geschweige denn für einen – so Gott will – künftigen Priester. Buße – nicht Hader mit Gottes Schickung ist die einzige Seelenverfassung, die Dir zum Segen gereicht. Antwort auf Deine Frage, weshalb Dich Gott in solche Abgründe der Seele stürzt, mußt Du selber finden. Kein Schicksal sucht uns heim, das uns nicht zum Segen werden kann, insofern jede Schickung zu unserer Läuterung dienen soll. Gib alle Selbstsucht auf! Nur aufs Himmlische richte Deine Seele, so allein wirst Du frei. Der Friede des Höchsten sei mit Dir! Dein getreuer Ambrosius.«

Onkel Lamettrie legte für Helmut noch einen Brief hin, den dieser vorlas: »Düsseldorf, am ersten Advent 1872. Lieber Ignatius! Arme verirrte Seele! Ich will Dir wenigstens ein Freundeswort in Deine Abgeschiedenheit senden. Nimm diese auf Dich in Demut und Geduld! Meinen Freund, den Pater Johannes lasse ich grüßen, und Dich schließe ich in mein tägliches Gebet ein. Möchten die schwarzen Dämonen bald von Dir weichen!

Die Notiz im Echo der Gegenwart, die traurige Bestätigung unserer Befürchtungen, schicke ich Dir beifolgend zurück, bitte Dich aber, nicht weiter darüber zu grübeln, sondern Deine Sorgen und Bedenken dem Herrn zu übergeben, er wird's wohl machen. Er hat es gefügt, daß Du vor einer Heirat bewahrt bliebest und also Priester werden kannst, wenn Du Buße tust und Deine Studien vollendest. Sei getrost! Dem heiligen Kreuze vertraue Dich an! Meinen Segen über Dir! Dein Ambrosius.«

»Und nun« – sprach Lamettrie mit erhobener Stimme – »richte ich die Frage an die Anwesenden, beweisen diese Briefe nicht meine aufrichtige Absicht, damals Julia zu heiraten? oder habe ich mich sophistisch selber belogen?«

Da ging ein wehes Zucken über das wetterharte Gesicht des graubärtigen Forstmeisters. Er trat vor: »Ich habe Ihnen Unrecht getan und bitte um Verzeihung. Wenn solches Mißverstehen zwei Menschen auseinander bringen kann, die doch – wie es mir vorkommt – zu einander gehören, dann ... könnte man irre werden an der Vorsehung. So nahe lag ein guter Ausgang – und ein sinnloses Verhängnis vereitelte ihn.«

Erschüttert schwiegen die Anwesenden – ihre Gedanken hatten zu ringen.

Dann ergriff Frau Rade das Wort: »Gewiß, Herr Möller ist vollauf gerechtfertigt. Ich muß aber, obwohl ich nur eine simple Frau bin, doch ein Bedenken ausdrücken. Da ich Marie Erlenbach, mit der ich nahezu vier Jahrzehnte zusammengelebt habe, genau kenne, muß ich bezweifeln, daß diese beiden für einander geschaffen waren. Wenn auch die Heirat nahe lag – darin hat der Forstmeister ganz recht – so wäre eine solche Heirat doch ein Unglück gewesen, denn Marie Erlenbach und Herr Möller – wie ich ihn jetzt vor mir sehe, hätten nicht zusammen gepaßt. Obwohl ich Herrn Möller noch nicht recht kenne, sagt mir das mein Gefühl, und das hat mich selten getäuscht. Drum hat sie ihn ja auch verschmäht.«

»Wieso verschmäht?« kam es von Lamettries bebenden Lippen.

»Ja« – lenkte Frau Rade ein – »dies Wort ist wohl zu hart. Aber ich weiß, daß sie entschlossen war, ihn nicht zu nehmen ...«

»Nicht zu nehmen?« fragte kaum hörbar der Amerikaner.

»Ja, auch Ihnen gegenüber, Herr Forstmeister, muß ich geltend machen, Sie kennen Ihre Schwester nicht ganz, nur so, wie eben ein Mann eine Frau verstehen kann. Schwaches Geschlecht nennt man uns. Nein, zu den Schwachen hat sie nie gehört, sie keineswegs. Und wenn Sie sich vergegenwärtigen, was diese ehelosen Priester, was sie ihr zutrauten, daß sie, um einen Mann zu kriegen, die Religion wechseln sollte, so wie man ein Kleid wechselt ... Nein! da hört alles auf! Sie selbst, Herr Möller, was würden Sie gesagt haben zu dem Ansinnen, Marie zuliebe sollten Sie evangelisch werden? Was einer glaubt, hat sich doch nicht nach seiner Liebe zu richten; – gewiß, Eheleute sollen im Heiligsten eins sein. Das können sie aber auch, wenn sie zu verschiedenen Konfessionen gehören, und das ist gewiß nicht das Richtige, daß Katholiken meinen, sie müßten alles zu ihrer Kirche bekehren.«

Ein beifälliges Gemurmel war das Echo dieser langen Rede, und Helmut nahm jetzt das Wort: »Nichts ist so verfehlt, als die Meinung, die Wahrheit lasse sich nur in einer Form ausdrücken. Sie ist unendlich und hat daher unendlich viele Formen. Die Griechen erlebten Wahrheit in all ihren Göttergestalten, im heiligen Sonnenstrahl Apoll, in seiner Mondschwester Diana und im blauen Himmelsäther. Die Perser, Aegypter, Germanen in ihren polaren Gottheiten Licht und Finsternis, Gut und Böse. Und so haben alle Völker einzelne Seiten der Wahrheit bildlich erschaut. Aber die ganze, die allumfassende Wahrheit läßt sich nicht ausschöpfen, denn sie ist nicht wie ein Ding unter Dingen, sondern jenseits aller engen Formen, ohne Grenzen!« Lamettrie-Möller hatte die Darlegungen ruhig und ohne Empfindlichkeit angehört. Jetzt seufzte er auf und meinte bescheiden: »Ich bitte um Nachsicht für meine früheren Glaubensgenossen! Halten wir uns gegenwärtig, daß die Bezeichnung Fanatiker vom Worte Fanum, das Heilige, hergeleitet ist, daß also jeder Glaubenseifer für seinen Vertreter eine heilige Sache bedeutet. Wenn er darin irrt, so verzeihet dem Menschen, der schwach ist, wie wir alle. Was den Pater Ambrosius anlangt, so sagte ich ja: Er ist mein Freund, vielleicht der einzige, der es damals gut mit mir gemeint hat. Und das Gedenken an eine treue Seele möchte man sich bewahren in der Oede des Lebens. Ich bitte also, den Pater Ambrosius nicht in eine Reihe mit denen einzugliedern, die mich damals gepeinigt haben in ihrer Verblendung. Wie jede Religion ein Aufblick zum Ewigen ist, von einem vereinzelten Standpunkt aus, so müssen wir's – wohl oder übel – auch mit unserer Schau halten ins unermeßliche Leben: Da gibt es auch abstoßende Kreaturen! Alle sind sie Gestaltungen der einen Allmacht.«


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