Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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20.

Rahel an Marwitz.

Sonnabend früh neun Uhr, d. 1t. Juni 1811.

Gestern Abend um halb zwölf kam ich mit Heister im schönsten, aber kalten Mondschein nach vielen Promenaden mit den gräßlichsten Kopfschmerzen nach Hause. Die Geschichte dieser Schmerzen nachher in zwei Worten, um Ihnen eine Idee meiner Gesundheit zu geben, – und finde, wie unverhofft! Ihren Brief. Mein lieber, lieber Marwitz, wie berührte dieser Brief lieb und schmerzhaft mein Herz! Wo stellt der mich hin! Wie der Staatssekretair der Elisabeth, der das Urteil der Maria in Händen hat und es auf seine Gefahr vollziehen lassen soll oder nicht. Erst neulich, als ich Maria wieder sah, dacht' ich, nie hättest du so gehandelt wie der, Elisabeth müßte aus dem Kabinet wieder vor. Gott hat mir eine große Gabe verliehen; ich habe ein Herz, was außer sich sein kann, keines Menschen Geist ist mehr darauf gestellt, faßt mehr, was verzweifeln ist, als meiner; will ich aber einen Gegenstand erwägen, alle seine Seiten betrachten, ihn in seinen Beziehungen richten und messen, so legen sich wie durch ein Gottesgebot alle Wellen des hochbewegten Gemüts, und wie auf einem erhabenen Berge allein vermag ich zu urteilen und zu beschließen. Nur eine Leidenschaft, Zorn, kann mich da hinabschleudern. Es kommt darauf hier an, in das, was wir vor uns haben, genau zu finden, was in Ihrem Gemüte vorgeht, was dies Gemüt, durchaus gestellt in der Menschenwelt, nicht ertragen kann, und genau zu untersuchen und klar hinzustellen, was sie ist, diese Welt 1811, und was unser Vaterland in ihr ist. Ich habe jetzt Ihren Brief wieder gelesen. Sie werden sich der Dilemmas erinnern, die Sie uns darin vorlegten. Eins davon heißt so: »Soll ich mich nun anschließen an die leibliche Seite meines Vaterlandes, die ich erst begeistern, erst einer großen spekulativen Ansicht unterwerfen muß, wenn sie mir nicht ganz gebrechlich und tot erscheinen soll?« Bei welcher Sache in der Welt muß dies ein Mensch wie Sie nicht? Ist irgend in der Welt etwas so, als es der Haufen sieht, der darum und darin wühlt? Machen die höheren Beziehungen, die wir allein im Innern bearbeiten, nicht ganz allein das Hohe einer jeden Angelegenheit, eines jeden Gegenstandes aus? Wie ein anderer lüderlich wird, so wollen Sie sich doch nicht in jene Angelegenheit stürzen, nur damit Sie etwas trägt, hebt und fortbringt, was nicht Sie ist? Sie ist schön, diese große Sache, wie Sie sie mir schildern. Auf Reisen gehn, die Freunde finden, Schönes mit ihnen vollbringen und mit einem Male eine zerbrochene bürgerliche, eine krankhafte Existenz hinter sich lassen. Tun Sie das, sag' ich Ihnen nach dieser Ansicht: und bald, denn hierbei gilt kein Warten, wie bei Kammerdienste nehmen. Nun stellen Sie sich einmal einen Augenblick vor, wie Ihnen mitten und zwischen den österreichischen Schlachten war, wie hohl, wie leer, wie elend; wie alles sich in kleinen Mühseligleiten, Strapazen und Unsinnigkeit zerspaltete. Wie fremd und allein Sie sich trotz der Freunde, unter den näher verwandten Sprachgenossen fühlen mußten, bloß weil ein Gesetz, eine Sitte, eine Ambition uns doch mit ihnen nicht verbindet. Nationales schaffen Jahrhunderte, und der beste Wille des besten Einzelnen kann es nur wünschen, nicht schaffen. Dies bedenken Sie? Wie wird es unter den zwei schon unter sich verschiedenen Völkern sein, wovon das eine so sehr zur Nation gezimmert ist, daß es glatt und fertig nichts Fremdes mehr aufnimmt? Ein anderes ist es, wenn der dringende Augenblick Nation mit Nation aufregt, wie Sturm verschiedene Erden; dann ist solch Aufstehen natürlich und gemächlich in seiner Not. Ein einzelner reißt sich immer nur los und fühlt in oft wiederholten Momenten dies Gewissen und dies Alleinsein. Wären Sie einmal auf der Insel dort oder in jenem Lande, auch dann ist ein Mitgehn oft natürlich; man hilft angegriffenen Fremden, wo man als Gast Freund geworden ist, und erzählt nachher den Hausgenossen daheim, was dem schlechten Streich begegnet werden mußte und was ihn aufgehalten hatte. Es ist hart, in einem stagnierenden kranken Lande mit zu siechen, es ist hart, die kranken Freunde der pesthaften Not zu überlassen und dereinst zu erfahren oder nie, wer blieb, was blieb, wer sank. Unmöglich kann und werde ich Ihnen sagen, siechen Sie mit. Es giebt edle Gemüter, die lieber sterben, rüstige, die den gesunden Bluttod lieber suchen. So sank Louis. Und sind Wissenschaften wirklich nichts für Sie, so müssen Sie hinziehen wie er. Zwei Dinge erwägen Sie noch. Kann es Ihre Gesundheit, vermag sie es? Und werden Sie nicht einsam ohne Krieg und Bewegung in den fremden Ländern liegen bleiben? Dies müssen Sie und der Arzt und die ersten zwei Monate bestimmen, und – sollen wahrlich die Bessern uns verlassen und wie in einem Naturaufruhr das Unterste nach langem, krassem Stillstand und unsichtbarer Nahrung zu oben kommen und das Ungefähr entscheiden, ob dies sich bilden kann? Aber alles in diesem Brief hier Erwogene muß nicht erwogen werden und allein diese allein wichtige Frage gefragt werden: Können Sie es aushalten hier zu bleiben oder nicht? Müssen Sie sich selbst noch Beweise von Tätigkeit geben; schämen Sie sich zu sehr, wie ein Alter oder wie ein Weib oder wie ein Kind oder ein Pflastertreter, wie Sie sich einmal ausdrücken, hier herum zu warten. Können Sie sich wartend nicht achten und nicht achten lassen, so müssen Sie dahin je eher je lieber. So ist es ein Duell und mehr nicht, aber das ist in seinem Augenblick auch sehr viel, denn man kann nicht weiter leben. Und ich rate es Ihnen aus tiefster, innerster Seele, aus dem Herzen voll von Liebe, wie ich es mir selbst raten würde. Sie müssen nicht elend leben. Hier ist der Platz, wo ich Ihnen Paulinens letzten Brief schicken muß. So ist es, wenn einer tot ist. Keine Kunde von ihm, kein Laut zu ihm, von ihm. Pauline hatte acht Tage ein Messer in ihrem Bette nach L[ouis] Tod, und sie hat mir geschworen, so daß ich's glaube, sie hätte sich erstochen, wenn sie hätte [es] nur im gleichen Krieg können, daß es L[ouis] weiß, aber so in der ewigen Stummheit ewige, vielleicht doppelte Getrenntheit! – Mit seinen Briefen sitzt man dann, wenn einer tot ist; nichts, nichts ist mehr, kein Zeichen des wühlendsten, empörendsten Schmerzes der allgewaltigen Liebe dringt mehr durch keine Möglichkeit zu ihm. Aber alles müssen Sie tun, ehe Sie elend leben. Sie können ja auch Glück haben, leben bleiben und vieles heilen in der Welt. Gehen Sie, sagt übernatürlich ruhig mein tiefster Geist, ich mag mich untersuchen, wie ich will. In meiner ganzen Liebe zu Ihnen sehe ich, ich mag's machen, wie ich will, nur Sie; gewaltig lenken Sie von allem Eigennutz, von aller Beschauung und Befühlung meiner eigenen Gefühle meine ganze Seele auf Ihr Sein. Sie fühle ich, wie Ihnen sein muß, immer. Gehen Sie, und wenn Sie tot sein werden, das Ärgste, so wissen Sie jetzt, werde ich denken: Leben, so leben, so elend leben, das konnte er nicht. Und kann sich jetzt in Ihnen und um Ihnen nichts ändern, so werd' ich nachher nicht denken, es hätte geschehn können. Dies sei Ihr Trost über mich, dies wird meiner sein. Ein herrliches Zusammenleben giebt es doch nicht; wäre ich Ihr Freund, so wie ich eine durchaus Elende bin, so verließ ich Sie jetzt nicht. Nun, mein teurer Freund, erwägen Sie sich selbst, was ich nicht kann, und schicken Sie mir das Urteil. Ich will ihm kein Epithet geben, diesem Urteil. Lassen Sie sich aber durch die Strenge, die das Zusammenschieben alles zu Erwägenden schon allein in diesem Briefe ausmacht, nicht übereilen, und meinen Sie nicht, Sie müßten auch so schnell wählen, als der Brief dringend scheint. All diese Worte sind nur Gedanken, wie andrer Menschen ihre über jedes Unternehmen und Geschäft. Lassen Sie mich diesmal auf keinen Brief schmachten. Länger als den 12ten bleibe ich nun durchaus nicht. O, wie viel, über wie vieles habe ich Ihnen so einen Tag über zu sagen. Was ich kontinuierlich noch für Entdeckungen in mir mache! Wie vieles sähen wir! In Briefen geht das nicht. Von meinem Kopfschmerz, – weil es heute Nacht gewittern sollte, kriegte ich sie, bei ganz kühlem und schönem Wetter. Es war Gewitter-Kopfschmerz, aber es dachte nicht an Gewitter, also könnt' ich ihren Grund nicht finden. Ein lauter, langer Donnerschlag weckte mich um drei Uhr in der Nacht. Einem starken Gewitter sah ich zu. Nun bin ich besser. Adieu.

R.R.

Eins noch vergaß ich; vielleicht der Aufenthalt, die Reise allein nach der Insel tun Ihnen schon gut. Schwer aber ist es jetzt schon hinkommen.

Ich muß den Brief wieder aufreißen. Er drückt nicht aus, was ich im Ganzen sagen wollte; ich sprach zu viel vom Tod und von der Trennung. Denken Sie an das Leben, und wie die Insel das gesunde – doch verhältnismäßig gesunde – Volk, wie die Reise, das viele Neue, zu Besichtigende, zu Vergleich wird, auf Sie wirken. Sie beschäftigen, rüstig machen muß. Und was Sie uns hiervon mitbringen, dereinst für uns gebrauchen können. Seien Sie dort fleißig. Sie werden es dort können. Vor allen Dingen aber seien Sie gesund und wenigstens im Stande hin zu gehen. Reisen setzt immer eine große Mäßigkeit voraus, oder man muß sie dazu voraussetzen. Gebrauchen Sie die allgemeine, die nicht abzuändernde Pause zu einer Reise und bedenken Sie dies und antworten Sie mir. – Mittwoch nach einem Regen war ich mit allen Schleiermachers und ihm, mit den drei Schedens, Harscher, Madam Frohberg und Liemann in Charlottenburg. Ich schickte zu Schedens, Schleiermachers kamen von ungefähr zu mir, Madam Liemann auch. Kurz ich machte ihnen allen Lust. Es war sehr schön, aber der, der mit mir gleich sieht, fehlte mir, also beinah die Augen. Alle freuten sich. Mit Harscher sprach ich nicht ein Wort, par le hazard le plus juste du monde. Im Freien ist er schrecklich, und in der Schleiermacherschen Familie denkt er und muß er munter sein.

Prinz Louis Ferdinand, der am 10. Oktober 1806 bei Saalfeld fiel. – Friederike Liman, eine Freundin der Rahel.


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