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30. Die doppelte Wahrheit

Ueber die Erlebnisse in der Bibliothek wollte Helmut sich aussprechen. Er fand Hulda im Wintergarten bei ihrer Mutter und vernahm, Onkel habe einen Rückfall in seine Schwermut erlitten. Zwar nicht das wirre Möller-Elend, sondern eine Selbstanklage, die leider insofern Berechtigung habe, als jene Julia-Darstellerin wohl tatsächlich ins Wasser gegangen sei – aus Verzweiflung.

»Und weshalb kümmerte er sich nicht um die werdende Mutter?« fragte Helmut betroffen. – »solange dieser Punkt dunkel bleibt, läßt sich über den Umfang seiner Schuld nicht urteilen. Ich möchte zu ihm gehen.«

»Ja, tue das, ich bin ratlos.«

»Wo Gerhart nur bleibt?« seufzte Frau Belling. » Käme er doch endlich!«

Helmut begab sich zur Einsiedelei, wo der Greis über einem Buche grübelte. »Nun«, meinte er düster, ohne sich zu erheben, » – hilf mir verstehen! Sieh, dieses Werkchen hat mich damals beherrscht, als ich mich scheute, die Mutter meines Kindes zur Frau zu nehmen.«

Helmut las den Titel des dargereichten Buches: »Die doppelte Wahrheit von Duplex.«

»Und wer verbirgt sich hinter dieser Maske?«

» Ich bin's. Mein Buch kam in jener unseligen Zeit heraus, und mit seiner Grundidee ist meine Schuld verwurzelt.«

»Was nennst Du seine Grundidee?«

»Daß die Wahrheit zwei Gesichter trage, deren jedes seine Berechtigung habe – obwohl die beiden einander widersprechen

»Ich glaube zu verstehen. Mittelalterliche Zweifler haben zu solcher Ausrede ihre Zuflucht genommen, weil sie einerseits Kirchenglauben anerkannten, andrerseits die unkirchliche Wissenschaft. Der kühne Giordano Bruno hat in seiner Verteidigung vor dem Ketzergericht auf die doppelte Wahrheit hingewiesen, wenn er auch die Ueberzeugung hegte, daß seine Weltanschauung stimme, keineswegs die entgegengesetzte Glaubenslehre.«

Mürrisch versetzte der Alte: »Aber vor fünfzig Jahren, als meine Schrift entstand, wähnte ich, durch Neubelebung dieser Idee könne ich meiner Zeit etwas darbieten, wodurch sich einerseits der Glaube rechtfertigen lasse, andrerseits die mechanistische Weltanschauung.«

»Ach! und wie war es möglich, daß Du annehmen konntest, die eine Wahrheit habe einen Januskopf – spalte sich gewissermaßen in ein Doppel-Ich?«

Die Zerrissenheit im Greisenantlitz wurde durch ein grimmiges Lächeln bis zur Dämonie gesteigert: »Weil mein eigenes Ich zerspalten war. Schon als Schüler hatte ich mich bei meinem Religionslehrer durch frommes Getue lieb Kind gemacht, ich hielt es andererseits mit ketzerischen Büchern wie l'homme machine. Ich begeisterte mich für das Maschinenzeitalter, wollte aber doch katholische Theologie studieren, auf meines Vaters Rat, der darauf pochte, ein Kopf, der Modernes mit dem vorgeschriebenen Glauben zu vereinen wisse, könne es in der Kirche weit bringen.«

Helmut wurde düster, weil in ihm das Mißtrauen erwacht war! Was von jenem angehenden katholischen Geistlichen in seiner Familie geraunt wurde, könne am Ende doch auf Lamettrie passen ...

Aber nein! dachte er – jedenfalls war jene Schauspielerin nicht meine Großmutter. Diese hat ja Jahrzehnte später noch gelebt, und ich bin ihr Enkel. Was den Namen Erlenbach betrifft, so liegt hier jene Duplizität der Fälle vor, die im Leben nicht selten ist.

Und weiter stöhnte der Rätselhafte: »Ja, und mein Hang zur Verkleidung! Schon als Knabe liebte ich in der rheinischen Residenz des Prinzen Carneval die Maskerade, den Hang zum romantischen Schein, der eine andere Welt vorgaukelt. Ich betätigte mich dann als Artist und in kleinen Rollen, auch auf Dilettantenbühnen. Stets trug ich mich elegant, abweichend von den anderen Theologen, die nur im üblichen Schwarzrock gingen. Etliche meiner Professoren bewunderten an mir solches Wesen, und in meiner Eitelkeit verfiel ich darauf, an Orten, wo mich keiner kannte, den Dandy zu spielen. Ich klebte meinem glatten Gesicht ein Bärtchen an, oder suchte mich sonst unkenntlich zu machen, so spielte ich in Ostende den vornehmen Badegast – ich Narr!«

Durch dieses Geständnis fühlte sich Helmut nicht bloß peinlich berührt, sondern erschrak geradezu. Auch diese Angabe stimmte zu jenem Familiengerücht. Aber es war ja nicht denkbar, daß seine Großmutter, deren Leben so ernst und tüchtig war, und die jegliches Rollenspiel verabscheute, in ihrer Jugend auf solchen Blender hätte hereinfallen können!

An Helmuts finsterem Blick mochte der Onkel spüren, daß ihm der Bericht schwer zu schaffen machte. Gleichwohl wollte er sich – koste es, was es wolle – endlich durch ein rücksichtsloses Geständnis befreien.

»Du hast wohl bemerkt,« fuhr der Alte fort, »daß meine Verkleidungssucht und mein Rollenspielen zusammenpaßt mit der von mir vertretenen Lehre von der doppelten Wahrheit. Ihr Opfer werden wir alle irgendwie. Ein gefälliger Schein umschmeichelt und erobert uns. Wir wollen glänzen und Eindruck machen. O Eitelkeit der Eitelkeiten!«

Helmut fühlte wiederum mit dem Onkel. Ihn ergriff das große Erbarmen mit den Menschen; sie selber bereiten es sich durch ihre wirre Leidenschaften, aus denen sie dann keinen Ausweg mehr finden. Grund zur Ueberhebung und zum Verdammen hat niemand. Es gilt ja immer die Weisheit: das bist du! Alles, was du da verurteilen möchtest, bist im Grunde du selber. Sei wie die Sonne, die aufgeht über Böse und Gute!

Solch ein Erbarmen umfaßte auch die weiteren Geständnisse des zerknirschten Greises: »Liebe! So nennen es die Menschen und oft ist's bloß ein selbstsüchtiges Habenwollen und sinnliches Begehren, der geliebte Mensch kann darüber zu Grunde gehen. Nicht anders war es damals bei mir. Die verabredete Trennung wurde nicht innegehalten. Vom Rausch der Sinne hingerissen, wurde Julia das Opfer meiner Leidenschaft.«

Von seinen Erinnerungen erschüttert, schwieg der alte Mann, dann mit schwerem Seufzer kam es heraus: »Als wir im Spätherbst uns wiedersahen, aus Anlaß der Aachener Vorstellung, richtete sie an mich die schüchterne Frage, ob ich beabsichtige, sie zu heiraten. Da erschrak ich Feigling und antwortete, ich sei ein mittelloser Student, katholischer Theologe – müsse also ehelos bleiben. Totenblaß wurde sie und schwieg, und ich Elender hatte kein Gefühl für ihre entsetzliche Lage. Auf meine weiteren Fragen gab sie zur Antwort: »Gewißheit über meinen Zustand muß ich mir vor allem verschaffen. Bedenke, ich bin ein alleinstehendes Weib, und mein ganzes Schicksal hängt davon ab. Auf mein Drängen begleitete sie mich zu einem Brüsseler Arzt, den ich bat, Klarheit und womöglich Abhilfe zu schaffen.«

»Wieso Abhilfe?« fragte Helmut, und ein schlimmer Verdacht stieg in ihm auf.

Der Alte fuhr fort: »Ja, ich Frevler dachte an Abhilfe! Julia folgte mir nach Brüssel – ihre Verschlossenheit war mir drückend. Im Wartezimmer des Arztes, eines Deutschen, hatte ich seinen Bescheid abzuwarten. Als er mich dann hereinrief, war sie nicht mehr im Untersuchungsraum. In nichts weniger als freundlichem Ton sagte der Arzt: »Ich würde Sie beglückwünschen, wüßte ich nicht, wie die Verhältnisse liegen. Die Dame hat mir alles erzählt. Sie ist kerngesund und wird Mutter werden.«

Ich war erstarrt und stammelte etwas von Fehlgeburt, die doch einer Schauspielerin passieren könne.

»So denken viele Männer!« sagte er barsch, und mit strenger Miene fuhr er fort: »Nichts davon! Ich habe Ihnen schon gesagt, daß sie kerngesund ist. Ich habe mich nur noch ihres Auftrags zu entledigen: Niemals werden wir Zwei uns wiedersehen! – das sind ihre eigenen Worte.«

Bestürzt fragte ich: »Wo ist sie? Was hat sie vor?« Auf der Straße scholl das Lärmen der Fuhrwerke. Und mich erschreckte sein Bescheid: »Sie erreichen die Dame nicht mehr! Schon vor mehr als 10 Minuten hat sie das Haus verlassen.«

Jene Zeitungsnotiz, nach der sie im Weiher den Tod gesucht und gefunden hatte, kam Helmut in Erinnerung. Aber Ablenkung von dem Grauenhaften war's, daß ihm ein Leuchten kam aus jenem Reiche der Beschaulichkeit, wo er seine eigentliche Heimat hatte. Wohlan denn, hinweg von der Nachtseite dieses Daseins!

Was euch nicht angehört,
müsset ihr meiden,
was euch das Innere stört,
dürft ihr nicht leiden.

So geschah es, daß er dem Alten, der wie ein Verdammter vor sich hinbrütete, ein Bote wurde aus besserer Welt: »Laß gut sein, Onkel! Jedem Erdgeborenen kann es widerfahren, daß ihn der schwarze Dämon heimsucht. Aber laß Dir nicht die Seele ganz verstören! Was zeitlich ein Unsinn ist, muß auch zum Sinn des Lebens beitragen. Und das ist die doppelte Wahrheit, die uns gelten mag: Das Unendliche waltet nicht bloß als Vollkommenheit, sondern zugleich als deren Gegenpol, als Nichtigkeit. Und die schöpferische Formel, die jeden Angehörigen dieser Welt hervorbringt, lautet: Unendliche Vollkommenheit mit unendlicher Nichtigkeit zusammen bringt alle möglichen Endlichkeiten hervor. Du, Kleinmütiger, nebst Deiner Julia, ihr gehört auch dazu.«


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