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2. Doppelgängerei

Wie ein gespreizter Fächer lagen die frühlingsgrünen Aecker und Wiesen in der Abendsonne. Zuweilen kamen schieferumkleidete Häuschen und rote Fabrikgemäuer nebst hohen Schornsteinen. »Das hier ist meine Poesie!« schwärmte Lamettrie – »im Industrieland fühl ich mich daheim, wo überall ein paar Dutzend Schlote qualmen und Zechen wie Maulwürfe den Leib der Erde durchwühlen, wo bei Nacht elektrische Sonnen blitzen, und der Himmel sich rötet von all den funkensprühenden Betrieben. Oh, da schwillt mir das Herz, ich fühle so recht als Maschinen-Mensch, als eine Art Prometheus ... In einem Gedicht hab ich mal die Worte gelesen: Such' ich, oder bin ich die Größe der Welt?«

Als ob er eine Vision anstaunte, hatte der Greis gesprochen. Wie ein Erwachender wandte er sich zur Gesellschaft: »Welch eine bezaubernde Fee ist doch die Illusion! Mit ihr allein bringt man es fertig, diese Posse Leben so lange durchzuhalten. Ja, mit dir, du holde Lügnerin, und mit ein paar ehrlichen Kumpanen, wie Ihr jungen Dachse seid, kann es der vergrillte Ahasver wohl noch ein Weilchen aushalten ... Schenket ein!«

»Ach Onkel, sei vorsichtig!« mahnte Hulda. Er aber winkte lächelnd ab: »So etwas wirft mich nicht um. Meine Ähnlichkeit mit Sokrates besteht darin, daß dieser Philosoph am Ende des berühmten Gastmahls, als jüngere Gäste bereits zu lallen begannen, den Bowle-Napf an seine Lippen hob und bis zur Neige leerte.. Unbesorgt, Huldchen, ich scherze bloß – zu solcher Kraftleistung schwingt sich Dein 215jähriger Onkel nicht auf, trotz seinem Lebens-Elixir. Wohl hätt' ich das Temperament dazu, und der Stern meines Lebens heißt ja verklärtes Vergnügen. Uebrigens wird Dr. Burger wissen, daß mich die Geschichte zu den Epikuräern rechnet, mir sogar nachsagt, ich sei beim Schlemmen erstickt, an einer Pastete nämlich ... Ach, ihr prüden Schulmeister, wenn ihr wüßtet!«

»Was denn, Onkelchen?«

»Na die Pasteten-Geschichte von 1751 mein' ich. Vom wahren Sachverhalt haben die Schulmeister keine Ahnung.«

»Na und?« fragte Gerhart – »wie verhielt sich denn die Sache?«

»Ach, laßt gut sein!« wandte Hulda ein – »Onkel hat ja doch schon wiederholt davon erzählt.«

Offenbar zum Plaudern darüber aufgelegt, meinte Lamettrie: »Vielleicht interessiert sich Dr. Burger dafür. Nun denn, Sie wissen ja, daß die Historiker behaupten, ich sei damals gestorben und in Berlin begraben. Aber das war Täuschung. Mein Dämon, mein Doppelgänger, hat diese Täuschung inszeniert, um mich aus versumpften Verhältnissen herauszureißen und zu einer neuen Lebens-Phase zu erlösen. Ich war Vorleser des großen Königs und bei ihm beliebt, aber des höfischen Daseins überdrüssig und für mein Tätigkeitsbedürfnis ganz und gar nicht ausgefüllt. Da nun geschah es, daß ich von der Tafel, wo allerdings geschwelgt wurde, aufstand und ins Nebengemach ging. Auf einmal tritt mir ein Kavalier entgegen, genau wie ich gekleidet, dieselbe Statur, dasselbe Gesicht – kurzum wie mein Spiegelbild.«

»Es war vielleicht nichts anderes, als Dein Spiegelbild«, wandte Gerhart ein – »Du wirst in einen großen Wandspiegel gesehen haben.«

»Unsinn! mein Doppelgänger war's – er hat ja zu mir gesprochen ... Was meinen Sie dazu, Herr Burger? Sie gehören doch nicht etwa zu jenen Superklugen, die von vornherein ungläubig lächeln, wenn man von einem Doppelgänger spricht?«

»Nein!« erwiderte Burger einfach – »Doppelgängerei kommt vor – ist eine Realität des Seelenlebens. Auch die Psychiatrie kennt seltsame Spaltungen des Ich-Bewußtseins ...«

Lamettries Gereiztheit beschwichtigte sich: »Das ist wenigstens ein halbes Zugeständnis. Was freilich die Psychiatrie betrifft, so gehört sie nicht hieher. Eine Halluzination ist in meinem Fall ausgeschlossen, weil mein Doppelgänger einen übermenschlich geistigen Charakter hat. Alles nämlich, was er mir damals vorhergesagt hat, ist genau eingetroffen. Denn – hören Sie zu! Die Hand erhoben und gebieterischen Blickes hat er mir zugeraunt: Lamettrie geh auf der Stelle zum Palais hinaus in den Park und steig in den Reisewagen, der dort bereitsteht. Er führt Dich zu einem neuen Leben. Dein hiesiges aber überlasse mir, ich will's zu Ende führen. Werde mich an die Tafel begeben, an deinen Platz, und natürlich wird man glauben, du wärest es. Nur ein Weilchen will ich deine Rolle spielen, dann plötzlich tot umfallen, so daß man mich begraben muß. Du wirst davon in der Zeitung lesen, wenn der Reisewagen dich nach Hamburg gebracht haben wird. In Hamburg sollst du zehn Tage im Gasthause wohnen, darfst dich freilich nicht Lamettrie nennen; denn vom Philosophen Lamettrie wird bald was Auffälliges in der Zeitung stehen. Wenn du das gelesen hast, begib dich zum Hafen und frage nach dem Ostindien-Fahrer. Er liegt zur Abfahrt bereit, nur daß ihm noch der Schiffsarzt fehlt. Sage nun dem Kapitän, du seiest der Doktor Ignatius Möller und möchtest die Arzt-Stelle annehmen ... Wohlan denn, mein anderes Ich, tue, was ich dir befehle! Im Lande der Wunder und geheimen Weisheiten soll der Philosoph von neuem geboren werden ... So hat mein Doppelgänger gesprochen und ich bin seiner Weisung gefolgt. In Hamburg kam alles so, wie er's angekündigt hatte. Im Fremdenblatt stand als große Neuigkeit aus Berlin, es sei daselbst der berüchtigte Atheist, Baron de Lamettrie, Vorleser seiner Majestät des Königs von Preußen, beim Souper an einer Pastete erstickt. An seinem Grabe auf dem Berliner Friedhof sei eine Rede des Königs verlesen worden, die er dem Andenken des Philosophen gewidmet habe ... Was nun soll – so frage ich Sie, Herr Burger, mein wunderbares Erlebnis mit Psychiatrie zu tun haben?«

Während dieser seltsamen Erzählung des Greises hatte sein Auge funkelnd, wie schwarzer Diamant, mißtrauische Blicke nach Burger geschossen, und jetzt wollte er die Maske der Gleichmütigkeit, die jener junge Mann aufgesetzt hatte, schier durchbohren.

Aber dessen Gesichtsausdruck war ohne Hinterhalt, und Herzlichkeit klang in seiner weichen Stimme: »Das ist ja in hohem Maße interessant, Herr Lamettrie, obwohl noch nicht aufgeklärt. Solche Fälle von Doppelgängerei und Zweitem Gesicht sind durchaus beachtenswert, nämlich an so vielen Orten von vertrauenswürdigen Persönlichkeiten bezeugt, daß es unhaltbar erscheint, sie rundweg als Aberglauben, Einbildung oder Schwindel abzutun. Kein Geringerer als Goethe erzählt, er habe seinen Doppelgänger prophetisch gesehen. Sie kennen doch die Geschichte? Nun denn: Als Straßburger Student kam er von Sesenheim auf dem Fußpfad nach Drusenheim geritten, nachdem er die geliebte Friederike noch einmal – wie er meinte, zum letztenmal – besucht hatte. Da sah er mit den ahnenden Augen des Geistes – sich selbst! Und zwar kam er denselben Weg in umgekehrter Richtung geritten – angetan mit einem Anzuge, wie er ihn bisher nie gehabt hatte – hechtgrau mit etwas Gold. Nur ganz kurze Zeit währte die Erscheinung – dann zerrann sie. Besonders seltsam war es nun, daß Goethe acht Jahre später in demselben Reitfracke, den sein Doppelgänger angehabt hatte, und am gleichen Orte sich befand, auf der Heimkehr von seiner Friederike, die er jetzt wirklich zum letztenmale besucht hatte ...«

Ein Laut des Erstaunens aus Huldas Mund unterbrach die Darlegungen und mit großen Augen meinte das Fräulein: »Ach wirklich?«

»So darf man allerdings fragen, und der Zweifel an diesem Berichte ist umsomehr berechtigt, als er in Goethes Dichtung und Wahrheit steht, also in einer dichterisch wiedergegebenen Lebensgeschichte. Ein Kritiker hat bemerkt, diese angebliche Vision sei nur ein künstlerisches Darstellungsmittel; sie habe die Aufgabe, die Tragik des Abschiedes von Friederike zu mildern, indem die Trennung und alles Spätere als etwas vom Schicksal längst Bestimmtes hingestellt werde. Diese ästhetische Bemerkung ist zutreffend – nur beweist sie nicht, daß Goethe die Vision glatt erfunden hätte. Denn wie der Traum ein feiner Künstler ist, so erst recht die bedeutsame Vision. Zusammenhänge des ewigen Schicksals erschauend, reiht sie, was man sonst für Zufälligkeit hält, in die logische Architektur des Kosmos ein, so daß alle Einzelheiten als Glieder der Schicksalskette auftreten, als etwas Unvermeidliches, erhaben über Anklage und Reue. Schopenhauer, der aus eigenem Erleben einen Fall von Zweitem Gesicht berichtet, nimmt Goethes Vision ganz ernst.«

»Sie halten also den Doppelgänger für ein Zweites Gesicht, das einen gespenstischen Eindruck macht, insofern es die Schranken der Zeit überspringt. Das ließe sich hören – indessen wäre, was meinen Fall betrifft, nicht erklärt, wie der Doppelgänger, wenn er eine Vision wäre, es anstellen kann, auch anderen Menschen zu erscheinen, – an der Souper-Tafel zu sitzen, beim Verschlingen einer Speise zu ersticken, sich davontragen und vom Arzt untersuchen zu lassen, endlich in den Sarg gelegt und begraben zu werden, so daß niemand ahnt, es sei dies alles eine bloße Spukerscheinung gewesen. Immerhin, mein verehrter Herr Burger! Ihre Darlegung paßt zu meiner Weltansicht, insofern auch Sie im Universum eine ungeheure Maschinerie sehen, in der jedes Rad, jedes Kettenglied und jede Regung als Einzelbestätigung des Ganzen unausbleiblich funktioniert, daher für den Kenner berechenbar.«

»Erscheint Ihnen, Herr Lamettrie, unser Dasein etwa schöner und besser, indem Sie darin nichts als Mechanismus sehen? Anderen kommt es auf diese Weise vielmehr verödet vor. Die Gleichsetzung von Gott-Natur und Maschinerie könnte erst dann einigermaßen einleuchten, wenn es dem Menschen gelungen wäre, Maschinen zu konstruieren, die nicht Produkte von bloß materieller Art sind, sondern geradezu lebendig, nämlich ein Innenleben haben, – eine GefühlsmaschineGedankenmaschine

Mit einem stechenden Blick erwiderte der Greis: »Wenn Sie gelten lassen, daß ich ja nur ein erster Techniker lebendiger Maschinen bin, so will ich Ihnen Einblick gewähren in mein Museum.«

Burger wußte nicht recht, wie er diese Einladung verstehen solle; aber sein Freund Gerhart meinte: »Ja, Helmut, das mußt Du sehen! Staunenswertes ist meinem Onkel gelungen. Eine maschinelle Nachahmung organischen Lebens, die manches Verblüffende hat.«

Mürrisch warf Lamettrie ein: »So sagst Du. Uebrigens ist Dir noch lange nicht alles bekannt, was meine Kunst geschaffen hat. Hast ja eigentlich bloß mein Figuren-Kabinett gesehen, und das enthält meine noch stümperhaften Anfänge. Doch seltsame Geheimnisse birgt mein unterirdisches Reich – Einblick in diese habe ich selbst meinem Friedrich einstweilen nur mit Zurückhaltung gewährt.«

»Herr Friedrich, der jetzt im Speisewagen sitzt« – so erläuterte Gerhart – »ist nämlich das allergetreueste Faktotum unseres Onkels, ein zuverlässiger und sogar erfinderischer Mechaniker.«

Lamettrie nickte wehmütig: »Und leider sei es gesagt, bislang ist Friedrich der einzige Mensch, der mein Streben versteht. Sonst – Sie sehen ja, Herr Doktor Burger, – wie vereinsamt ich bleibe. Es müßte denn sein, daß Sie selber meinem Standpunkt näher kommen. Ich hoffe noch immer ...«


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