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52. Ausblicke in die Zukunft

Die Gäste hatten sich verabschiedet; nur Frau Rade und der Forstmeister waren auf allgemeinen Wunsch geblieben. Frau Rade für wenige Tage, da sie mit der weiteren Vermietung ihrer möblierten Zimmer zu tun hatte.

Der Forstmeister, der sich hier behaglich fühlte, hatte mit Lamettrie folgenden Plan verabredet: Die Hochzeiten beider Paare sollten möglichst bald und in aller Stille erfolgen, wenige Tage danach ihre Abreise nach Amerika. Bis zum ersten September galt es, den neuen Betrieb der mechanischen Schaubühnen einzuführen. Dann war die Mission Helmuts und Pächs erledigt, noch einige Zeit konnten die Paare drüben bleiben, um das amerikanische Leben kennen zu lernen und das Geschäft zu beobachten. Dann konnten sie heimkehren.

Inzwischen wollte sich Lamettrie des Umgangs mit dem Schwager erfreuen und ihn auf einer Reise ins Riesengebirge begleiten. Hier wohnte Erlenbachs Tochter mit ihrem Manne, der ein schlichter Förster des Grafen Schafgolsch war. Ihren Vater wieder einmal als Gast zu haben, darauf hatte sie lange gehofft, und auch den Forstmeister verlangte nach ihr, insbesondere freute er sich auf seinen Enkel, den siebenjährigen Friedel.

Das Tagebuch hatte Lamettrie nun ganz gelesen, und eine Reihe von Abschriften herstellen lassen, um Julias Leben und Sinnen jedem Verwandten zugänglich zu machen. Was ihm noch fehlte, waren die mündlichen Ergänzungen durch den Forstmeister und vor allem durch Frau Rade, die ja bald abreisen wollte.

Sie und der Forstmeister nebst Helmut und den beiden Bellings waren daher zu einer Tasse Kaffee in die Einsiedelei geladen. Es war kurz vor der standesamtlichen Trauung des Paares, an einem freundlichen Junitage. Die Wände waren noch immer mit schwarzem Sammet beschlagen, diese feierliche Ausstattung des unteren Raumes sollte bleiben. Die abgeblühten Rosen waren durch andere ersetzt.

»Schön! daß dieser Raum so weihevoll bleibt!« – sagte Hulda.

Friedrich schenkte den duftenden Kaffee ein und reichte den Kuchen.

»Wer weiß« – sagte ernsthaft der Alte – »ob wir alle uns hier noch einmal zusammenfinden. Wir kennen das Leben. Da kann sich allerlei ereignen. Du, Hulda, schwimmst mit Deinem Helmut bald auf dem Ozean. Und ich bin ein Greis, dem trotz seiner Rüstigkeit etwas Menschliches zustoßen kann. Wir alle sind jener rätselhaften Macht anheimgegeben, die man Zufall nennt. So muß ich mich wohl beeilen, um noch über Julias Schicksal einiges zu hören. Auf welche Weise sind Sie denn mit ihr in Verbindung gekommen, Frau Rade?«

Nachdem sie in ihrer Tasse gerührt hatte, erwiderte Frau Rade, in den Anblick des vergrößerten Bildes der Schauspielerin vertieft: »Ja! so – nur ernster sah sie aus, als ich ihr vorgestellt wurde vom Vertreter der Bremener Firma, welche nach dem Tode der Frau Linke deren Tee- und Kaffeegeschäft dem Fräulein Erlenbach übertrug, die seit einiger Zeit in Münden ansässig war. Ich sollte nach wie vor Verkäuferin im Laden bleiben, auf dessen Bedienung ich ja eingearbeitet war. Die Firma war für Marie Erlenbach gewonnen durch eine im benachbarten Cassel wohnende Frauenrechtlerin. Obwohl Marie ihr Kind hatte, ließ sie sich doch freimütig Fräulein Erlenbach nennen. Bei unseren Kunden, auch bei Damen, die sonst prüde sind, genoß sie bald allgemeine Achtung wegen ihrer tapferen Mütterlichkeit. So hatten wir tüchtig zu tun, und das Geschäft ging besser als vorher bei der Witwe Linke. Nach einigen Jahren hatte Marie ihr kleines Kapital, das ihr Vater den Kindern hinterlassen hatte, nahezu verdoppelt ...«

»Und die Schauspielkunst?« fragte Lamettrie. »Julia hatte doch eine glänzende Begabung dafür. Fiel es ihr nicht schwer, darauf zu verzichten?«

»Ich wüßte nicht, daß sie für die Schauspielerei besonders geschwärmt hätte«, antwortete Frau Rade. »Doch hatte ich mal gehört, daß Marie Erlenbach mit einem Weihnachtsmärchen auf dem Theater ziemlichen Erfolg hatte. Ich glaube, es wurde in Cassel, Göttingen und Hildesheim gespielt.«

»Um den Text des Weihnachtsspiels will ich mich doch bemühen!« schaltete Lamettrie mit Eifer ein.

»Meine Schwester hat mir nie davon gesprochen«, meinte der Forstmeister – »aber als ich auf der Mündener Forstschule war, hatte sie Heimlichkeiten mit einer Theateragentur. Will doch unter ihren Briefen von damals nachsehen, ob da vielleicht Hinweise zu finden sind.«

»Ach ja! tu das!« bat Lamettrie – »ich möchte über alles unterrichtet sein, was ihre Seele bewegt hat. Wie sanfter Abendschein soll mir das den Rest meiner Tage verklären, und Milde wird mein Schicksal durchleuchten.«

»Ja, auch sie war wie Abendsonne« – meinte der Forstmeister gerührt – »in der Enge lebte sie, aber immer ging etwas Strahlendes von ihr aus.«

»Ihre Poesie« – sagte Lamettrie – »hat sie also nicht verlassen – weder in ihrem nüchternen Verkaufsladen noch in ihrer Häuslichkeit. In all den kleinen Zärtlichkeiten für ihr Kind träumte sie von heiterem Elternglück und einer sonnigen Zukunft für ihr Kind, während mein Leben ach! so sinnlos verlief – immer darauf eingestellt, möglichst viel Dollars zusammenzuraffen.«

» Ueberschätze nicht das Glück der Eltern!« sagte der Forstmeister – »sieh mich an, jetzt wo ich mit meinem grauen Bart mein Ruhegehalt habe, bin ich ein verlassener Alter. Meine Frau ist weggestorben, der älteste Sohn im Weltkrieg gefallen, der andere nach Amerika ausgewandert, die Tochter, wie Du ja weißt, auch in der Ferne ...«

»Du wirst sie aber bald besuchen« – tröstete Lamettrie – »wirst Dich ihres häuslichen Glückes erfreuen und des Enkels, wirst den Schwiegersohn auf seinen Waldgängen begleiten ...«

Des Forstmeisters Augen leuchteten: »Gewiß! Und Du sollst dabei sein. Da kann ich Dir zuweilen von Deiner Julia erzählen. Na ja, so werden wir doch noch was haben, wie es scheint, wir alten Knaster!«

Lamettrie schlug in die dargebotene Hand: »Topp! Was aber Deinen Sohn in Amerika betrifft, der soll uns noch dieses Jahr zurück nach Deutschland, weil er das amerikanische Treiben durch die deutsche Heimatbrille sieht. Helmut und Hulda! Ihr müßt ihn mit herüber bringen! er kann in meinem Schachthof-Museum auch noch eine Stellung finden, ich will es ja zu einer Anstalt für Volksaufklärung erheben.«

»Nun sieh mal, Helmut!« sagte Hulda – »Mit welcher Unternehmungslust unser Großvater seine Pläne macht; da dürfen wir Jungen auch nicht zurückbleiben.«

»So soll es sein!« erwiderte Helmut mit Festigkeit – »wir alle wollen am Aufbau zerrütteter Verhältnisse mithelfen, an der Aufklärung und Verständigung der Völker!«

»Ich sehe schon«, meinte Frau Belling wehmütig – »da bin ich auf meine alten Tage allein – oder ich muß noch umlernen.««

»Oho!« warf der Forstmeister ein – »wer noch so rüstig ist, sollte nicht von alten Tagen reden. Ich fühle mich noch gar nicht alt – und ich bedaure, schon in Ruhestand versetzt zu sein. In allen Waldangelegenheiten bin ich den Jungen gleich. Nur die Gesetzschablone setzt unsereins vorzeitig auf den Altenteil.«

»Ich gönne Ihnen die Ruhe« – bemerkte Frau Rade – »die ist Ihr Recht. Aber ich muß auch gestehen, Herr Forstmeister, Arbeit und Sorge, so 'n bischen Not, oder Knappheit will ich lieber sagen, ist ein Sporn für unser bejahrtes Blut – das ist's, was uns jung erhält. Die Jahre des hungrigen Durchhaltens und der Staatsumwälzung sind für uns eine strenge Schule gewesen.«

»Wie denken Sie sich« – fragte Helmut – »nun nach den Veränderungen, die in unseren Verhältnissen eingetreten sind, Ihre wirtschaftliche Zukunft? Da gibt's ja wieder eine Umstellung für Sie ...«

»I! Herr Burger, ganz einfach! Sie hatten bisher meine möblierte Wohnung. Nun Sie heiraten, freue ich mich Ihres Glücks und nehme einen andern Mieter.«

»Das läßt sich hören« – erwiderte Helmut – »aber was wird aus meinem Schuhladen

»Nun, den verkaufen Sie!«

»So kurzweg möchte ich ein Stück meiner Lebensarbeit nicht abbrechen, einfach durch Verkauf. Was meinen Sie, Frau Rade, wenn nun Sie den Laden übernehmen wollten?«

»Ich? Ach du lieber Gott! Allein wäre ich einem solchen Geschäft kaum gewachsen.«

Helmut scherzte: »Sie kennen doch das Wort: Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken?«

Frau Rade erwiderte: »Manchmal mag das ja zutreffen. Aber es gibt noch ein andres Sprichwort, und das heißt: Schuster, bleib bei deinem Leisten!«

»Nun denn, Frau Rade, wissen Sie keinen Schuster, mit dem Sie in Verbindung treten könnten? Ich denke an so ne Art Compagnon.«

»Compagnon?« Vor Erregung stieg ihr das Blut zu Kopf – »Nein! Das gäbe bloß Streit. Es müßte schon einer sein ...«

»Der zu Ihnen paßte! Etwa wie ...« Helmut zögerte, er weidete sich an ihrer Verlegenheit. Dann mit einem prüfenden Blick fuhr er fort: »Etwa wie Herr ... darf ich mal indiskret sein? Herrn Schuhmachermeister Lüdecke aus der Invalidenstraße meine ich. Sie stehen sich ja gut mit ihm.«

Frau Rade sprang vor Erregung auf, fand aber keine Worte.

»Na, beruhigen Sie sich. Lüdecke ist noch ein rüstiger Kerl und versteht sein Handwerk ... Das Verloben liegt ja ohnehin jetzt in der Luft.«


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