Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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19.

Marwitz an Rahel.

[Friedersdorf,] Sonnabend Abend sechs Uhr, d. 1t. Juni 1811.

Sie haben ganz Recht, liebe Rahel, Talent hat Müller nicht; daß dies Wort nicht das rechte war, fühlte ich, indem ich es hinschrieb. Er hat, wie Sie sagen, Eingebung zum Vergleichen, aber, muß ich hinzusetzen, während er das Ähnliche der Dinge und Verhältnisse auffindet, sieht er das Unähnliche nicht, denn er ist ganz ohne Scharfsinn, darum wirft er einfache und ganz komplizierte Erscheinungen in dieselbe Kategorie und verwirrt das Gemüt aller Leser auf eine unglaubliche Weise, die nicht die Kraft haben, zu dem einen Element, das er heraushebt, hinzu zu denken. Mir wird er nachgrade ganz widerwärtig nicht bloß wegen seines Unzusammenhangs, seiner Faulheit, seiner rapsodischen Willtür, sondern auch wegen seiner enormen Dürftigkeit, seiner unausstehlichen Breite, mit der er ein paar Grundgedanken ewig wiederkäut, seiner Unbekanntschaft mit der Geschichte, die es ihm neben seiner Schiefheit unmöglich macht, sein Buch mit echtem und reichem Leben zu erfüllen. Ein Philosoph ist er nicht, ein Historiker auch nicht, was bleibt ihm nun übrig, da sein Werk doch allein in diesen beiden Gebieten wurzelt?

Heute Morgen sah ich etwas ganz Einziges. Es war drei Uhr vorbei, da wachte ich auf; vor meinem Fenster stand ein Gewitter, große Blitze und starke Donnerschläge folgten unaufhörlich auf einander in ziemlicher Nähe, aber die Luft war ganz still, kein Regen fiel, die Vögel sangen, wie immer beim Sonnenaufgang, und gegen Osten war der Himmel hochrot erleuchtet. Ich trat ans Fenster, um zu sehen, woher das komme, da sah ich den ganzen Himmel dicht bezogen, nur am tiefsten Horizont war ein kleines Streifchen unbewölkt; da ging eben die Sonne auf feuerrot und bestrahlte die ganze eine Hälfte der Himmelskugel; wohl eine Viertelstunde stand so das Gewitter still mit unaufhörlichem Blitz und Donner. Dann folgte Sturm und starker Regen. Ich habe so etwas nie erlebt.

Eben komme ich von einsamen Spaziergängen zurück, die mich immer sehr erquicken. Die Landschaft ist hier unendlich mild, fruchtbar und lachend und doch dabei großartig, denn man übersieht eine meilenweite Ebene und darauf die größte Mannigfaltigkeit von Äckern, Wiesen, Dörfern und Städten. Am Abhang der Berge, von denen man dieser Aussicht genießt, schlängelt ein Bach, von dichtem Elfengebüsch und Obstgärten umgeben. Da ist angenehm zu wandeln, und schön ist es oben, über diesen reichen Vorgrund hinwegzusehn. Wie schön Moritz die Italienischen Landschaften beschreibt. Lesen Sie ihn wo möglich in Töplitz. Sein Stil ist ganz ungekünstelt, aber ungemein edel, passend und lieblich, er ist ein reiner Abdruck seines milden, offnen, liebenswürdigen Gemüts.

Sonntag [2. Juni], Mittag 12 Uhr.

Ich hätte Ihnen gestern noch vieles geschrieben, liebe Rahel, aber ich wurde abgerufen; nach dem Tee ging ich mit meinem Bruder aus. Die Sonne ging göttlich unter zwischen blauen Wolken, die langsam wandelten und bis gegen die Mitte des Himmels von roten Lichtern in den wunderbarsten Schattierungen beleuchtet waren. Später nahm ich eine Arbeit für meinen Bruder vor, die mich bis gegen elf beschäftigte. Ich schlief sehr schlecht darauf, wachte ermüdet auf mit sehr unangenehmer Hitze im Kopf. Das Bad erquickte mich, der Kopfschmerz verging, aber die Mattigkeit blieb, überhaupt machen mich die Bäder zwar offner, empfänglicher, aber nicht stärker. Adieu, liebe R. Ich schließe wegen der Post, und weil mich das Schreiben angreift.

A. M.

PS. Ich muß Ihnen sagen, worin es mir besser geht, 1. spüre ich fast keinen Unterschied zwischen Vormittag und Nachmittag, was das körperliche Befinden angeht. Die schwere Digestion und die Stumpfheit am Nachmittag sind ganz fort. 2. bin ich, heute ausgenommen, im Kopf ziemlich heiter, mein Auge ist vollkommen klar und gesund. Der Arzt behauptet, daß, wenn die Bäder das geringste helfen sollen, ich wenigstens 30 nehmen muß (erst Seife und Kleie – jetzt Kräuter, später Stahlbäder). Das dauert bis zum 23. Juni. Kann ich alsdann nicht nach Potsdam gehn, so komme ich nach Töplitz. Nehmen Sie meinen vorigen Brief nicht wörtlich. Er war in der unglückseligsten Stunde geschrieben. In ähnlichen war ich früher auf den (in meiner Lage) verzweifelten Einfall gekommen, mit dem Entschluß.


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