Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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10.

Rahel an Marwitz.

Sonntag Vormittag im hellsten Sonnenschein, d. 5t. Mai 1811.

Sie sind nun im dicksten Frühling, das denk' ich mir. Hundertfälliges Grün, geputzte Blüten, alles empfängt Sie und weht Ihnen Juni-Gedanken an, das tut der Mai, leichtere Schatten präsentieren sich schon. Ob ich es Ihnen gönne! und sollte ich unterdes eingesperrt sein. Und doch ist es mir, als raubte man Ihnen von dem Genuß, weil ich nicht zu sehr wie Sie genieße, kein Wort höre. Gestern war ein verdutzendes Wetter, und den ganzen Tag beleidigte es mich, daß es Ihr Reisewetter sein mußte. Wie ganz anders wäre Ihnen das Entkommen aus der Stadt bei einem lieblichen Wetter wie heute vorgekommen. Ich rechnete mich zu Tode, den ganzen Tag, wie das ist. Als ich nach elf Uhr von Madame Frohberg ging, könnt' ich durchaus keine Gewißheit in mir bekommen, daß Sie schon zu Hause sind, weil man immer später abreist, als man aussetzt. Wie ich aber zu Hause war und es halb zwölf wurde, war mir mit einem Male, als wären Sie nun bei sich. Es regnete um diese Zeit nicht; der Mond leuchtete, obgleich seine Scheibe nicht zu sehen war, über die ganze Straße, der ganze Markt, die Stadt roch nach Bäumen wie ein Wald, kurz der Geruch, nach dem Sie immer im Tiergarten frugen. Herr von Quast führte mich – er war mit mir aus der Komödie gegangen, wo er mich besucht hatte, und ich schleppte ihn mit zur G. – Robert ging neben her; Quast fing zuerst an, welch göttlich Wetter, nichts ist schöner als solcher Abend; – es schlug eine Nachtigall seliger, stiller, wenn dann eine singt, – überhaupt war der gestern sehr mild, sanft, zart, sittig; die vornehme Gesellschaft tut ihm gut, auch, glaub' ich, liebt er wieder. Ich lobte den Baumgeruch, und so kamen wir an. Ich blieb mit Robert allein und machte bald ein Ende. Nun kommt der Steckbrief von Wolff, in dem dieser stecken sollte, welches nun umgekehrt ist, und da Sie schuld sind. Sie es auch entschuldigen müssen! – Sehen Sie, wie Jean-Paulsch man wird, wenn man nicht schreiben kann, und nur etwas Witz stellt sich ein. Mein tiefster Ernst. Ich kam natürlich, wie wenn man allein geht, und niemand auf einen wartet, zu spät nach Möllendorffs Loge. Und im Korridor hört' ich schon eine mir unbekannte Stimme sehr theatralisieren; das Aufeinanderfolgen der Scenen war mir nicht gegenwärtig, und stutzend dacht' ich, wenn er das nur nicht ist. Ich trete ein, und Maria ist auf der Bühne mit Mortimer vor sich. Ich erkenne W[olff] und sehe zu aller erst eine verdrehte Bewegung des Unterarmes und der Hand (aus der er auch nie herauskommt). Auch mit den Fäusten und Beinen weiß er sich bei weitem nicht so gut zu behelfen als unsere Acteurs. Worüber ich aber ganz ernsthaft und fast traurig in der Seele ward, ist, daß ich mir durch ihn vorstellen muß, das W[olff]sche Theater ist nicht besser als unsers, aber vielmehr, wenn es auch in manchen Stücken besser ist, so hat es doch unsere Fehler; diese Fehler aber sind mir die allergräßlichsten, und erst seit den guten Stücken mit den demonstrierenden Versen bei den mittelmäßig steifen Gemütern der gewöhnlichsten Sujets beim Theater Mode geworden. Dieser große und alle Wahrhaftigkeit und Schönheit des Spiels aufhebende Fehler besteht darin, daß die Mimen den Zustand der Personage, die sie darstellen, nicht aufgefaßt haben, sich nicht angeeignet haben, sich ihn nicht anzueignen vermögen. Sie wissen nicht, sie fühlen's nicht, wie die Großen unter ihnen, daß Worte Phrasen, nur Behelfe sind, um Gemütszustände von sich zu geben, nichts als ein Bild dieser Zustände; und Bilder selbst, nur charakteristischere, Zeichen des Bestrebens nach Ausdruck. Pomphaft und überverständig trennen sie dem Dichter jetzt ein Wort vom andern, führen dies, so zu sagen, einzeln seinem gröbsten Verständnisse nach auf und wollen dem Autor nachhelfen. Dann und wann denken sie sich aus, wie man etwas machen müsse. Und das ganze Studium dieser Kunst besteht nur darin, aufs pünktlichste zu wissen, was man nicht machen darf. Durchdrungen muß der Schauspieler vom ganzen Stück sein, jede Rolle, jede Zusammenstellung wissen und kennen, muß vom Himmel die Gabe haben, Zustände zu fassen und auszudrücken, das Letztere ist eine rohere, äußerere und allgemeinere; wenn er dann nicht tut, was er nicht darf – und diese prohibierenden Gesetze aus allen Gegenden des rechenschaftgebenden Geistes zusammen hat – und sich freies Spiel läßt, so werden wir Gutes haben. Unsere jetzigen Acteurs aber wissen von keinem Stück, keinem Dichter, keiner Stimmung, keinem menschlichen Zustand und ennuieren mich bis zur Nervenkrispation. Auch Herr W[olff] nahm jedes Wort wie unser Stich einzeln und bekam nie die Rolle zusammen. Seine Stimme ist nicht schlecht noch unangenehm (das R spricht er scharf, also tragisch), aber sie ist sich nicht gleich und drückt nie jemanden aus, der aus einem Punkt der Seele heraus lebt, sondern nur einen Menschen, der bald von einer, bald von einer andern großen Idee oder von solchen Menschen erfaßt sein kann, folglich kann er nichts Bewundernswertes, nichts Verehrungswertes – solchen Menschen nämlich – darstellen; gewiß mancherlei romantisch Anziehendes, Bemitleidenswertes, wenn er nach Charakteren und nicht nach Worten spielen wird. Ich habe eine Ahnung, daß er Lieder und dgl. in tollen Reimen und Versen gut sagen kann, wie das Pagenlied, welche von Schiller und sehr vieles von Shakespeare. Wo er vague bleiben kann und anklingen an ganz fantastischen allgemeinen Zuständen der außermenschlichen Dinge und auch solcher fantastischen Gemütszustände, kann er wohl sehr gut sein, das glaub' ich; durch seine Augen, die man im dritten Range sieht, durch ein adliges Gemütswesen, welches ihn sogar während des schlechten Spiels bemeistert, und weil er so, wie es nur reimte, ungewöhnlicher, fantastischer, in weiteren Kreisen, und allgemeiner wurde, gleich gut wurde und ein Schönes in den Sinn brachte. So viel, weil er von Weimar kommt, wo der künstlerischste Deutsche lebt, von dem ich hoffte, daß er ganz Kunstwidriges in seiner Nähe nicht aufkommen läßt, ja tötet, mit Macht und Wache, bei seinem Einflüsse. Es muß doch nicht gehen, und das ist es, was mich so ernst über unsere deutsche Kunst machte und diesen langen Brief veranlaßt. Sind Sie darüber mit mir einverstanden? Und vergeben ihn mir? Ich meine, sehn Sie ein, wie er entstanden ist? Ihnen mußt' ich ihn doch schicken. Sie werden noch mehr, noch viele Klagen mit mir haben. Mademoiselle Beck spielte die Elisabeth göttlich. Sie unterschrieb stumm, allein, wie Elisabeth selbst. Die Bethmann hatte sehr schöne Momente, spielte aber zu Anfang heftiger als sonst. Ich ging gestern, wie Sie weg waren, gleich aus, nun wieder.

Frau Frohberg, Rentiere, die in der Markgrafenstraße wohnte, war eine Freundin der Rahel. – Pius Alexander Wolff, Goethes Lieblingsschüler, war später in Berlin engagiert. Seine Frau Amalie, geb. Malcomi, besonders in tragischen Rollen Schillerscher und Goethescher Dramen sehr geschätzt. – Der Schauspieler Stich war der spätere Mann der nachmaligen Frau Crelinger. – Henriette Hendel-Schütz, Friederike Bethmann und Mademoiselle Beck, als Tragödinnen, letztere beide auch als Sängerinnen sehr gerühmt. – Frau G. ist nicht mit Sicherheit zu identifizieren. – Der alte Generalfeldmarschall Graf zu Möllendorf, unter Friedrich d.Gr. bekannter Heerführer, lebte noch damals unvermählt in Berlin.


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