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4. Mensch in Eisen

Herr Lamettrie hatte telefoniert, es werde ihn freuen, Herrn Burger nebst Gerhart an einem der nächsten Vormittage bei sich zu sehen. Nun saßen die beiden Freunde im Auto, um zunächst der Lindeschen Fabrik einen Besuch zu machen und im Anschluß daran dem Lamettrieschen Landhause.

Der Maimorgen war schwül und dunstig. Als das Auto aus den Häusermassen heraus war und über die Brücke fuhr, fühlte sich Helmut geradezu erschüttert von der Wucht dieses Industriebezirkes. Es wimmelte von Lagerplätzen für Kohle, Holz, Alteisen; von Schienenbahnen, Waggons, Kanälen und Schiffen, von Molen aus befrachtet mittels Kranen – wimmelte von geschwärzten Fabrikmauern, qualmenden Schloten. Nur ab und zu ein schiefergedecktes Häuschen mit Gemüsebeeten und einem Blütenbaum. Die Wege schwarzgrauer Staub, aufgeschüttete Schlacke. Hastige Geschäftsleute auf knatternden Benzinrädern, schwerfällige Last-Autos. Ach, allenthalben Unrat und Staub, Getöse und Gestank.

Aus Großbetrieben heulten Sirenen und dröhnte Hämmern. Auf die Nerven fiel ein bohrendes Quietschen. »Zum Teufel!« schimpfte Helmut – »das ist ja wie beim Zahnarzt! als würde man plombiert: hui –i –i! das ist ja eine Folter!«

»Freilich!« lachte Gerhart – »und die Teufel mit glühenden Zangen wirst Du auch noch erleben. Aber was Du mit Deiner Liebe fürs Naturhafte eine Folter nennst, bedeutet für Onkel Lamettrie die Hochburg seiner Götter – oder sagen wir: die Erstürmung des Himmelreichs durch den erfinderischen Riesen Prometheus und seine Zyklopen. Was meinen Vater betrifft – je toller es hier dröhnt und rußt, desto behaglicher reibt er sich die Hände. Na, hier haben wir ja unsere Fabrik. Chauffeur, zur Direktion!«

An der Einfahrt stand der Portier mit seiner Dienstmütze und grüßte. Nun hielt das Auto, die Freunde stiegen aus, und sofort trat ihnen aus dem Bürogebäude der Vater Gerharts mit freundlicher Geschäftigkeit entgegen: »Schön, Herr Doktor Burger, daß Sie unser Werk besuchen.«

»Danke, Herr Direktor! Wenn ich darf, möcht' ich mir solch Erlebnis nicht entgehen lassen.«

»Na freilich, Helmut«, sagte Gerhart – »wer unsern Onkel besuchen und verstehen will, muß sich orientieren über sein Steckenpferd, die Macht der Maschine.«

Herr Direktor Linde räusperte sich: »Steckenpferd! Gewissermaßen ja! Das Maschinenwesen bedeutet was Großartiges. Unser Betrieb freilich gehört nicht gerade zu den erstrangigen Eisenfabriken des sonst weltberühmten Ruhrgebietes – leider noch nicht. Und in dieser kritischen Zeit sind wir schon froh, wenn sich die Arbeit halbwegs durchhalten läßt. Indessen gibt es auch bei uns Interessantes zu sehen. Herzlich gern würd' ich Sie herumführen – momentan hab ich wichtigen Geschäftsbesuch.«

»Wir wollen ja auch nicht stören, Papa – Du selber hast den Anlaß gegeben – warst so freundlich, zu uns herauszukommen ..«

»Ei, versteht sich! Wenigstens die Hand schütteln wollt ich unserm lieben Gaste – und Dir sagen, daß Du ihn herumführen sollst. Weihe ihn mal ein bischen ein in den Elementarstoff der modernen Maschine: in den Stahl und seine Herstellung! Also Herr Doktor, auf Wiedersehen heut' abend!«

Stramm verabschiedeten sich die jungen Männer von Herrn Linde, der in sein Büro zurückkehrte.

Unsicher blickte Helmut auf das Reich, das nun besichtigt werden sollte. Diese Anlagen, deren Funktionen nur der Spezialtechniker faßt, diese polternden Maschinenhallen und sauergasigen Schmelzöfen – und dort die Gruppe rußiger Heizer, von der Glut angestrahlt, herkulische Gestalten im Schurzfell, die sich im Hantieren mit Schaufeln und Stangen ebensowenig stören lassen, wie die schnurrenden Treibriemen, die Schwungräder und ausholenden Kolben. All das hatte etwas von der Unheimlichkeit eines vielgliedrige Riesenpolypen. Helmut dachte an den sagenhaften Nordmeerkraken, der von Seefahrern für eine Insel gehalten wurde und dann plötzlich das Schiff in seinen Fangarmen hielt ...

»Vorsicht!« brüllte jemand, und Helmut fuhr zusammen – aber mit ruhiger Sicherheit hatte ihn Gerhart am Arm gepackt und mit einem Ruck seitwärts gezogen. Zwei Arbeiter, eine Schiene auf der Schulter, schritten vorbei.

Auffallend waren birnförmige Heizanlagen mit Schloten, die wohl zwanzig Meter emporragten. Gerhart erläuterte: »Da wird das Eisen geschmolzen und von der Kohle gereinigt, so daß es gußfertig herauskommt. Du siehst die Treppe, die an jedem Schornstein emporführt zu einer Brücke. Von dort wird Koks und Eisen in die Gischt eingeworfen, schichtweise abwechselnd. Durch ein Windgebläse wird die Heizung angeregt, und im Sauerstoffgehalt der eingeblasenen Luft reinigt sich das geschmolzene Metall vom Kohlenstoff. Verbrennung, Schmelzung, Reinigung erfolgen im unteren Teil des Ofens, dann fließt die Masse heraus.«

Helmut nickte: »Der Schmelzofen ist also eine Art Wurm, der oben sein Maul hat, das in den Verdauungskanal übergeht.«

»Allerdings! und sogar Wiederkäuer gibt es hier. Dadurch, daß wiederholt verdaut wird, wie Du Dich ausdrückst, säubert sich die Schmelzmasse vom Kohlenstoff und ergibt ein besonders starkes, schmiegsames und elastisches Metall. Bester Stahl ist ganz von Kohle befreit.«

»Das ist also ein Stoffwechsel und erinnert an den Verbrennungsprozeß der Lebewesen. Indem wir Luft einatmen, werden wir Kohle los, die sich mit dem eingeatmeten Sauerstoff zur Kohlensäure verbindet. Was wir Leben nennen, hat viel Ähnlichkeit mit einer Flamme, die Sauerstoff verzehrt.«

»Onkel Lamettrie würde Dich gerne so reden hören.«

»Ich müßte freilich die Einschränkung machen, daß mein Vergleich sich nur auf die sinnfällige Seite des Lebendigen erstreckt. Die mechanische Weltansicht, wie sie Herr Lamettrie vertritt, läßt lediglich die eine Seite gelten. Wir hingegen, nicht wahr, Gerhart? wir halten uns an die Tatsache, daß Lebendigkeit nicht etwas bloß Sinnfälliges, ein außen Gegebenes sein kann, weil es ja sich selbst erlebt

Anerkennend nickte Gerhart: »Leben ist kein Ding, sondern ist Erleben; zu unseren Erlebnissen gehört unser Körper. Wenn aber Onkel Lamettrie sich darauf versteift, den Menschen eine Maschine zu nennen, so bleibt er stecken in der oberflächlichen Aehnlichkeit des Lebens mit einem Mechanismus.«

Inzwischen waren die Freunde in eine Halle gelangt, die etwas von einem großen Bahnhof hatte. Unter der kuppelförmigen Glasbedachung waren Brücken, auf denen Arbeiter hantierten. An den Ketten mächtiger Kranen hing zusammengebündeltes Metall und wurde in bereitstehende Eisenbahnwagen befördert. Und siehe da, eine Kanne von der Größe einer Stube füllte sich an einem Stahlofen mit einlaufender Glutmasse, um alsdann durch einen der Krane mit bedächtiger Sicherheit seitwärts befördert zu werden. An die Arbeitselefanten Indiens wurde Helmut gemahnt, die auf einen Wink des Menschen mit ihrem Rüssel eine schwere Masse auspacken und mit ruhevoller Geschicklichkeit hierhin, dorthin heben. Im vorliegenden Fall war der »Elefant« eine Maschine. Und jetzt wurde die große Kanne zangenartig angepackt – war's von einem riesenhaften Gorilla? Langsam kam sie in eine schräge Lage, so daß ihr glühender Inhalt in Formen floß.

»Stahlmasse ist das – Gußstahl! Bessemer hat diese birnförmigen Gefäße erfunden. Von der Luft in wundervoller Verteilung werden sie durchströmt, so daß sich das Metall sauber badet und durch den starken Verbrennungsprozeß ganz flüssig wird ... Nun aber komm! Auch vom Walzen des Stahls müßt Du etliche Vorstellung bekommen. Du kennst das berühmte Gemälde Menzels Eisenwalzwerk? Also!« Und Gerhart leitete seinen Gast durch ein Wirrsal von Geräten und Lagerungen. Auf einer Strecke standen Arbeiter, als hätten zwei Parteien sich zu einem Wettspiel gruppiert, etwa zum Fangball; nicht Ballschlägel hatte man in der Faust, sondern mächtige Zangen, und nicht geworfen wurde, sondern gerollt, erst hierhin, dann wieder zurück – und es waren glühende Eisenstangen. Anfangs kurze, klobige. Indem sie mittels der Zangen in Lücken zweier Stahlwalzen geklemmt und gewalzt wurden, nahm ihre Dicke ab, die Länge zu. Mehr und mehr – je öfter sie die Walzenklemme passierten. Zuletzt hatte Helmut den Eindruck, als komme von drüben eine glühende Riesenschlange daher geschossen und fahre durch die Walzenlücke. Ihr Angriff, der bedrohlicher war, weil sie sich unberechenbar schlängelte, als wolle sie den gegenüberstehenden Arbeiter überrumpeln, wurde von diesem kaltblütig abgewartet. Sobald ihm der Schlangenkopf bis auf einen Meter nahe war, packte ihn die Zange, hatte ihn nun in ihrer Gewalt und lenkte die glühende Schlange so sicher, daß sie im Hin- und Rücklauf immer dünner gewalzt und endlich vom drüben befindlichen Partner abgetan wurde.

»Das sieht aus« – raunte Helmut – »als ob Söhne des Herkules in der Unterwelt ein Spiel mit Höllenschlangen treiben. Diese wilden Germanen-Kerle! diese sehnigen Arme und keulenartigen Fäuste. Breit wölbt sich der Brustkasten unter vorgespannter Lederschürze. Von der Stirne perlt Schweiß, zur Tatkraft gespannt jeder Gesichtszug, jede Muskel an Bein und Arm. Und jeden Augenblick der Situation muß der Geist beobachten, beherrschen ... Alle Achtung vor solchen Helden der Arbeit!«

»Ja wohl!« triumphierte Gerhart – »solch eine geschulte Stahlmannschaft bringt Frankreich nicht auf die Beine, und sein Raubzug ins Ruhrgebiet zwingt uns nicht auf die Knie. Deutschland kommt wieder hoch, Junge!« Zur Bekräftigung kniff Gerhart seinen Freund in den Arm.

Heiter versetzte dieser: »Ganz gewiß! Und zwar vor allem durch deutschen Sinn. Der ist nichts Mechanisches – und überhaupt der Mensch keine Produktionsmaschine. Wenn Dein Onkel sagt: l'homme machine! setz' ich dagegen das Wort eines deutschen Kesselschmieds. Im Kesselrohr hämmert er Nieten und schwitzt in solcher schwülen Enge – aber seine Menschenseele hält er heilig – zu unseren besten Lyrikern gehört er.«

»Du meinst Heinrich Lersch?«

»Ja, den Industriearbeiter von München-Gladbach. Aus seiner Dichtung, die mir dieser Tage handschriftlich begegnete, stöhnt es wild:

O Mensch! wo bist du? Wie ein Käfertier
In Bernstein eingeschlossen, hockst du rings in Eisen,
Eisen umpanzert dich in schließendem Gewirr.
Im Auge rast die Seele, arm und irr.
Heimweh heult wahnsinnswild,
Heimweh reimt süße Weisen
Nach Erde, Mensch und Licht ...
So schrei doch, Mensch in Eisen!

Das ist ein Aufschrei der Natur, die zur Sklavin der Maschine werden soll. Im Menschen der keimende Gott läßt sich nicht ersticken. Und mag er, wie ein Käfer in Bernstein ins Widernatürliche eingetaucht sein – es kommt einmal die Zeit, wo der Käfer erlöst wird, der Vogel aus der Eierschale schlüpft, der mechanisierte Mensch zur vollen Lebendigkeit aufersteht.«


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