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1. Besetztes Gebiet

»Was gibt's denn eigentlich? Wie lange soll man hier noch warten?« murrte das Reisepublikum. Aber noch immer blieb die Abfahrt dem D-Zug versagt, obwohl die Paß- und Gepäckkontrolle durch die Franzosen schon längst beendet war. Bis auf zwei Reisende, die man im Stationsgebäude zurückhielt, befanden sich alle auf ihren Plätzen. Aus den offenen Wagenfenstern lehnten kecke Männer mit Sportmützen, entrüstet über die Verspätung.

»Zum Donnerwetter!« schnarrte eine Kommandostimme, aber gedämpft, daß es die Franzosen nicht hören sollten – »fahr doch endlich mal los!« In einer Art Bauchrednerei rief jemand »Abfahrt! wir wollen zu Muttern!« Ein anderer schnauzte halblaut »Wo hapert's denn noch?« – »Koooks fehlt!« gröhlte der Bauchredner; das Publikum schmunzelte, denn unkenhaft wurde gestöhnt: »Koooks!«

Diesen Laut verstand der Stahlhelm-Franzos, der bei der Bahnsteigsperre Posten stand; gereizt durch solche Anspielung auf das Heizmaterial, nach welchem die Franzosen im Ruhrgebiet lüstern waren, und durch das höhnische Grinsen der Boches, suchte der Posten sich den Spötter herauszufischen, fand ihn aber nicht und mußte seinem Aerger durch Ausspucken etwas Luft machen.

Selbst dem abgehärteten Personal des Zuges wurde dies Warten zu dumm. Auf dem Bahnsteig standen die Schaffner, finster raunend. Der Zugführer mit umgehängter Tasche lief aufgeregt die Front des Zuges entlang und wollte vom Stationsvorsteher erfahren, was es denn eigentlich gäbe. Der Rotbemützte hatte nur schweigendes Achselzucken, als ob ihn die Sache nichts anginge.

Jetzt traten aus dem Stationsgebäude zwei französische Beamte. Der eine war dem Publikum bekannt, weil er mit seinen Leuten das Gepäck durchschnüffelt hatte. Der andere mußte wohl Oberkontrolleur sein; der Gewehrposten erwies ihm militärischen Gruß. Aufgeblasen, zwischen den Lippen die qualmende Zigarette, winkte der Oberkontrolleur: »Que'est-ceque ca, Zugführer! sehet den Paß hier! Wo ist der Mann?«

Der Zugführer winkte die Schaffner herbei, und einer meldete: »Der sitzt im Wagen Numero zwei, erster Klasse! Ein alter Herr mit einer Krankenschwester! Bei dem fehlt's im Oberstübchen.« »Wo?« fragte der Oberkontrolleur an den Schaffner gewandt. – »Hier oben!« antwortete dieser, mit dem Zeigefinger an seine Stirne tippend und lächelte dazu.

Das war für ein paar Beobachter Anlaß, zu grinsen, und nun fühlte sich der Oberkontrolleur angeulkt. Kollernd wie ein Puter rief er den Gewehrposten heran, und es wäre wohl zur Verhaftung des Schaffners gekommen, wenn nicht ein Reisender in fließendem Französisch das Mißverständnis aufgeklärt hätte, der Schaffner habe bloß gemeint, bei dem alten Herrn sei es im Kopfe nicht richtig.

Noch ein paar finstere Blicke warf der Oberkontrolleur dem Schaffner zu, dann blätterte er wieder im Reisepaß: »Und dieser Idiot, er fahrt erste Klasse?« –

»Oui, monsieur«, antwortete der Schaffner, »er hat ein ganzes Kupee erster Klasse, reist mit einer Krankenschwester und einem Diener; will ungestört bleiben und absolut nicht aussteigen. Da is nischt zu machen!« –

»Ich will sehen den Mann, wie heißt er?« Und er blickte in den Paß. »Lamettrie? Das is französischer Nam', mais der Paß sagt, er is americain? Ich will verhören. En avant, conducteur!«

Ein junger Mann, zum Kupee-Fenster hinausgelehnt, hatte die Worte des Oberkontrolleurs vernommen und wandte sich betroffen an einen Mitreisenden: »Helmut!« flüsterte er, »hast Du den Namen gehört? ich meine, Lamettrie habe er gesagt.« Der Angeredete nickte: »Auch mir fiel der Name auf – so hieß ja jener französische Philosoph am Hofe Friedrichs des Großen ... aber was ist Gerhart? Kennst Du den Mann?« – »Es ist mein Onkel – ich muß zu ihm, sofort!«

Nicht verstanden war dies Gespräch von den anderen Insassen des Kupees, und es fiel nicht auf, daß sich der junge Mann, vor Aufregung erblichen, zwischen den Damen und Herren hindurchwand zum Wandelgang nach vorn.

Helmut nahm Platz und starrte vor sich hin. Er mochte wie sein Freund dreißig Jahre zählen und hatte wie dieser ein angenehmes Gesicht, nur daß sein Ausdruck vorwiegend beschaulich war gegenüber der straffen Tatkraft des andern. Lamettrie? sann Helmut – diesen Namen hat Gerhart mir gegenüber nie erwähnt. Aber freilich, unsere Freundschaft besteht erst seit Kurzem. Immerhin! als wir beim Hermannsdenkmal Brüderschaft tranken, hat er mir sein Herz eröffnet und lebhaft von seiner Familie geplaudert. Da spielte zwar seine Kusine eine Rolle, die hieß aber nicht Lamettrie sondern Belling, so viel ich weiß.

Aufs neue lehnte sich Helmut zum Kupee-Fenster hinaus, um zu sehen, wie sich die Paß-Geschichte entwickelt habe. Vorn versuchten Leute, die ausgestiegen waren, von außen in das Kupee des beanstandeten Reisenden hineinzuspähen. Gleich darauf stieg der Oberkontrolleur wieder aus dem Zuge und winkte lachend: »Allons – Abfahrt!«

Unverzüglich reckte der Stationsvorsteher seine weiße Scheibe empor, und durch das Reisepublikum ging ein Aufatmen. Während sich die französischen Kontrolleure ins Bahnhofsgebäude begaben, setzte sich der Zug in Bewegung, und eine übermütige Stimmung kam im Publikum auf. »Kikeri« wurde gekräht und sogar gesummt: »Drum Franzmann, weine nich! die Kohlen kriegste nich!«

Nun war Gerhart wieder da und winkte an der Kupee-Türe dem Freunde zu: »Bitte, reiche mir meinen Koffer und Mantel! nimm auch Du Dein Gepäck und komme mit!« Im Wandelgang voranschreitend, wandte er sich um: »Es stimmt also, wir hatten richtig gehört. Nun bittet uns der Onkel, zu ihm überzusiedeln. Er möchte Dich kennen lernen und mit uns plaudern. Meine Kusine ist auch dabei, Hulda Belling, von ihr hast Du ja schon gehört ... Ah Herr Friedrich! Sie wollen uns tragen helfen?« – »Wenn ich bitten darf, Herr Linde!« erwiderte der galonierte Diener, ein schon ergrauter Mann, der an Statur und Gesicht den Yankee zeigte. Auch Helmut mußte ihm den Koffer übergeben.

Als die Freunde in jenes Kupee erster Klasse traten, erhob sich schüchtern ein junges Mädchen, das eine Haube nach Art der Krankenschwestern trug, während ihre sonstige Kleidung nicht uniformiert, nur sehr schlicht war. Gegenüber am Fenster saß ein alter Herr, aschfahlen Angesichtes und glattrasiert; lodernde Schwarzaugen rollten in dunklen Höhlen, und gleichfalls erhob er sich – eine hager lange Gestalt.

Gerhart Linde stellte vor: »Hier also ist mein Freund Doktor Helmut Burger. Meine Kusine Fräulein Belling und mein Onkel Lamettrie.« Des alten Mannes Blick war seltsam durchdringend, die dargereichte Hand hatte kräftigen Druck. Fräulein Belling, eine zarte Blondine, lud die Herren ein, Platz zu nehmen.

Als der Diener Friedrich das Gepäck verstaut hatte, erhielt er von seinem Herrn die Weisung, den Kellner aus dem Speisewagen herzuschicken mit einer Flasche Sekt seiner Marke – und vier Gläsern. Er, Friedrich, könne dort bleiben und sich beliebig erfrischen. »Zu Befehl, Herr Baron!« antwortete Friedrich und ging.

»Na, und wohin zieht Deine Fahrt, Wahlneffe?« wandte sich Lamettrie mit müder Stimme an seinen Neffen.

»Zu den Eltern. Und mein Freund kommt mit. Wir sind einigermaßen erholungsbedürftig nach der Schufterei des Examens. Vorige Woche haben wir in Berlin den Doktorhut der Philosophie erworben.«

Wieder fühlte Burger das glühende Auge auf sich gerichtet, es war, als wühle sich eine Bohrmaschine in die Erde, um ein Kohlenlager zu finden: »Ihr Beruf, Herr Doktor?«

Verlegen lächelte Burger und zuckte die Achseln: »Mein Beruf? wie soll ich sagen? Schuster bin ich, neuerdings Inhaber eines Schuhwarengeschäftes im Norden Berlins.«

Lamettrie hörte das, ohne zu stutzen, es regte sich kein Fältchen seines ziselierten Gesichtes, nur daß er die Augen niederschlug: »Schuster? und Ihnen fehlt ein Finger? Wo haben Sie den verloren?« – »Bei Verdun, Herr Baron« – antwortete Burger, verdutzt darüber, daß dieser angebliche Geistesschwache so scharf beobachten konnte.

»Baron nennt mich mein Friedrich,« sagte milde der Greis – »das ist so unser Brauch, wenn wir auf Reisen sind, und hat seinen Zweck. Sie aber bitte ich, Lamettrie zu sagen; mein genauer Name ist Offroy de La Mettrie. So steht es sogar in meinem Paß ... Sie stutzen, Herr Burger?«

»Nun ja, weil genau so der Name jenes berühmten Philosophen lautet.«

»Selbstverständlich!« lächelte der Sonderling überlegen und richtete sich auf, indem sich ihm die Nüstern blähten und das Auge etwas Feierliches hatte – »selbst –verständ –lich! ich bin ja derselbige Philosoph.«

»Aber«, entgegnete Dr. Burger verdutzt – »der Philosoph Lamettrie ist ja vor fast zweihundert Jahren verstorben.«

»So heißt es!« sagte der Greis mit spöttischem Lächeln – »aber das ist ein verzeihlicher Geschichtsirrtum. Sie sehen hier vor sich jenen Philosophen Lamettrie, der es verstand, sein Leben bis jetzt zu erhalten

Dem scheint es allerdings zu rappeln! dachte Helmut – schwieg verlegen und starrte zum Fenster hinaus.


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