Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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75.

Rahel an Marwitz.

Dienstag Vormittag halb zwölf, d. 13t. April 1812, bei bedecktem, nicht trübem Himmel.

Ihr Brief von vorgestern, mein lieber Freund, ist ganz in meiner Seele aufgenommen, ohne durch mein Herz gegangen zu sein. Ist solcher Unsinn schon erfunden? So fühl' ich es, es ist zu gedrückt von Totenangst, mein Herz, es kann nicht leben, wie sollt' es an den Frühling kommen? Und doch hab' ich es tief in der Seele geschlossen und mit einem dankbaren Frohsein, als gehörten unsere Gemüter in eines, daß sie eine selige Minute, eine natürliche Empfindung hatten. Voriges Jahr waren Sie gedrückt, und mein Herz regte sich, suchte noch zu leben; dies Jahr ist mein einziger Trost, daß Ihres lebt und so seine Welt empfindet. Der Gedanke, daß ich auch wieder zum Leben kommen kann, steht dabei entfernt, ist nur ein Gedanke, ich fühl' ihn nicht, er bewirkt keinen Umschwung in Herz und Blut. Auch bin ich über nichts stumpf, nur nach und nach vom Umstand zu Umstand wahrlich zusammengedrückt, vielleicht nicht erdrückt. Voriges Jahr war wohl alles eben so, aber das Wetter besser; ich konnte gehen und ging, ich hatte gewisse Aussicht nach mehr als zehn Jahren Entbehrung Feld, Wald, Wolken, Dorf, Berg zu sehen; ich war pekuniär beschränkt, aber noch nicht besorgt, Herr in meinem Zimmer. Jetzt bin ich ohne alles dies für die nächste Zeit und ohne alle Hoffnung und mit jeder Furcht für künftige. So sollte man in der Lage, in der ich noch bin, nicht schon sein; ich weiß es und sehe mich selbst aus anderer Menschen Gesichtspunkt. Aber weiß einer, weiß ich es noch, wie es mir Tag vor Tag, Stunde vor Stunde, zeitlebens erging, welche Schläge, welche Berührung auf mein Herz kamen, wie Geist und Seele beständig gestört, wie ihrem reinsten Dasein widersprochen, wie Wachstum jeder Art gehemmt anstatt befördert bei der Unglückseligen ward; wie nichts sich entwickelte in Körper und Seele, als eine doppelte, immer gesteigerte Empfindlichkeit – sensibilité. Ich habe schon aufgegeben, als ich aufzugeben für unmöglich hielt; alle Ambitionen, alle Bestrebungen liegen weit hinter mir in Vergangenheit, zusammengefallen wie morsche Netze, die ein Wunder, ein Tod vor mir zerstörte. Ruhe aber, Luft, Aussicht, Land, frei Atmen bedarf ich nun. Ich bin zu elend, was soll mir nun tragen helfen, wenn mir dies noch fehlt? Ich bin noch still, ich bin noch vernünftig, ich verstehe noch andere; aber das Herz fehlt mir. Dies läßt sich nicht täuschen, dies hat nur ein reines, tiefes Bewußtsein, dies ist von einer andern Welt, und es will nicht weiter leben, wenn keine Freude durchzieht, keine Ruhe darin ist. So sollte ich Ihnen auf die schöne, liebliche ganz in sich beschlossene Melodie, die Sie mir schickten, nicht antworten. Ganz als eine solche erschien mir Ihr Brief, ein schöner, gelungener Abguß Ihrer damaligen Seele, von Worten zwar, aber sie sind nicht aus der Grammatik, nicht aus dem Wörterbuch, Ihre Empfindung verwandelte sie wieder zu Urtönen, zu organischen, unmittelbaren Ausdrücken des Gemüts, zu wahrer, geseufzter Musik. Solch einen guten, reinen, schönen Brief haben Sie nie geschrieben, wird auch solcher selten geschrieben, er führte mich wahrlich mit Ihnen, wo Sie waren, umher und ließ mich die Bewegung in Ihnen sehen, wie die in Ihrem Gesichte, wenn Sie vor mir stehen. Glauben Sie's, ich verstehe andere noch, reden Sie zu mir; und seien Sie versichert, Sie hätten keinem dankbareren, keinem empfänglicheren, keinem dafür einsichtigeren von Ihren Freunden schreiben können in jener Gemütsverfassung als mir. Es regt sich noch Stolz, Freude und Dank in mir gegen mein karges Schicksal – sagt der Italiener –, daß Sie zu mir in dem Augenblick sprachen, und daß ich noch einen solchen Freund habe. In meinem Sonnabendschen Brief hätte ich Ihnen noch schreiben mögen, es stand vor meiner Seele, wie wenig wir uns doch im Leben sind, wie abwärts jedem seines für sich geht, und welch ein namenloser Verlust es für den andern wäre, wenn einer von uns stürbe; wie lebenslänglich tief empfunden und bedacht, wie ganz und gar unersetzlich und untröstbar, und alle Tage und hundert Mal in einem reich erwogen. Und doch geht man blind und stumpf neben sich selbst hin. Ja wahrlich, auch aus sich selbst sucht man nicht das Beste vor lauter Störung, daß man das Nötige nicht hat. Denken Sie das Weitere!

Meyer, der auf wenige Tage in Posen weg war, ist zerstörter, echauffierter, unsinniger zurückgekommen als je. Dies schreib' ich Ihnen, weil es doch zu mir gehört und ich mich davon nicht trennen kann, wie ich könnte. Vorgestern Abend war der Geheime Rat Wolf bei mir, der sich tags zuvor gemeldet hatte, um Madam Spazier kennen zu lernen. Ich zitierte Robert, und Herr von Lüttwitz kam herein geplatzt. Wolf war gesprächig und ziemlich alle. Mich aber treiben, wenn es nicht innige von Menschen zu Menschen sind, alle Gespräche auseinander, oder es müssen sinn- und geistreiche Schlagreden sein. Ich bin verdorben. Adieu! Minna Spazier ist gekommen, Barnekow hat dem Rittmeister geschrieben, er sei frei und kommt bald nach Berlin. Willisen hat auch das Geld, was der Irrtum betrifft, von Wien geschickt; nächstens die Berechnung.


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