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23. Reuegespenst

Die Liebenden waren sich einig, ihre Verlobung vorerst geheim zu halten. Nicht als ob ihnen die Zustimmung der Nächsten zweifelhaft gewesen wäre, sondern weil sie Onkels Gemütsleiden nicht komplizieren wollten.

Huldas erster Gang sollte erkunden, wie sich der Schwermütige befinde. Den mit Blütenbäumen bestandenen Gartenhang, dessen Rücken das »Wehmutkiefern«-Wäldchen bedeckte, stieg sie hinan. In der feierlichen Verschwiegenheit des Dickichts ging ihr ein altes Lied durch den Sinn, und in sich hinein sang sie: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an.«

Aber dann bedachte sie, daß verstohlene Liebe ja jene Schuld herbeigeführt habe, mit der sich der Greis so furchtbar quälte.

Was war denn nun eigentlich der Tatsachenkern an jenen anklagenden Reden und Vermutungen? Sie, die an Herrn Lamettrie wie an einem Vater hing, bangte vor dem, was sie vielleicht zu hören bekäme. Wäre doch Helmut, der Ruhevolle, jetzt an ihrer Seite! Ein Schicksal, das sie am Märchen vom verrosteten Ritter erraten zu haben glaubte, mußte völlig klargestellt werden.

Und Helmut, der so tief in den Kosmos zu schauen wußte, würde sich dann auch zum Vergeben hindurchringen, wenn auch einstweilen noch Aufregungen hemmend wirkten. Aus ihrem Sinnen schreckte sie das Krächzen einer Krähe auf, die mit klatschendem Flügelschlag davon flog. Hulda fühlte ihr Herz klopfen, wie sie nun die Einsiedelei vor sich hatte.

Friedrich, der nahebei weilte, meldete das Fräulein an. Unter der niedrigen Tür erschien der Greis, und wieder hatte er den altväterischen Rock an. Auf seinem Antlitz lag noch immer starre Schwermut, obwohl der Blick sagte: Kommst Du nach mir sehen, Du Gütige!

Sie betrat den graubekalkten Raum, wo sich ein Schrank und ein Tisch befanden; Papiere lagen da, als seien sie eben durchblättert. Die Decke, an die der Alte fast stieß, hatte eine Oeffnung, durch die eine Treppe zum Oberstock führte.

»Ist es in Deiner Kammer auch erträglich gewesen? hast Du diese Nacht etwas Ruhe gefunden?«

Er lächelte bitter und deutete mit dem Blick auf eine Mönchsgeißel, die an der Treppe hing: »Das Vermächtnis des seligen Paters Aloisius, der es so gut mit mir meinte, hat neben meiner Pritsche im Mondschein gelegen, wirre Erinnerungen sind es, die den Frevler gegeißelt haben.«

Er tat ihr leid, Huldas Augen wurden feucht, flehentlich bat sie: »Sprich Dich doch aus! Was ist denn nun wirklich geschehen?«

Auf die Frage schien er gar nicht zu achten – in anderweitiges Sinnen versunken; und mit ergreifendem Ausdruck sprach er: »Ein Stern, der trübe ist, als ob er traure, wird sichtbar, dann wieder unsichtbar im treibenden Gewölk – Ja dieses Bild, o daß es Wirklichkeit, nicht bloße Poesie wäre! Du aber, Hulda! Du bist mir ein Stern, der im Gewölk mir erschien, nachdem sein Doppelgänger lang zuvor verschwunden war; durch meine Schuld – Oh! Tod ist keine Geburt. Ist eine mal tot, so modert sie im Grabe – und ein wehmütiges Wunder der Natur ist es, daß Hulda ihr ähnlich sieht.«

»Also ähnlich sehe ich der Verstorbenen? Wie starb sie denn, und wann? Bist Du über den Hergang auch ganz im Klaren? Was gestern Du darüber angedeutet hast, kann schwermütige Einbildung sein.«

Wild starrte er sie an, trat dann zum Tische, darauf die Papiere lagen, und reichte ihr ein Zeitungsblatt. Es war das in Aachen erscheinende »Echo der Gegenwart«, eine vergilbte und zerlesene Nummer vom Jahre 1872. Huldas Blick war bange Frage. Auf eine Notiz wies sein bebender Finger, sie lautete:

»Einen schaurigen Fund machte gestern der Pächter des Frankenberger Fischweihers, als er Reusen legte: die Leiche eines Mädchens von etwa 20 Jahren. Wie so oft, wird es sich wohl um das Opfer einer Liebestragödie handeln.«

Bebend rang Hulda nach Atem; die Züge des Alten hatten sich verzerrt, und gepreßt kam das dumpfe Geständnis: »Aus Verzweiflung ist sie in den Tod gegangen, und ich bin schuld daran.«

»Wer ist es gewesen?«

»Eine Schauspielerin! Ich zeige Dir, wie sie aussah.«

Und eine gerahmte Photographie legte er vor sie hin – offenbar dieselbe, welche Gerharts Aufmerken erregt hatte.

Blitzhaft zuckte in ihr die Erkenntnis: Also hat Gerhart mit der Schauspielerin recht – verfehlt ist aber seine Vermutung, es sei Helmuts Großmutter; denn die war niemals bei der Bühne. In seinem Schicksal spielt wohl ein Mädchen eine Rolle, das so aussieht wie Helmuts Großmutter in jungen Jahren.

Indem sie den Greis, der die Augen rollte, prüfend musterte, kam ihr das Bedenken, ob es denn auch verbürgt sei, daß es eben diese Schauspielerin war, die man im Wasser fand. Aber Huldas Gedanken waren heute etwas verworren – die Zeitungsnotiz hatte sie verstört, und in ihrer Ratlosigkeit suchte ihr Herz eine Zuflucht beim geliebten Helmut.

Nur der Blick auf den hilflosen Alten war's, was sie zurückhielt: In seine trüben Erinnerungen versunken, lächelte er wie ein Irrsinniger, und in diesem Zustande konnte sie ihn nicht allein lassen.

Plötzlich faßte er sie an der Hand und starrte, als sei ihm eine Eingebung gekommen, die er ihr mitteilen wollte: »Weshalb sie den Frankenberger Weiher wählte? Oh! Damit wollte sie meiner Untreue ein anklagendes Denkmal setzen. Es geht nämlich die Sage, zu Frankenberg habe Karl der Große von seiner Liebsten, selbst als sie tot war, nicht lassen können. Endlich fand der Erzbischof Turpin heraus, woran das lag – in ihrem Munde verborgen war der Ring, mit dem der Kaiser sich ihr verlobt hatte. Erst als der Freund den Ring in den Weiher versenkt hatte, faßte sich der Kaiser und ließ die Tote bestatten. Seitdem hing er sein Herz an den Weiher und ließ darin die Wasserburg Frankenberg bauen ...«

»O Julia!« murmelte der Schwermütige weiter – »diese Sage hattest du mir einst erzählt – damals als ich dir meine Abneigung gegen Verlobungsringe gestand. Auch hatte ich erwidert: Wie dort die Sonne untergegangen ist – dabei zeigte ich auf den rotgelben Streifen, der unter düsterem Gewölk hinterm Horizont glomm – so muß jedes Erleben versinken, auch ein Lieben, das sich ewig dünkt. Bei diesen Worten war sie zusammengeschauert, und es ging Novemberhauch durch das welke Schilf. Sie ahnte, bald müsse uns das Scheiden für immer kommen. Dann suchte sie den Tod im Frankenberger Weiher!«

Er starrte vor sich hin, als sei hier der Weiher, und dumpf stöhnte er. Dann aus seiner Träumerei allmählich erwachend, wischte er sich die Stirn und sagte leise: »Nun Hulda, nun ist mir schon ein wenig leichter ...«

»Nicht wahr? Siehst Du, Onkel! und nun verlaß doch das trübselige Haus hier und komme wieder zu uns! Komm zu unserem Gaste!«

Wie ein Abwesender blickte Lamettrie und fragte: »Gast? Wer denn?«

»Helmut Burger ist's – den Du ja leiden magst.«

»Helmut?« er schien sich zu besinnen. »Ist das nicht der Freund von Gerhart? Der junge Mann, der so freundlich sprach?«

»Ja, nicht wahr?« Ein Strahl von Freude leuchtete aus ihrem Auge in das kummervolle Greisenantlitz. »Darf er Dich besuchen?«

»Besuchen?« Verlegen sah der Alle sich um: »Dazu ist meine Einsiedelei nicht geeignet ... Ich muß wohl zu Euch hinunter kommen.«

So schien er nun endlich aus dem Morast seiner Trübsal heraus zu sein – Huldas Gesicht verklärte sich, als er stutzig an sich herunter blickte: »Auch kann ich nicht in diesem plumpen Rock ... wie kam ich denn eigentlich dazu? ... Ach ja, die unselige Möllerei!«

Sie lächelte ermunternd: »Ja, nicht wahr? Ich werde dem Friedrich sagen, er solle Dir wieder den hellen Sommeranzug bringen.«

In sonniger Stimmung verließ Hulda die Einsiedelei und gab dem Diener die nötigen Weisungen. Friedrich war hocherfreut, daß die leidige Möllerei vermutlich zu Ende sei und das Lamettrieleben wieder anhebe. Trällernd schritt Hulda durch den Kiefernwald. Ihre freudigen Gedanken weilten bei Helmut, und sie ahnte, daß er jetzt an ihrem Lieblingsplatz weile. Er hat es natürlich nicht ausgehalten, so ganz allein zu sein – dachte sie lächelnd – und will wenigstens die einsame Traumbank unter der Blutbuche mit seinem Schatz teilen.

Und richtig, als zwischen den Büschen das Plätzchen sichtbar wurde, saß er da so versunken, daß er erst aufsprang, als sie schon nahe war. Stürmisch schloß er sie in seine Arme.

Mit hastigen Worten berichtete sie, wie der Onkel sein Geständnis gemacht habe und Erleichterung empfinde, diese würde ihn – wie es den Anschein habe – wieder zum Lamettrie-Bewußtsein aufrütteln.

»Recht so! Zwar ist es eine krankhafte Schrulle, aber er fühlt sich wohl darin, und wir tun vielleicht gut, den Lamettrie in ihm einstweilen zu stärken, damit er nicht fortgesetzt dem aufreibenden Möller-Elend anheimfällt.«

»Komm! wir gehen ihm langsam entgegen und spazieren durch den Garten; die Blüten und Vogelstimmen, Dein Zuspruch und unser Glück – das alles soll ihm seine Gespenster verscheuchen. Aber daß wir einander gefunden haben, davon – hörst Du wohl – lassen wir vorläufig nichts merken.«


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